Aktuelle Aspekte zu Reaktionen der Bevölkerung (Langfassung)
27. Mai 1988
Hinweise zu einigen aktuellen Aspekten der Reaktion der Bevölkerung [Bericht O/202a – Langfassung]
Nach vorliegenden Hinweisen nehmen die Diskussionen unter breitesten Kreisen der Bevölkerung zu innenpolitischen Fragen, insbesondere zu Problemen der Um- und Durchsetzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie zu Problemen des Handels und der Versorgung an Umfang und Intensität weiter zu.
Bei Anerkennung der bisher erreichten Ergebnisse in Durchsetzung der ökonomischen Strategie der Partei und mehrheitlich bekundeter Bereitschaft, diese Zielstellung auch künftig durch entsprechende Arbeitsleistungen unterstützen zu wollen, verstärken sich in erheblichem Maße die kritischen Meinungsäußerungen insbesondere von Arbeitern, wirtschaftsleitenden Kadern und Angehörigen des ingenieurtechnischen Personals aus Großbetrieben sowie von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz über die ihrer Meinung nach immer deutlicher zutage tretenden und alle Bereiche der Volkswirtschaft erfassenden Störfaktoren.
Sie hätten – so wird vielfach behauptet – ein solches Ausmaß angenommen, dass der weitere Effektivitätszuwachs in der Volkswirtschaft und eine erzeugnisgerechte Plandurchführung in vielen Kombinaten/Betrieben nicht mehr gewährleistet werden könnten.
In diesem Zusammenhang wird insbesondere verwiesen auf die ständige Zunahme von Störungen in Produktionsabläufen der Betriebe, hauptsächlich bedingt durch
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fehlende bzw. diskontinuierliche Zulieferungen seitens der Kooperationspartner,
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erhebliche Qualitätsmängel bei Materialien und Rohstoffen,
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verschlissene bzw. veraltete Maschinen/Anlagen,
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fehlende Ersatzteile und Ausrüstungen.
Unter Hinweis darauf, dass es sich hierbei in der Regel um Probleme handelt, die bereits seit Jahren einer Veränderung bedürfen, bisher jedoch keiner Lösung zugeführt wurden und sich stattdessen weiter zuspitzen, wird wiederholt durch vorgenannte Personenkreise die Auffassung vertreten, die zentralen staats- und wirtschaftsleitenden Organe in der DDR würden die gegenwärtige ökonomische Situation immer weniger beherrschen.
Entsprechende Beschlüsse und Entscheidungen der Partei- und Staatsführung zur Überwindung der Schwierigkeiten blieben nahezu wirkungslos. Das widerspiegle sich am drastischsten in der als besorgniserregend bezeichneten Situation auf dem Gebiet der Ersatzteilversorgung für Industriebetriebe, für die Bereiche des Bau- und Transportwesens sowie für die Landwirtschaft.
Zuständige Wirtschaftskader aus diesen Bereichen verweisen z. B. darauf, dass die Ausfälle an Nutzkraftwagen, Baggern, Lade- und Mehrzweckgeräten sowie an landwirtschaftlichen Maschinen einschließlich Traktoren zum Teil 40 bis 60 % des Gesamtbestandes betragen.
Fahrzeugsparks im Bereich des Transportwesens seien teilweise nur bis zu 50 % einsatzfähig. Des Öfteren müssten, um die Versorgung der Betriebe und der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, Fahrzeuge zum Einsatz gebracht werden, die nicht mehr voll betriebs- und verkehrssicher sind. Zahlreiche in solchen Bereichen der Volkswirtschaft tätige progressive Kräfte äußerten sich enttäuscht und empört, dass trotz fortgesetzter Hinweise an leitende Partei- und Staatsfunktionäre keine Hilfe und Unterstützung gewährt wurde. Die Folge davon sei eine Zunahme unlauterer Praktiken bei der Beschaffung von Ersatzteilen (z. B. Tauschangebote mit attraktiven Ferienplätzen, tagelange »Beschaffungsfahrten« durch die Republik, materielle/finanzielle Korrumpierung) bzw. Eigenherstellung von Ersatzteilen mit unvertretbar hohem ökonomischen Aufwand.
Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, Mitarbeiter staatlicher Organe u. a. progressive Kräfte weisen mit Nachdruck darauf hin, dass die vielfältigen ungelösten Probleme in Kombinaten und Betrieben und die daraus resultierenden Störungen im Produktionsprozess in zahlreichen Arbeitskollektiven zu sinkender Arbeitsmoral, mangelnder Leistungsbereitschaft, zu Resignationserscheinungen besonders unter mittleren leitenden Kadern und zu einem Rückgang der Bereitschaft zu gesellschaftlicher Tätigkeit geführt hätten.
Zahlreiche Versammlungen gesellschaftlicher Organisationen in Betrieben und Einrichtungen seien in den letzten Monaten durch Mängeldiskussionen bestimmt bzw. beeinflusst worden. Kritiken an der Informations- und Medienpolitik der DDR wären ein Dauerthema.
Veröffentliche statistische Angaben zur Planerfüllung würden mehrheitlich angezweifelt bzw. nicht zur Kenntnis genommen.
Im Mittelpunkt der Kritiken stünden insbesondere
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die fehlende Offenheit bei der Darlegung vorhandener Probleme, besonders in der Volkswirtschaft und im Bereich Handel und Versorgung, die Erläuterung diesbezüglicher Ursachen und Zusammenhänge,
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die einseitige, auf die Propagierung von Erfolgsbilanzen ausgerichtete Berichterstattung,
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das späte Reagieren der DDR-Massenmedien auf Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte bzw. ihre defensive Haltung gegenüber den von westlichen Politikern und Massenmedien inszenierten Hetz- und Verleumdungskampagnen,
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die unzureichende Berichterstattung über die Tätigkeit und die erzielten Ergebnisse der sozialistischen Bruderländer im Rahmen der von ihnen eingeleiteten Umgestaltungsprozesse sowie
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die kommentarlose Wiedergabe von in sozialistischen Bruderländern, besonders in der UdSSR, erfolgten Veröffentlichungen zu bestimmten innenpolitischen Vorgängen in diesen Ländern.
Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge werden durch Werktätige in Industrie und Landwirtschaft, Angehörige der wissenschaftlich-technischen und pädagogischen Intelligenz sowie Mitglieder und Funktionäre der SED und befreundeter Parteien verstärkt Diskussionen zu den vermeintlichen Ursachen der vorhandenen Probleme in der Volkswirtschaft geführt.
Dabei sind folgende Standpunkte besonders beachtenswert.
Immer öfter wird die Frage aufgeworfen, ob die Partei- und Staatsführung überhaupt die reale Lage in der Volkswirtschaft und auf dem Gebiet der Versorgung kenne. Häufig wird dies mit dem Hinweis auf die unkritische, die »tatsächlichen Probleme verschweigende Berichterstattung« von unten nach oben offen angezweifelt. Wiederholt wurde auch die Auffassung vertreten, die Partei- und Staatsführung widme den innenpolitischen Problemen wegen ihres hohen Engagements in Durchsetzung des außenpolitischen Kurses zu wenig Aufmerksamkeit.
Den zentralen Staatsorganen mangele es bei der Lenkung und Leitung volkswirtschaftlicher Prozesse an der notwendigen Flexibilität, an der rechtzeitigen Einstellung und Orientierung auf neue Erfordernisse, an der erforderlichen Kontrolle »vor Ort« und an der konsequenten Durchsetzung der gefassten Beschlüsse. Nach Meinung von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz könne man die zunehmenden Schwierigkeiten in der Volkswirtschaft nicht ausschließlich – wie es oft geschehe – mit den Folgen außenwirtschaftlicher Belastungen begründen. Vielmehr gelte es, die derzeitigen Praktiken der Lenkung und Leitung der Volkswirtschaft neu zu durchdenken. Die Formen der Planung sowie die Organisation der Verwaltungsarbeit entsprechen nicht mehr den neuen Erfordernissen. Die Partei- und Staatsführung sollte deshalb – so argumentieren derartige Personenkreise – entsprechende Schlussfolgerungen aus dem Umgestaltungsprozess in der UdSSR und in anderen Bruderländern ableiten.
Breiten Raum nehmen Auffassungen ein, in der DDR finde das Leistungsprinzip immer weniger Anwendung. Politisch engagierte Werktätige zeigen sich beunruhigt über von ihnen getroffene Feststellungen zunehmender Verletzungen der Arbeitsdisziplin in den Betrieben. Häufig werden diesen jedoch von den verantwortlichen staatlichen Leitern toleriert, würden keine prinzipielle Auseinandersetzungen erfolgen und keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen gezogen.
Allmählich verstärke sich der Eindruck, heute könne fast jeder sein Geld verdienen, ob er viel oder wenig arbeite. Vorwiegend ältere Werktätige aus Betrieben und Verwaltungen betonen unter Bezugnahme auf eigenes Erleben in ihrem Tätigkeitsbereich, dass häufig vor allem junge Frauen und Mütter die ihnen gewährten großzügigen sozialpolitischen Vergünstigungen über Gebühr ausnutzen. Deren Aufgaben müssten dann von den älteren Werktätigen mit übernommen werden. Auch hier mangele es oft an der Einflussnahme der staatlichen Leiter zur Erziehung der jungen Menschen zu größerem Verantwortungsbewusstsein und hoher Arbeitsmoral.
Feststellungen in allen Bezirken der DDR zufolge wachsen Unzufriedenheit und offen geäußertes Missfallen unter breitesten Kreisen der Bevölkerung über die sich nach ihrer Auffassung weiter verschärfenden Probleme im Bereich Handel und Versorgung. Mitarbeiter des Handels, insbesondere Verkaufspersonal, verweisen auf ein zunehmend aggressives Auftreten der Kunden beim Nichterhalt gewünschter Waren.
Im Mittelpunkt der Kritik steht insbesondere das unzureichende bzw. nicht bedarfs-, sortiments- und qualitätsgerechte Angebot an modischer Damen- und Herrenoberbekleidung, Schuh- und Lederwaren, Wohnraummöbel, hochwertigen Konsumgütern (besonders Erzeugnisse der Heimelektronik), Arbeitsbekleidung und Baumaterialien.
Das gilt analog auch für das als unbefriedigend eingeschätzte Angebot an Obst und Frühgemüse. Unverständnis rufen auch die fortgesetzt auftretenden Sortimentslücken bei Waren des täglichen Bedarfs sowie die diskontinuierliche Belieferung der Verkaufsstellen des staatlichen Einzelhandels, besonders in Kreisen und Landgemeinden, mit Grundnahrungsmitteln, hauptsächlich Fleisch- und Wurstwaren, hervor.
Bei Warenanlieferungen, vor allem bei modischen Textil- und Schuhwaren, bilden sich sofort lange Käuferschlangen. Vielfach verlassen Werktätige ihre Arbeitsplätze zu Einkäufen. Progressive Kräfte bewerten die dadurch entstehenden Ausfallzeiten als erheblich, sehen aber immer weniger Möglichkeiten, dagegen aufzutreten, u. a. auch deshalb, um nicht in andauernde Mängeldiskussionen zu geraten, an denen sich zunehmend auch Mitglieder der SED und Leitungskader aus Betrieben und Einrichtungen beteiligen würden.
Außerordentlich heftige und scharfe Reaktionen, teilweise verbunden mit abwertenden Äußerungen über die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft der DDR, werden fortgesetzt ausgelöst durch die sich ständig verlängernden Wartezeiten beim Neuerwerb von Pkw (Import-Kfz bis zu 18 Jahren; Inland-Kfz bis zu 15 Jahren) sowie durch das sich weiter verschlechternde Angebot an Kfz-Ersatzteilen, insbesondere für Import-Fahrzeuge. Werktätige aus Industrie und Landwirtschaft, darunter auch viele progressive Kräfte, äußern sich empört über ihnen durch Mitarbeiter von Kfz-Reparaturwerkstätten erteilte Ratschläge, sich Ersatzteile (besonders Verschleißteile beim Import-Kfz) persönlich, auch unter Nutzung privater Kontakte in das nichtsozialistische Ausland, zu beschaffen. Vielfach wird argumentiert, es sei unverständlich, dass die DDR – obwohl sie zu den zehn stärksten Industrienationen der Welt zählt – dieses Problem nicht lösen könne.
In jüngster Zeit verstärken sich Gerüchte über angebliche Preisfestlegungen für die künftig mit Viertaktmotoren ausgerüsteten Pkw vom Typ »Trabant« und »Wartburg«. Genannt werden Summen in Höhe von 18 000 bis 20 000 Mark bei »Trabant« bzw. bis zu 32 000 Mark bei »Wartburg«. Bereits jetzt wurde im Zusammenhang mit derartigen Preisdiskussionen die Meinung vertreten, damit werde es den Werktätigen mit unteren und mittleren Einkommen unmöglich gemacht, ein derartiges Kfz zu erwerben.
Mitglieder und Funktionäre der SED, Mitarbeiter staatlicher und wirtschaftsleitender Organe sowie weitere progressive Kräfte äußern sich besorgt über von ihnen getroffene Feststellungen wachsender Unzufriedenheit und spontaner Unmutsbekundungen sowie Anzeichen von Ratlosigkeit besonders unter Handelsmitarbeitern im Zusammenhang mit den vorhandenen Problemen auf dem Gebiet Handel und Versorgung sowie im Dienstleistungsbereich.
Fortgesetzt würden sie mit solchen Auffassungen, Argumenten und Fragen konfrontiert wie:
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Wo verbleiben die Ergebnisse der ständig propagierten höheren Produktionsleistungen, insbesondere bei Konsumgütern? Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit des Exportes derartiger Erzeugnisse dürfte dies nicht in so drastischem Ausmaß auf Kosten des Bevölkerungsbedarfs gehen.
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Warum zeigen die zentralen Organe der Partei und des Staates keine Bereitschaft, die Werktätigen offen über vorhandene Probleme zu informieren?
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Die Preisentwicklung, besonders bei Oberbekleidung, Schuhwaren u. a. Konsumgütern, stehe im krassen Widerspruch zu dem propagierten Produktionszuwachs in der Industrie.
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Wie lange soll ein derartig unbefriedigender Zustand auf dem Gebiet Handel und Versorgung (auch betriebliche Mängel z. T. eingeschlossen) noch andauern?
Wiederholt machten vorgenannte Personenkreise darauf aufmerksam, auf viele von ihnen als berechtigt eingeschätzte Fragen der Werktätigen, vor allem nach den Ursachen und Lösungswegen für permanent auftretende und nichtbewältigte Probleme, keine überzeugenden Antworten mehr geben zu können. Sie verwiesen dabei z. B. auf ihre Bemühungen, den massiv kursierenden Gerüchten über angebliche Preiserhöhungen, besonders bei Schuhwaren u. a. Erzeugnissen offensiv zu begegnen. Die Praxis zeigte jedoch, dass derartige Gerüchte hartnäckig weiterverbreitet werden und ihren Argumenten häufig kein Glauben geschenkt wird.
Gleichzeitig brachten sie ihren Unwillen darüber zum Ausdruck, dass sich die DDR-Massenmedien nicht an der Zurückweisung dieser Gerüchte durch entsprechende Veröffentlichungen beteiligt haben. Ihren Erkenntnissen zufolge sei das lange Schweigen zuständiger staatlicher Organe zu den Gerüchten von einer Reihe Personen als Indiz dafür bewertet worden, dass derartige Preiserhöhungen geplant waren, jedoch aufgrund der Stimmungslage nicht realisiert wurden.
Beachtenswert sei auch, dass Diskussionen über Versorgungsfragen in erheblichem Maße genährt und beeinflusst werden durch von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten zurückkehrende DDR-Bürger. Derartige Personen berichteten u. a. über wiederholt von ihnen getroffene Feststellungen des Verkaufs von hochwertigen DDR-Erzeugnissen zu »Billigpreisen« und empörten sich über die vergleichsweise hohen Preise beim Verkauf gleichartiger Erzeugnisse in der DDR.