Vorkommnis VEB Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«
28. September 1983
Information Nr. 323/83 über die Aufklärung der Ursachen eines im VEB Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner«, Stammbetrieb Greifswald, [Bezirk] Rostock, am 19. August 1983 eingetretenen besonderen Vorkommnisses
Die vom MfS gemeinsam mit einer Expertenkommission geführten Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen des Auffindens/Bergens eines Drahtgewirrs aus dem Reaktor 1 im VEB Kombinat Kernkraftwerk Greifswald, [Bezirk] Rostock, am 19.8.1983 ergaben folgende beachtenswerte Umstände, über die nachfolgend informiert wird.
Wie festgestellt wurde, bestand am Tage des Ereignisses für den Betrieb keine unmittelbare Gefährdung für die technische und nukleare Sicherheit. Bei Nichtwahrnehmung hätten im Falle des Verbleibens des Drahtgewirrs im Reaktor infolge langfristigen Materialabriebes Gefährdungen für die Brennstoffkassetten und das Reaktorgefäß eintreten können.
Wie die Untersuchungen weiter ergaben, resultiert das Einbringen des Drahtgewirrs aus der Durchführung eines mehrjährigen Versuches zu Dekontaminationslösungen für Reaktorkonstruktionswerkstoffe (Reinigung der Materialien von radioaktiven Verschmutzungen) im Rahmen eines Forschungsthemas. Dabei wurde der Draht am 18. September 1980 zur Befestigung von Werkstoffproben in das Abklingbecken des Reaktors 1 eingebracht. Die letztmalige Kontrolle der Versuchsanordnung erfolgte im März 1981 ohne Beanstandung. Danach gerieten die Werkstoffproben offensichtlich im Zusammenhang mit dem Abbruch des Forschungsthemas (Dezember 1982) in Vergessenheit.
Bei der Versuchsdurchführung war ein Draht von ca. 10 m Länge verwendet worden, dessen Befestigung am Geländer des Reaktors erfolgte. Durch die Expertenkommission wird die Version vertreten, dass es während der Öffnung des Deckels des Abklingbeckens zum Abriss des Drahtes kam und dadurch ein Reststück mit den Werkstoffproben in diesem Behältnis verblieb. Aus dem Becken wurde von diesem Reststück ein ca. 6,40 m langer Draht während des Transportes von Brennstoffelementenkassetten in den Reaktor 1 am 19. August 1983 transportiert und nach Identifizierung sofort geborgen.
Für diese Version spricht die Tatsache, dass am 30. August 1983 noch ein weiteres Drahtstück mit der befestigten Werkstoffprobe im Abklingbecken festgestellt und zwischenzeitlich entfernt wurde.
Der mehrjährige Versuch stand unter unmittelbarer Leitung eines Meisters aus dem Kernkraftwerk Rheinsberg, Abteilung Forschung, der es versäumte, die Versuchsanordnung nach Abbruch des Forschungsthemas aus dem Becken zu entfernen.
Dieser Umstand wurde dadurch begünstigt, dass der verantwortliche Anlageningenieur der Abteilung Reaktortechnik des KKW Greifswald die Werkstoffprüfversuche ohne schriftliche Vorlage eines Versuchsprogramms gestattete und keine Kontrolle zur Gewährleistung der Fremdkörperfreiheit ausübte.
Auch der Bereichsleiter für Reaktortechnik des KKW Greifswald nahm als übergeordneter Leiter entsprechend der »Betriebsvorschrift über die Belehrung für das Reparaturpersonal …« seine Kontrollpflicht, insbesondere zur Gewährleistung der Fremdkörperfreiheit, nicht wahr.
Nach Prüfung aller Umstände und Bedingungen sind die festgestellten Verstöße gegen die Betriebsvorschriften auf fahrlässige Pflichtverletzungen zurückzuführen.
Die Entstehung des Vorkommnisses wurde vor allem dadurch begünstigt, dass die bestehenden Festlegungen in der Betriebsvorschrift zur Gewährleistung der Fremdkörperfreiheit in geöffneten Systemen des 1. Kreislaufes nicht durchgesetzt wurden und insgesamt nicht ausreichend sind, in der Betriebsdokumentation für das Abklingbecken eine durchgängige Kontrolle und Überwachung nichtprojektmäßiger Operationen (z. B. Öffnen und Schließen) nicht vorgesehen waren und keine ausreichende Wahrnehmung der Kontrollpflichten durch die übergeordneten Leitungsebenen (Abteilungs- und Bereichsleiter) erfolgte.
Durch das MfS wurde eine abschließende Auswertung beim Generaldirektor des VEB Kombinat Kernkraftwerke »Bruno Leuschner« mit dem Ziel durchgeführt, die Wiederholbarkeit solcher Vorkommnisse auszuschließen.
Entsprechend den Vorschlägen der Expertenkommission sind folgende betriebliche Maßnahmen vorgesehen, Auswertung des Vorkommnisses mit dem für die Gewährleistung der Fremdkörperfreiheit verantwortlichen Betriebspersonal, Einleitung von Disziplinarverfahren gegen die genannten Verursacher bzw. verantwortlichen Leiter und Überarbeitung der Vorschriften zu den Betriebsregimen an geöffneten Systemen des 1. Kreislaufes und Festlegung von konkreten Maßnahmen zur Gewährleistung einer ständigen Fremdkörperfreiheit (Personen-, Material- und Werkzeugkontrolle beim Betreten und Verlassen neuralgischer Bereiche im 1. Kreislauf).