Andacht für die Relegierten der Ossietzky-Schule (Gethsemanekirche)
5. November 1988
Information Nr. 490/88 über die Durchführung einer sogenannten Wochenschlussandacht in der Gethsemanekirche Berlin-Prenzlauer Berg
Am 4. November 1988 fand in der Zeit von 20.12. bis 21.05 Uhr in der Gethsemanekirche ein als Nachfolgeveranstaltung der am 28. Oktober 1988 in der Zionskirchgemeinde stattgefundenen »Informationsandacht« (vgl. Information des MfS Nr. 465/88 vom 29. Oktober 1988) deklarierter Gottesdienst im Zusammenhang mit der Relegierung von vier Schülern der EOS »Carl von Ossietzky« in Berlin-Pankow statt.
An der Veranstaltung nahmen ca. 500 Personen teil. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Mitglieder und Sympathisanten kirchlicher Basisgruppen sowie um jugendliche Personenkreise. Festgestellt wurden auch einzelne Übersiedlungsersuchende, die jedoch nicht in Erscheinung traten. Unter den Teilnehmern befanden sich solche hinlänglich bekannten Personen wie Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Katharina Harich, Reinhard Schult, Till Böttcher, Karl-Heinz Jordan und Pfarrer Simon (Zionskirchgemeinde Berlin-Mitte). Sie traten mit Ausnahme von Schult nicht in Erscheinung.
Entsprechend zentralen Festlegungen wurden am 4. November 1988, im Zeitraum von 15.00 bis 20.00 Uhr die hinlänglich bekannten Personen Uwe Bastian, Werner Fischer, Peter Grimm, Wolfram Sello und Reinhard Weißhuhn vorbeugend zugeführt, um sie an der Durchführung provokatorischer Handlungen zu hindern und die Hintergründe aufzuklären.
Im Verlauf der gemäß § 95 StPO durchgeführten Befragungen gestanden die Genannten ihre Kenntnis über die geplante Veranstaltung bzw. ihre beabsichtigte Teilnahme ein, machten jedoch keine Aussagen über ihre damit verfolgten Ziele und Absichten.
Bei Grimm und Fischer wurde der Text einer »Protesterklärung« zu den Vorgängen an der EOS »Carl von Ossietzky« sichergestellt (Wortlaut des Textes liegt vor).
Nach Abschluss der Befragungen wurden die zugeführten Personen zur strikten Einhaltung der Gesetzlichkeit aufgefordert und belehrt. Danach erfolgte im Zeitraum von 22.35 bis 23.15 Uhr zeitlich gestaffelt ihre Entlassung.
Im Ergebnis der seitens zuständiger staatlicher Organe mit kirchenleitenden Personen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg geführten Gespräche in Auswertung der sogenannten Informationsandacht vom 28. Oktober 1988 und der dabei erneut unmissverständlich zum Ausdruck gebrachten staatlichen Erwartungshaltungen sowie unter Berücksichtigung der bevorstehenden »Friedensdekade 1988« hatte die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg auf einer Sitzung am 4. November 1988 festgelegt, die am Abend des gleichen Tages in der Gethsemanekirche stattfindende Veranstaltung in gestraffter Form als Gottesdienst durchzuführen. Außerdem wurde auf eine Nichtteilnahme von Vertretern der Kirchenleitung an diesem Gottesdienst orientiert.1
Die am Nachmittag des 4. November 1988 im Stadtjugendpfarramt auf Initiative des Stadtjugendpfarrers Hülsemann eingerichtete sogenannte Informationsstelle (vgl. Information des MfS Nr. 465/88 vom 29. Oktober 1988) wurde nur durch ca. 15 Personen aufgesucht. Es kam zu keiner Verteilung von schriftlichen Materialien. Die Besucher wurden zur Teilnahme an dem abendlichen Gottesdienst aufgefordert.
Zum Inhalt und Verlauf der Wochenschlussandacht:
Sie wurde mit einer Predigt des geschäftsführenden Pfarrers der Gethsemane-Kirchengemeinde, Widrat, eingeleitet.
In der überwiegend religiösen Charakter tragenden Predigt brachte Widrat u. a. zum Ausdruck, dass eine Trennung von Staat und Kirche keine Alternative für echte Christen sei. Auch die Kirchen und Christen lebten in der Gesellschaft und hätten somit die Pflicht, sich deren Probleme anzunehmen. Dazu müssten sich aber Christen informieren, müssten nach neuen Lösungswegen suchen und diese ausprobieren können.
Wörtlich erklärte er: »Wir dürfen nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht. Entmündigung, Unterstellung, ungerechte Strafe stehen im Widerspruch zum Evangelium. Wir wollen, dass unsere Kinder zu aufrichtigen Menschen heranwachsen. Ihre Eigeninitiative, ihre Spontanität, ihre Ehrlichkeit sollen nicht unterdrückt werden. Durch den Anpassungsdruck in der Schule werden ganze Generationen geschädigt und damit auch unsere Gesellschaft.« Die Eltern sollten »ihre Kinder ermutigen, ehrlich und offen aufzutreten, auch wenn sie damit rechnen müssen, dass ihr Bildungsweg, ihr Berufsweg nicht immer so glatt geht wie sonst«.
Es sei auch Aufgabe der Kirche, so Widrat, sich besonders um Kranke und Schwache zu kümmern, unter denen Kinder eine besondere Stellung einnehmen würden. Die Kinder sollten dabei mehr nach dem Vorbild der Eltern leben als nach den Leitbildern des Staates.
Nach Verlesung kurzer Passagen aus dem Evangelium, in dem Gott für seine Hilfe für Schwache und Kranke gedankt wurde, trug eine namentlich bekannte weibliche Person eine chronologische Abfolge der Ereignisse an der EOS »Carl von Ossietzky« bis zur Relegierung der vier Schüler vor.
Diese Ausführungen enthielten Aussagen gegen die sozialistische Bildungspolitik und die Anregung, sich in der Gemeindearbeit mehr dem Erlernen der Fähigkeit zur Führung von Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Lehrern zu widmen und sich für eine »freiere« Entwicklung der Kinder einzusetzen.
Die Teilnehmer der Veranstaltung wurden aufgerufen, den bevorstehenden Pädagogischen Kongress zu nutzen, um sich persönlich stärker mit Problemen der Volksbildung zu befassen.
Danach verlas Reinhard Schult die persönliche Erklärung der vier relegierten Schüler. (Der Wortlaut der Erklärung ist der Information des MfS Nr. 465/88 vom 29. Oktober 1988 als Anlage 3 beigefügt.) Unwillen unter den Anwesenden rief besonders jene Textpassage in der Erklärung hervor, in der den Schülern die Schaffung einer pazifistischen Plattform vorgeworfen wurde.
Weiter wurde ein Brief von Konsistorialpräsident Stolpe, gerichtet an die Gethsemanegemeinde, durch Pfarrer Widrat verlesen. Darin wird mitgeteilt, dass Bischof Forck von den Vorgängen an der EOS »Carl von Ossietzky« sehr bewegt sei und Aktivitäten eingeleitet habe, um für die Schüler »gute Perspektiven« zu erwirken. Der Ausgang der Bemühungen Forcks werde »Signalwirkungen« haben. Die Kirchenleitung gehe davon aus, dass es ein »positives« Signal sein werde. In diesem Zusammenhang wurde zu Ruhe und Besonnenheit gemahnt.
Gleichzeitig wurde auf das Stattfinden einer erneuten »Informationsveranstaltung« am 20. November 1988, um 19.00 Uhr in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg hingewiesen. Man erwarte zu diesem Zeitpunkt eine positive Reaktion des Staates.2
Anschließend erfolgten mehrere Fürbitten für Frieden, Gerechtigkeit und Güte.
Nach Beendigung der Veranstaltung verließen alle Teilnehmer diszipliniert den Veranstaltungsort. Es kam zu keinen Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.
Nach vorliegenden Hinweisen nahmen an der Veranstaltung die in der DDR akkreditierten Korrespondenten Heber (ARD), Jennerjahn (DPA), Röder (epd), Baum (Frankfurter Rundschau) und Zimmermann, Monika (Frankfurter Allgemeine Zeitung) teil, ohne von der mitgeführten Technik Gebrauch zu machen.
(Westliche elektronische Medien hatten über das Stattfinden der Veranstaltung in der Gethsemanekirche am 4. November 1988 bereits am Vortag informiert.)
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Mielke [Unterschrift]