VI. Vollversammlung des ÖRK
12. September 1983
Information Nr. 296/83 über einige beachtenswerte Aspekte im Zusammenhang mit der VI. Vollversammlung des »Ökumenischen Rates der Kirchen« (ÖRK) vom 24. Juli bis 10. August 1983 in Vancouver/Kanada
Die VI. Vollversammlung des »Ökumenischen Rates der Kirchen« (ÖRK) wurde vom 24. Juli bis zum 10. August 1983 in der British-Columbia-University in Vancouver/Kanada unter dem Motto »Jesus Christus – das Leben der Welt« durchgeführt.1
Unter den 930 Delegierten aus 304 evangelischen, orthodoxen und anglikanischen Mitgliedskirchen aus aller Welt waren die Kirchen der DDR mit einer 25 Personen starken Delegation vertreten. Von der unter Leitung von Landesbischof Dr. Hempel2 (Dresden) stehenden Delegation waren 17 Delegierte stimmberechtigt.
(Mit offiziellen Beobachtern des Vatikans und anderen Religionen, Vertretern weiterer regionaler und nationaler Kirchen, geladenen Gästen, Korrespondenten und Touristen nahmen an den verschiedensten Veranstaltungen der VI. Vollversammlung des ÖRK in Vancouver täglich bis zu 5 000 Personen teil.)
Beratungsgegenstand der VI. Vollversammlung bildeten acht von der V. Vollversammlung im Jahre 19753 vorgegebene Problemkreise:
I. Zeugnis in einer gespaltenen Welt
II. Schritte auf dem Weg zur Einheit
III. In Richtung auf mehr Partizipation
IV. Das Leben in Gemeinschaft teilen und heil machen
V. Den Bedrohungen des Friedens und des Überlebens begegnen
VI. Für Gerechtigkeit und Menschenwürde kämpfen
VII. Lernen in der Gemeinschaft
VIII. Überzeugende Kommunikation.
Dazu wurden u. a. vorbereitend durch sogenannte Auftragsprojekte, Untersuchungen und Analysen erarbeitete Arbeitspapiere in Plenartagungen, Themengruppen, Ausschüssen und in über 60 Arbeitskreisen beraten.
Im Ergebnis dieser Beratungen wurde eine Reihe von Erklärungen und Resolutionen zu aktuellen internationalen und regionalen politischen, religiös-theologischen und sozialen Problemen angenommen bzw. beschlossen und veröffentlicht.4
Als bedeutsamstes Dokument der VI. Vollversammlung des ÖRK ist die »Erklärung zu Frieden und Gerechtigkeit«5 einzuschätzen, in der eindeutig gegen die Stationierung weiterer Atomwaffen in Europa sowie für deren Reduzierung und Abschaffung Stellung genommen wird. So wird u. a. festgestellt, dass
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die Bedrohung durch Atomwaffen nicht nur eine Gefahr für die Zukunft, sondern eine gegenwärtige Realität sei,
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die Völker der Erde Frieden und Gerechtigkeit brauchen und
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die Kirchen auf die Regierungen ihrer Heimatländer Einfluss ausüben sollten zur Unterstützung der Abrüstung und des Eintretens für die Verhinderung der Stationierung neuer Waffensysteme.
In den Vorstellungen zur nuklearen Abrüstung sind Maßnahmen fixiert, wie sie wiederholt von der UdSSR und den anderen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft international unterbreitet wurden, wie z. B.
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erfolgreiche Beendigung der Genfer Verhandlungen,6
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Schaffung atomwaffenfreier Zonen,
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Entmilitarisierung des Weltraumes,
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Verzicht auf Ersteinsatz von Atomwaffen.
Mit der Annahme der »Erklärung zu Frieden und Gerechtigkeit« setzten sich die humanistischen, realistischen und friedensengagierten Kräfte trotz umfangreicher Störversuche durch. Beachtenswert ist die Haltung einiger Vertreter von Kirchen aus afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Nationalstaaten einzuschätzen, die sich gegen eine Überbetonung des Kampfes um den Frieden aussprachen, da in ihren Ländern die Überwindung der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung und die Beseitigung von Hunger und Elend »primäre Bedeutung« habe.
Nach erheblichen Meinungsverschiedenheiten in der Diskussion stimmte die VI. Vollversammlung des ÖRK mit großer Mehrheit einer »Erklärung zu Afghanistan«7 zu. Darin werden »die Initiativen, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen zur Beilegung der Situation ergriffen hat«, begrüßt und unterstützt.
Ferner wird gefordert: »… Einstellung der ausländischen Waffenlieferungen an oppositionelle Gruppen, Schaffung eines günstigen Klimas für die Rückkehr der Flüchtlinge, Garantie für die Einhaltung der Verpflichtungen durch die UdSSR, die USA, die VR China und Pakistan, Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan im Rahmen einer umfassenden politischen Regelung des Konfliktes – einschließlich einer Vereinbarung zwischen der UdSSR und Afghanistan …«
Nach intern vorliegenden Hinweisen beabsichtigten reaktionäre Kräfte, als deren Initiatoren/Inspiratoren die Bischöfe Malik8 (Pakistan) und Lislerud9 (Norwegen) bekannt wurden, in dieser Erklärung die UdSSR als »Menschenrechtsverletzer« zu verleumden und konterrevolutionäre Kräfte in Afghanistan als »Befreiungskämpfer« zu deklarieren. Gleichzeitig versuchten sie, eine Diskussion über eine angebliche Christenverfolgung in den sozialistischen Ländern zu entfachen.
Die VI. Vollversammlung des ÖRK nahm ferner politisch bedeutsame Erklärungen »zu den Menschenrechten«, »zu Mittelamerika«, »zu Zypern«, »zum südlichen Afrika«, »zur Welternährungsunordnung« und »zum Nahen Osten« sowie eine »Resolution zum Pazifik« an.
In diesen Dokumenten werden z. B.
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die USA aufgefordert, alle Versuche der Einmischung in Nicaragua zu unterlassen,10
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die Regierungen der Welt aufgerufen, gegen das Apartheid-Regime in Südafrika11 umfassende Sanktionen zu verfügen,
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Israel aufgefordert, sich aus allen besetzten Territorien zurückzuziehen und das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Souveränität anzuerkennen.12
In weiteren offiziellen Materialien der VI. Vollversammlung des ÖRK wird u. a. hervorgehoben, dass die Notwendigkeit des Widerstandes gegen den Militarismus und das imperialistische Wettrüsten von den Kirchen anerkannt werde, es jedoch darum gehe, diese Notwendigkeit »theologisch und moralisch zu fundieren« und positive Einflussmöglichkeiten der Christen zur Förderung des Weltfriedens und der Völkerverständigung aufzuzeigen.
Während der VI. Vollversammlung wurden gemäß den Satzungen des ÖRK sieben internationale Präsidenten und 145 Mitglieder des Zentralausschusses des ÖRK gewählt.
Als einer dieser Präsidenten mit einer Amtszeit bis zur VII. Vollversammlung (1989/90) wurde mit Landesbischof Dr. Johannes Hempel (Dresden) erstmalig ein DDR-Bürger in diese Funktion gewählt.
(Nach vertraulich vorliegenden Informationen äußerte Bischof Hempel, über die an ihn herangetragene Kandidatur überrascht gewesen zu sein. Er habe sich vor seiner Zusage erst mit anderen Teilnehmern der DDR-Delegation sowie mit seiner Ehefrau konsultieren müssen. Er sehe in der Wahl seiner Person eine Reverenz des ÖRK an die Kirchen in der DDR sowie bezogen auf die aktive Beteiligung der DDR-Kirchen an den vielfältigsten Aktivitäten des ÖRK, einschließlich der durchgeführten Zentralausschusssitzung, im Jahre 1981 in Dresden.13 Seine Aufgabe als Präsident sehe er darin, dem Anliegen des ÖRK zu entsprechen, dieses weiter bekanntzumachen und innerhalb der Kirchen der DDR umzusetzen.)
Im Zusammenhang mit der Wahl von Bischof Hempel liegen dem MfS vertrauliche Hinweise vor, dass dessen Nominierung – bei Beachtung, dass ein »Lutheraner« zu wählen war – wesentlich von den Verhandlungen zwischen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) und der Delegation der BRD (Oberkirchenrat Arnold,14 Stuttgart) bestimmt wurde.
Mit der Pastorin Doll15 (Teterow) und dem wissenschaftlichen Assistenten an der Humboldt-Universität (Berlin), Dr. Graewe,16 ist die DDR erneut im neugewählten Leitungsorgan des ÖRK, dem Zentralausschuss vertreten, zu dessen Vorsitzenden der Präsident des Außenamtes der EKD in der BRD, Dr. Held,17 gewählt wurde.
Während des gesamten Verlaufs der VI. Vollversammlung des ÖRK versuchten proimperialistisch orientierte Delegierte wirksam zu werden, störenden oder negativen Einfluss auszuüben und die eindeutig antiimperialistischen Aussagen in den Diskussionsforen sowie verabschiedeten Erklärungen abzuschwächen und zu verfälschen.
In diesem Sinne trat auch der bis zur Neuwahl als Vorsitzender des Zentralausschusses des ÖRK fungierende Scott18 (Kanada) auf. In seinem Bericht an die Vollversammlung versuchte er u. a. zu begründen, dass Kapitalismus und Sozialismus in der Welt »gleichermaßen abgewirtschaftet« seien, keine Antworten auf die Fragen der Zeit hätten und deshalb ein sogenannter neuer Weg gesucht werden müsse. Er bezeichnete die »Supermächte USA und UdSSR« zu gleichen Teilen als »schuldig für die gegenwärtig bestehende politische Spannung und Situation« in der Welt.
Durch das realistische, besonnene und prinzipielle Auftreten verschiedener Leitungskader des ÖRK, aber auch Delegierter der VI. Vollversammlung, darunter des Generalsekretärs des ÖRK, Potter19 (Großbritannien), konnten derartige negative Einflussversuche zurückgewiesen werden.
Während des gesamten Veranstaltungszeitraumes der VI. Vollversammlung des ÖRK in der Stadt Vancouver kam es durch radikale, evangelikale (theologisch konservative) und antikommunistische Einrichtungen und Kräfte zu Störaktionen.
So wurden im Veranstaltungszeitraum verschiedene Gruppierungen unter dem Vorwand einer sogenannten Gegenökumene wirksam.
Diese Kräfte betrieben in Gegenveranstaltungen und Pressekonferenzen antikommunistische und antisowjetische Hetze und unterstellten dabei dem ÖRK, den Kommunismus zu fördern und ein Multiplikator der Außenpolitik der UdSSR zu sein.
Zum Auftreten der Mitglieder der DDR-Delegation:
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen wurde durch die planmäßige und systematische Vorbereitung zur Teilnahme an der VI. Vollversammlung des ÖRK ein relativ geschlossenes und abgestimmtes Auftreten aller Delegationsmitglieder erreicht. Sie traten als bewusste Staatsbürger der DDR auf und arbeiteten in diesem Sinne engagiert in den verschiedensten kirchlichen Beratungsgremien mit. Das von Bischof Hempel bei der Abreise nach Vancouver/Kanada erklärte Ziel, die Teilnehmer aus der DDR haben »… an der Schaffung einer neuen großen Gemeinschaft mitzuarbeiten, die Aggression und Kriege ablehnt …«, stand im Mittelpunkt aller Aktivitäten der DDR-Delegation.
Bischof Hempel arbeitete intensiv und konstruktiv in den verschiedensten Beratungsgremien und an unterschiedlichen Veranstaltungen mit. Er hat Anteil an der antiimperialistischen Aussage verabschiedeter Dokumente. Von Hempel (und weiteren DDR-Delegierten) überzeugend dargelegte Ausführungen zum Verhältnis Staat – Kirche in der DDR sind geeignet, positive Auswirkungen auf die weitere internationale ökumenische Mitarbeit der DDR-Kirchen zu erzielen.
Durch insgesamt klare politische Stellungnahmen, durch sachliches Auftreten und theologisch fundierte Beiträge hat er sich Ansehen erworben und damit Grundlagen für seine neue ÖRK-Funktion als einer der sieben Präsidenten geschaffen.
Kirchenpräsident Natho20 (Dessau) leistete eine intensive Tätigkeit in der Arbeitsgruppe »Frieden und Gerechtigkeit«. Er hat Anteil an der progressiven Aussage der von dieser Gruppe erstellten Beschlussentwürfe.
In einem Rundfunkinterview mit der Kanadischen Rundfunkstation CBC (Sendereihe »Testamente«) äußerten sich sowohl Kirchenpräsident Natho (Dessau) als auch Oberkirchenrat Schäfer21 (Weimar) positiv über die Arbeitsbedingungen der Kirchen in der DDR und trugen mit dazu bei, ein realistisches DDR-Bild in Kanada zu verbreiten.
In der Fachgruppe V (»Den Bedrohungen des Friedens und des Überlebens begegnen«) hatte Superintendent Jaeger22 (Nordhausen) trotz seiner teilweise neutralistischen Haltung Anteil an der Positionsformulierung der Vollversammlung zur Ablehnung der Massenvernichtungswaffen und der Verurteilung der »Politik der Abschreckung«.
Die Kreiskirchenrätin Schütz23 (Weimar) und die Sekretärin des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Herrbruck24 (Berlin), trugen durch ihr engagiertes Auftreten auf der vorbereitenden Frauenversammlung in Edmonton/Kanada mit dazu bei, die teilweise vorhandenen Ansichten über eine angebliche kommunistische Gewaltherrschaft in der DDR und eine Unterdrückung der Kirchen in der DDR zu korrigieren.
Engagiert und progressiv äußerten sich zu verschiedenen Anlässen auch die DDR-Vertreter Winkelmann25 (Neustrelitz) und Affeld26 (Greifswald).
Demgegenüber muss das Verhalten und Auftreten von Propst Dr. Heino Falcke27 (Erfurt) als »Berater« der DDR-Delegation sowohl in der Vorbereitungsphase als auch während der Durchführung der VI. Vollversammlung des ÖRK differenziert eingeschätzt werden.
Ein von Falcke vorbereitetes sogenanntes Friedenspapier – der ÖRK hatte insgesamt 60 Mitgliedskirchen mit der Erarbeitung solcher »Friedenspapiere« in Vorbereitung der Diskussion und der Erarbeitung von Erklärungen/Dokumenten der VI. Vollversammlung beauftragt – ließ neben begründeten Abrüstungsforderungen erhebliche neutralistische Positionen erkennen und fand dadurch nicht die Zustimmung aller Mitglieder der DDR-Delegation.
(Die Haltung Falckes unterstützten teilweise Superintendent Jaeger (Nordhausen), Dr. Graewe (Zernsdorf), Diplom-Ingenieur Magerstädt28 (Dresden) und Frau Dehne29 (Magdeburg).)
Streng vertraulichen Informationen zufolge soll Falcke trotz der in der DDR-Delegation vereinbarten Diskretion dieses Material bereits vor der Abreise nach Vancouver Korrespondenten aus der BRD übergeben haben. Darüber hinaus nahm Falcke an zwei längerfristig vorbereiteten Podiumsgesprächen in einem »Friedenscafé« (als Veranstalter fungierte eine pazifistisch orientierte Gruppe mit der englischen Bezeichnung »Pflugschar«) in Vancouver teil und berichtete dort ebenfalls vorzeitig über den Inhalt des »Friedenspapiers«.
Falcke konsultierte sich im Verlaufe seines Aufenthaltes in Vancouver mehrfach mit dem Mitglied der BRD-Delegation, Prof. Dr. Ulrich Duchrow30 [aus] Heidelberg. (Duchrow gilt als sogenannter Friedensexperte der BRD-Kirchen.)
Das Verhalten von Falcke führte insgesamt dazu, dass vor allem die Massenmedien der BRD die »Friedensaktivitäten« Falckes hochspielten und das sogenannte Falcke-Papier fälschlicherweise als offizielles »Papier« der DDR-Delegation demonstrativ herauszustellen versuchten.
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen soll beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR am 12.9.1983 auf einer Zusammenkunft der Teilnehmer an der VI. Vollversammlung des ÖRK eine erste Auswertung der Tätigkeit der Delegation erfolgen und Bischof Hempel auf der Synode des Bundes vom 16. bis 20.9.1983 in Potsdam-Hermannswerder über die VI. Vollversammlung des ÖRK berichten.
(Die von der VI. Vollversammlung des ÖRK verabschiedeten Dokumente liegen dem MfS vor und können bei Bedarf abgefordert werden.)
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.