X. Landessynode Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburg
21. November 1983
Information Nr. 395/83 über die 4. Tagung der X. Ordentlichen Landesynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs vom 10. bis 13. November 1983 in Schwerin
Die Herbstsynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs wurde in Schwerin in Anwesenheit der 54 gewählten und berufenen Synodalen durchgeführt.
Zeitweilig waren ca. 15 dem MfS durch ihre negative Haltung bekannte Vertreter sogenannter kirchlicher Friedenskreise – die nicht Mitglieder der Synode sind, aber öffentlichkeitswirksam vor der Synode in Erscheinung traten – zugegen.
Als Vertreter westlicher Massenmedien nahm zeitweilig der Korrespondent Röder1 (epd) teil.
Mitarbeiter westlicher diplomatischer Vertretungen wurden nicht festgestellt.
Als ausländischer ökumenischer Gast wurde der Vertreter der »Partnerkirche« aus der BRD, Prof. Dr. Bärsch,2 BRD, Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, begrüßt. (Sein Grußwort an die Synode enthielt keine politisch bedeutsamen Aussagen.)
Im Mittelpunkt der Synodaltagung standen folgende inhaltliche Schwerpunkte:
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Neuwahl des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs,
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Kurzbericht der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs (Ref.: Dr. Bartsch,3 Rostock),
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Bericht über die 3. Tagung der IV. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR (16.–20.9.1983 in Potsdam (Ref.: Fr. [Name 1], Rostock),
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Bericht über die 5. Tagung der III. Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (VELK) in der DDR (8.–11.6.1983 in Güstrow),
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Vortrag »Friedensverantwortung und Friedensauftrag der Kirche« (Ref.: Dr. Romberg, Walter,4 Berlin),
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Innerkirchliche und theologische Problemkreise (Berichte über die VI. Vollversammlung des ÖRK vom 27.7. bis 10.8.1983 in Vancouver/Kanada,5 Bericht des Diakonischen Werkes, Haushaltsplan, Pfarrerdienstgesetz, »Taufe, Eucharistie und Amt«6 etc.).
Der Kurzbericht der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und die Berichte über die letzten Tagungen der IV. Synode des BEK in der DDR in Potsdam sowie der III. Generalsynode der VELK in der DDR in Güstrow waren durch Sachlichkeit gekennzeichnet und enthielten keine das Verhältnis Staat – Kirche belastenden Angriffe.
Die Berichte über die Synodaltagungen des BEK und der VELK in der DDR beschränkten sich auf die Wiedergabe der dort angesprochenen Probleme und gefassten Beschlüsse, ohne dass zusätzlich eigenständige Kommentierungen erfolgten.
Der weitere Verlauf der Herbstsynode wurde beeinflusst durch Aktivitäten von Vertretern der sogenannten Friedenskreise, die u. a. offene Angriffe gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR vortrugen.
Obwohl loyal eingestellte Synodale versuchten, diese Vertreter der »Friedenskreise« zu disziplinieren, traten sie vor den Mitgliedern der Synode öffentlichkeitswirksam auf, wobei sie von Synodalen, die ebenfalls negative Grundhaltungen vertreten, unterstützt wurden.
Zur Vorbereitung und zum Verlauf der Herbstsynode Schwerin ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert:
Vor der Synodaltagung waren durch zuständige staatliche Einrichtungen Gespräche mit Landesbischof Dr. Rathke7 (Schwerin), Präses Wahrmann8 (Wismar) und Oberkirchenratspräsident Müller9 (Schwerin) geführt worden, in denen ihnen die staatliche Erwartungshaltung zur bevorstehenden Herbsttagung der Landessynode erläutert wurde und sie aufgefordert wurden, politische Provokationen und Angriffe gegen die Staatsmacht zu verhindern.
Während Präses Wahrmann (Wismar) und Oberkirchenratspräsident Müller (Schwerin) im Verlaufe der Gespräche die Zusicherung gaben, durch ihren persönlichen Einsatz auf die Synode einzuwirken und jegliche Störungen, die das Verhältnis Staat – Kirche belasten könnten, auszuschließen, gab Landesbischof Dr. Rathke (Schwerin) keine diesbezüglichen Zusicherungen. Er versuchte vielmehr aufgrund seiner hinlänglich bekannten politisch-negativen Grundeinstellung während des Gespräches mehrfach darauf hinzuweisen, dass er mit einigen aktuellen staatlichen Entscheidungen nicht einverstanden sei.
Diese Haltung Bischof Rathkes wurde auch während der Synode deutlich. Er nahm in einem seiner Diskussionsbeiträge Bezug auf eine Passage in einem der vorgetragenen Berichte (in der es hieß »… mit staatlichen Stellen wurden verschiedene Lebensfragen besprochen«) und führte aus, die Formulierung »Lebensfragen« sei ganz bewusst gewählt, da sie alle bewegen würden und erst im Dialog mit dem Staat zu erledigen seien. Das betreffe insbesondere Fragen der Volksbildung, die noch offen seien, Fragen der Friedensbewegung, Probleme der Bausoldaten10 sowie die zunehmende Zahl von Antragstellungen auf Übersiedlung,11 mit denen er konfrontiert werde. Er betonte, diese Probleme müssten auch vor der Synode offen angesprochen werden.
Von Bedeutung war weiter die sich dem Vortrag »Friedensverantwortung und Friedensauftrag der Kirchen« (Ref.: Dr. Romberg, Berlin) anschließende Diskussion. (Die Ausführungen beinhalteten eine Analyse der internationalen militärpolitischen Situation, die durch konkrete Zahlenangaben, statistische Werte und Einschätzungen untermauert wurde.)
Der Vortrag war sachlich und enthielt keine Angriffe gegen die Friedens- und Verteidigungspolitik der DDR.
In der Diskussion zum Vortrag wurden unterschiedliche Haltungen der Synodalen zur Friedensproblematik sowie zur Verteidigungspolitik der DDR deutlich.
Politisch positive Aussagen traf der Synodale Dr. Möller12 (Rostock). Er erklärte, dass der Vortrag sein Verständnis für die von der UdSSR, der ČSSR und der DDR beschlossenen Gegenmaßnahmen13 weiter gefestigt habe. Er könne und werde nicht einstimmen in die Proteste, die aus bestimmten kirchlichen Kreisen gegen diese Maßnahmen erhoben werden.
Demgegenüber traten die Synodalen Oberkirchenrat Schulz14 (Schwerin), Pastor Romberg15 (Ludwigslust), Wergin16 (Schwerin) und der Jugendsynodale Heinrich17 (Rostock) mit politisch-negativen Beiträgen in Erscheinung.
Oberkirchenrat Schulz (Schwerin) trug eine offizielle Anfrage vor, warum die Genfer Verhandlungen18 scheiterten. Nach seinen Kenntnissen würden die Kernwaffenpotenziale Englands und Frankreichs nur 1,5 % der Kernwaffen der Welt ausmachen, sodass sie nicht mit einbezogen werden brauchten. Schulz argumentierte gezielt gegen die von der UdSSR genannten Hauptgründe für ein Scheitern der Genfer Verhandlungen.
Der Synodale Pastor Romberg (Ludwigslust) erklärte, dass in Ludwigslust ein Plakat mit der Inschrift steht »Die Lehre von Karl Marx19 ist allmächtig, weil sie wahr ist«. Er persönlich habe Zweifel an dieser Aussage, wenn diese Lehre durch Raketen gestützt werden müsse.
Der Synodale Wergin (Schwerin) fragte u. a. vordergründig nach den ökonomischen Folgen der Gegenmaßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten sowie nach den diesbezüglichen Positionen der »offiziellen Kirche«.
Der Jugendsynodale Heinrich (Rostock) erkundigte sich nach den politischen Konsequenzen bei möglichen Demonstrationen gegen die Raketenstationierung auf DDR-Territorium sowie nach konkreten Fakten »zunehmender Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR«.
Hervorzuheben ist, dass während des Vortrages von Dr. Romberg (Berlin) sowie während der Diskussion zum Vortrag fünf Mitglieder sogenannter Friedenskreise aus Rostock, Kessin,20 Vipperow21 u. a., darunter die hinlänglich als politisch-negativ bekannten Lietz, Heiko22 (Güstrow) und Möhring, Heiner23 (Schwerin), die nicht Mitglieder der Synode sind, anwesend waren.
Diese Kräfte wurden gemeinsam mit zehn weiteren Personen dieser »Friedenskreise« während einer sich anschließenden Andacht im Schweriner Dom, der alle Teilnehmer der Synode beiwohnten, aktiv. Ihre Anwesenheit war mit Unterstützung des verantwortlichen Dom-Pfarrers Roettig24 (Schwerin) ermöglicht worden.
Unter Umgehung eindeutiger Weisungen von Kirchentagspräsident Müller25 (Schwerin) sowie von Präses Wahrmann (Wismar) hatten die Kräfte um Lietz und Möhring im Dom vier Schautafeln angebracht, auf denen die sogenannten Friedenskreise thematische Ausstellungen negativen Inhalts zu ihrer eigenen Arbeit zeigten. (»Friedenskreis Kessin« zur »mobilen Friedenswoche«,26 »Friedenskreis Vipperow« zu »Ärzte gegen den Atomtod«,27 Abzüge der an die Synode gerichteten Eingaben usw.)
Unmittelbar nach der Andacht verlas Lietz spontan vor allen Synodalen einen als »Appell« verfassten und mit 30 Unterschriften versehenen Brief der Propstei Rostock-Nord/West an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker.28 Dieser »Appell« enthält scharfe Angriffe gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR. (Der Wortlaut dieses »Appells« wird in der Anlage 1 beigefügt.)
Internen Hinweisen zufolge wurde das Vorgehen dieser Kräfte von den Synodalen differenziert aufgenommen, wobei eine weitere Polarisierung kirchenleitender Kräfte zu erkennen war.
Die überwiegende Mehrheit der Synodalen, darunter Oberkirchenpräsident29 Müller und Präses Wahrmann, lehnten die Haltung und das Auftreten dieser Personen ab. Bischof Rathke zeigte sich über das Vorgehen des Lietz verärgert.
Breiten Raum nahm in den geschlossenen Ausschusssitzungen die Bearbeitung der 33 an die Synode eingegangenen Eingaben zur Friedensproblematik ein. (Die Mehrzahl der Eingaben liegt dem MfS im Wortlaut vor.)
Hauptinhalte dieser Eingaben sind:
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Protest gegen die angekündigten Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten zur Stationierung von operativ-taktischen Raketenkomplexen auf den Territorien der DDR und der ČSSR;
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Protest gegen die beabsichtigte Einberufung von Frauen zum Wehrdienst;30
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Protest gegen den Reservistenwehrdienst in der NVA mit der Waffe, wenn ehemals aktiv gediente Soldaten zwischenzeitlich ein kirchliches Engagement eingegangen sind;31
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Ablehnung der sozialistischen Politik zu Umweltschutzfragen.
Der Vorschlag des Präses der Landessynode Wahrmann (Wismar), diese Eingaben aus Termingründen nicht während der Synodaltagung zu behandeln, sondern eine Beantwortung dieser Eingaben nach der Synodaltagung zu erarbeiten, fand durch das massive Auftreten politisch-negativer Synodaler keine Zustimmung.
Gegen diesen Vorschlag von Präses Wahrmann engagierte sich besonders der bereits bei vergangenen Synodaltagungen politisch-negativ in Erscheinung getretene Jugendsynodale Heinrich (Rostock).
Im Rahmen einer geschlossenen Plenardebatte fand die Erörterung der vom Synodalausschuss unterbreiteten Beschlussvorlage zu den an die Synode gerichteten Eingaben statt.
Durch die politisch-negativen Diskussionsbeiträge von Bischof Rathke, des Jugendsynodalen Heinrich (Rostock) und des Synodalen Wergin (Schwerin) kam es zu einer nochmaligen Überarbeitung dieser Beschlussvorlage.
Landesbischof Dr. Rathke brachte zum Ausdruck, er empfinde, die Mehrheit der Synode sei gegen die Einbeziehung von Frauen in die Wehrdienstpflicht. Er schlage deshalb vor, dass die Kirchenleitungen in ihren Gesprächen mit dem Staat nicht nur auf die Begrenzung des Einsatzes von Frauen auf den medizinischen Bereich hinwirken sollen. Tendenz der Gespräche müsse es sein, der Einberufung von Frauen generell entgegenzuwirken.
Der Jugendsynodale Heinrich (Rostock) forderte, dass die Kirche bei Gesprächen mit dem Staat erreichen müsse, »Frauen generell aus solchen Maßnahmen herauszuhalten«. Indirekt enthielten seine Diskussionsbeiträge die Aufforderung, durch den Einfluss der Kirche eine Änderung des Wehrdienstgesetzes anzustreben.
Der Synodale Wergin (Schwerin) unterstützte den Heinrich in seiner Argumentation vorbehaltlos.
In der durch die Synode verabschiedeten endgültigen Beschlussfassung wird u. a. erklärt:
»Die Synode sieht in den beschlossenen Gegenmaßnahmen der Regierungen der UdSSR, der ČSSR und der DDR keine Maßnahmen, die die Lage sicherer gestalten.
Die Synode regt die Aktivierung einer Politik der gemeinsamen Sicherheit und Sicherheitspartnerschaft, insbesondere zwischen beiden deutschen Staaten, an.
Resignation, Pessimismus und Angst bestimmen zunehmend Denken und Handeln junger Menschen. Die daraus resultierende Friedenssehnsucht und entsprechende Aktivitäten werden als staatsfeindliche Haltungen missverstanden.
Staatliche Forderungen von Unterschriften für politische Maßnahmen fördern kritiklos unaufrichtige Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen.
Die Synode stellt sich hinter Menschen, die erhebliche persönliche Nachteile in Kauf nehmen, wenn sie aus Glaubens- und Gewissensgründen einen Reservistendienst mit der Waffe ablehnen, weil sich ihre Einstellung geändert habe.
Die Maßnahmen der Wehrkreiskommandos zur Einbeziehung von Frauen zu Verteidigungsmaßnahmen bilden einen neuen Schritt in Richtung auf eine Militarisierung der Gesellschaft.
Die Synode hält es für erforderlich, den Sachverhalt allen Gemeinden zur Kenntnis zu geben und eine Argumentationshilfe über rechtliche Bedingungen für Frauen anzubieten.«
Dieser Beschluss ist auf Initiative und unter maßgeblicher Beteiligung von Bischof Rathke entstanden und wurde auch in der Synode durch seinen Einfluss mit einer Gegenstimme und sechs Enthaltungen durchgesetzt. Rathke setzte ebenfalls noch eine Anlage zum Synodalbeschluss durch, die er selbst formulierte:
»Die Synode bittet die Kirchenleitung, dem Nationalen Verteidigungsrat die dringende Bitte vorzutragen, dass überprüft werden möge, ob nicht anstelle der Stationierung von Nuklearraketen andere sicherheitspolitische Maßnahmen getroffen werden können.«
Im Ergebnis einer langwierigen Wahlhandlung wurde von den 54 anwesenden wahlberechtigten Synodalen Pastor Stier, Christoph32 (42) (Rostock-Lichtenhagen) mit [Anzahl] Stimmen zum neuen Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs gewählt.
Der zweite Kandidat, Dr. Wiebering, Joachim33 (49) [aus] Leipzig, erhielt lediglich [Anzahl] Stimmen. Eine Stimmabgabe war ungültig. Landesbischof Dr. Rathke (Schwerin) verbleibt noch bis Juni 1984 im Amt.
Internen Hinweisen zufolge sei die Neuwahl deshalb schwierig gewesen, da ein Teil der Synodalen die Meinung vertrat, beide Kandidaten hätten bisher kein Profil für das Amt eines Bischofs; die Entscheidung sei ihnen deshalb schwergefallen.
(In der Anlage 2 wird eine kurze Auskunft zur Person des neugewählten Bischofs Stier übergeben.)
Die Termine der nächsten Synodaltagungen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs wurden für die Zeiträume vom 15. bis 18.3.1984 und vom 1. bis 4.11.1984 festgelegt.
Es wird vorgeschlagen, den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Schwerin für Inneres zu beauftragen, ein Gespräch mit den Bischöfen Rathke und Stier zu führen, in dem unmissverständlich die auf der Synode erfolgten Angriffe gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR zurückgewiesen werden und die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht wird, seitens der Leitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs endlich disziplinierende Maßnahmen gegen Heiko Lietz und seinen Umgangskreis durchzuführen.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Information geeignet.
Anlage 1 zur Information Nr. 395/83
Appell
Mit Entsetzen haben wir, die unterzeichneten Christen und Nichtchristen, die Mitteilung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 25.10.1983 zur geplanten Aufstellung sowjetischer Raketenkomplexe operativ-taktischer Bestimmung aufgenommen.
Ausgehend von unserer christlichen und humanistischen Grundeinstellung und von der Tatsache, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen darf, sind wir der festen Überzeugung, dass mit der geplanten Aufstellung dieser Raketen die Gefahr eines Krieges für das deutsche Volk nicht verringert, sondern vergrößert wird, dass es für uns und unsere Kinder unerträglich ist, künftig mit den atomaren Vernichtungssystemen auch im eigenen Land leben zu müssen, dass mit dieser angekündigten Maßnahme der für diesen Zeitpunkt so wertvoll gehaltene schwedische Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa fallen gelassen wird. Deswegen protestieren wir ganz entschieden gegen die vom Nationalen Verteidigungsrat beschlossene Maßnahme.
Wir befinden uns damit in voller Übereinstimmung mit dem Beschluss der Bundessynode Evangelischer Kirchen der DDR vom 20.9.1983, in der die Regierung der DDR gebeten wurde, innerhalb des Warschauer Vertrages darauf hinzuwirken, dass keine atomaren Kurzstreckenraketen auf dem Gebiet der DDR stationiert werden.
Weder während der noch laufenden Genfer Verhandlungen noch zu einem späteren Zeitpunkt. Wir fordern den Verteidigungsrat der DDR auf, den gefassten Beschluss unverzüglich aufzuheben.
Wir bitten alle, die sich nicht mit der immer wahrscheinlicher werdenden Vernichtung des Lebens, hier und anderswo, abfinden wollen, sich diesem Appell anzuschließen und ihn unterzeichnet an den Vorsitzenden des Verteidigungsrates der DDR, Erich Honecker, zu schicken.
Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir die Entscheidung über Leben und Tod nur den Politikern und Militärs überlassen dürfen.
Anlage 2 zur Information Nr. 395/83
Information über den neugewählten Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs
Stier, Johann, Christoph, geb. am [Tag, Monat] 1941 in Magdeburg, PKZ [Nr.], wohnhaft 2551 Lichtenhagen, Pfarrhaus, Bezirk Rostock, soziale Herkunft: Intelligenz, Schulbildung: EOS; 1959–1964 Universität Rostock/Student, Sektion Theologie, Tätigkeit: Pastor für Weiterbildung und Akademiearbeit in der Landeskirche Mecklenburgs/Mitglied der Synode des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR; Ehefrau: Stier, geb. Daun, Gabriele, geb. am [Tag, Monat] 1941, Kinder: [Name 2, Vorname 1] – [Tag, Monat] 1965, [Name 2, Vorname 2] – [Tag, Monat] 1968, [Name 2, Vorname 3] – [Tag, Monat] 1974.
Johann Christoph Stier wurde als 4. Kind des Architekten Wolfgang Stier und seiner Ehefrau Ruth in Magdeburg geboren.
In Halle besuchte er die Grundschule und den altsprachlichen Zweig der August-Hermann-Francke-Oberschule.
Dort legte er 1959 das Abitur ab und nahm anschließend das Theologiestudium in Rostock auf.
1964 legte er das erste theologische Examen ab und wurde Assistent am Neutestamentlichen Institut der Theologischen Fakultät Rostock bei Prof. Dr. Konrad Weiß.34
Stier ist seit 1964 verheiratet mit der Krankengymnastin Gabriele Stier, geb. Daun. Sie arbeitet als Physiotherapeutin in der Orthopädischen Universitätsklinik Rostock.
1968 wurde Stier in den Vorbereitungsdienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs aufgenommen.
Er war Vikar in Rostock und legte 1969 die zweite theologische Prüfung ab. Danach wurde er ordiniert und ihm wurde die Pfarrstelle Rostock Lütten Klein übertragen.
Stier engagierte sich dort stark für den Gemeindeaufbau in Rostock Lütten Klein und für die ökumenische Zusammenarbeit mit der katholischen Gemeinde beim Aufbau des Gemeindezentrums in Lichtenhagen.
1976 wurde Stier in die neueingerichtete allgemeinkirchliche Aufgabe des Pastors für Weiterbildung und Akademiearbeit berufen.
Seit 1975 ist er als Vertreter der Landeskirche Mitglied im Studienausschuss der theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und ist seit 1979 dessen Vorsitzender.
Nach vorliegenden Erkenntnissen trat Stier bis 1981 politisch nicht in Erscheinung. Er war als loyal eingestellter Pfarrer bekannt. Erst mit der Ablehnung seines Sohnes, Stier, Albrecht zur Abiturstufe im August 1981 und dessen folgender Relegierung von der 2. EOS in Rostock im Juli 1982 gab Stier seinen politischen Standpunkt zu erkennen. (Stier, Albrecht war mehrfach an sogenannten pazifistischen Aktionen an der EOS beteiligt gewesen.)
Als Antwort auf geführte Aussprachen und Maßnahmen der Schule gegen den Sohn Albrecht, u. a. im Zusammenhang mit dem Tragen des Aufnähers »Schwerter zu Pflugscharen«, erschien Pastor Stier, mit der Kutte seines Sohnes bekleidet, an der Schule und machte u. a. damit deutlich, dass er die Position seines Sohnes unterstützt.
Sein Sohn Albrecht bezog in den Aussprachen zu Fragen der Wehrerziehung und -bereitschaft, zur Freundschaft zur Sowjetunion und der Solidarität auch weiterhin eine negative Haltung.
Aufgrund der Nichtzulassung seines Sohnes zur Abiturstufe richtete Stier Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden und an das Staatssekretariat für Kirchenfragen.
Intern wurde dem MfS bekannt, dass sich Stier, Christoph ab August bis ca. Ende 1981 mit jenen Vertretern seiner Landeskirche solidarisierte, welche die Bildung einer Bewegung »Sozialer Friedensdienst« (»SoFd«) forderten und für die Träger des Symbols »Schwerter zu Pflugscharen« eintraten. In diesem Zusammenhang ist auch sein öffentliches Auftreten im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit seinem Sohn zu sehen.
Auf der konstituierenden ersten Tagung der IV. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Januar 1982 in Herrnhut wurde Stier als synodales Mitglied des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR gewählt. Noch während dieser Tagung trat er gemeinsam mit solchen hinlänglich bekannten reaktionären kirchlichen Kräften wie Superintendent Große (Saalfeld), Pfarrer Adolph (Struppen, Bezirk Dresden) und Pfarrer Pilz (Mittelherwegsdorf) öffentlich in der Diskussion in Erscheinung, indem er sich dafür aussprach, dass die Synode des Bundes und die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen sich in Wahrnehmung der kirchlichen »Friedensverantwortung« hinter die u. a. durch das Tragen des Symbols »Schwerter zu Pflugscharen« »bedrängten« Jugendlichen stellen und die durch die staatliche Haltung zum »SoFd« entstandene »Resignation« unter ihnen überwinden helfen sollte.
Während der zweiten Tagung der IV. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im September 1982 in Halle trat Stier zweimal auf.
In einer zu Beginn der Synodaltagung von ihm gehaltenen Andacht erklärte er, dass in Kirche und Gesellschaft die »Ausweglosigkeit und Resignation« zunehme; ein Verschweigen der wahren Probleme sowie die Behinderung der Kreativität durch gesellschaftliche Vorgaben seien die Gründe mangelnder Bereitschaft zur gesellschaftlichen Mitarbeit. Stier betonte, lediglich bei einigen Schriftstellern seien Formulierungen »dieser Sorgen« und ihre Reflektierung [sic!] zu finden.
In der Diskussion dieser Synodaltagung trat Stier gemeinsam mit dem genannten Große sowie dem ebenfalls hinlänglich bekannten Pfarrer Schorlemmer u. a. politisch-negativen Kräften sowie drei die Gemeindebasis vertretenden Jugenddelegierten massiv mit pseudopazifistischem Gedankengut in Erscheinung. Durch das Auftreten dieser Personen wurde eine Aufnahme politisch-negativer Aussagen in Beschlüsse der Synode ermöglicht.
Während der 3. Tagung der IV. Synode des Bundes im September 1983 in Potsdam-Hermannswerder trat Stier nicht in Erscheinung.
Stier wird als ausgeprägt intellektuell eingeschätzt, der oft über die »einfache Gemeinde« hinwegredet.
Mit viel Eigeninitiative war er bemüht, den Anforderungen seiner Landeskirche an die Akademiearbeit gerecht zu werden.
Er ist in der Lage, besonders mit intellektuellen Personen zu arbeiten.
Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit knüpfte er Kontakte sowohl innerhalb der DDR als auch mit Personen aus dem NSA.
Besonders intensive Kontakte unterhält Stier zur Evangelischen Akademie der Nordelbischen Kirche.
Stier verfügt darüber hinaus über Kontakte zur kirchlichen Akademie der Evangelischen Kirche Finnlands und arbeitet aktiv im Lutherischen Weltbund mit.