Andacht in der Zionsgemeinde für die Relegierten der Ossietzky-Schule
29. Oktober 1988
Information Nr. 465/88 über die Durchführung einer sogenannten Informationsandacht im Jugendraum der Zionskirchgemeinde Berlin
Am 28. Oktober 1988 fand in der Zeit von 18.00 Uhr bis 19.15 Uhr im Jugendraum der Zionskirchgemeinde eine sogenannte Informationsandacht im Zusammenhang mit den bekannten Vorkommnissen an der EOS »Karl von Ossietzky« in Berlin-Pankow statt.1
An der Veranstaltung nahmen ca. 180 Personen teil. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Vertreter kirchlicher Basisgruppen. Unter den Teilnehmern befanden sich die hinlänglich bekannten Personen Herbert Mißlitz, Wolfgang Rüddenklau, Katharina Harich und Maja-Michaela Wiens sowie Propst Furian und die Pfarrer Hülsemann, Passauer und Simon.
Des Weiteren waren die relegierten Schüler Philipp Lengsfeld, Benjamin Lindner und der an eine andere EOS verwiesene Paul-Shenja Wiens anwesend.
Entsprechend zentraler Festlegungen wurden am 28. Oktober 1988 die Organisatoren bzw. Personen, die auf der Veranstaltung auftreten wollten, Fischer, Werner; Poppe, Ulrike; Schult, Reinhard; Wolf, Wolfgang und Klein, Thomas, kurzfristig zugeführt, um sie an der Teilnahme an der Veranstaltung zu hindern und die Hintergründe aufzuklären. Im Verlauf der gemäß § 95 StPO2 durchgeführten Befragungen bestritten die zugeführten Personen eine aktive Beteiligung an der Vorbereitung der Veranstaltung.
Klein bestätigte jedoch, den Text der »Einladung« (Wortlaut siehe Anlage 1) für die »Informationsandacht« verfasst zu haben.3
Bei Fischer wurden der Text einer maschinenschriftlich gefertigten »Erklärung der Initiative für Frieden und Menschenrechte«4 (Wortlaut siehe Anlage 2) sowie ein gedruckter Text mit der Überschrift »Mitglieder der Initiative für Frieden und Menschenrechte fordern die öffentliche Auseinandersetzung mit der Ausreiseproblematik und ihren Ursachen« sichergestellt. (Dieser Text enthält eine Aufforderung an »Ausreisewillige«, insgesamt 17 Fragen zu den Gründen ihres Ausreiseantrages zu beantworten. Die Erhebungen sollen laut Text dem Ziel dienen, die Ursachen für Ausreiseanträge zu »erforschen« und auf dieser Grundlage eine »Öffentlichkeit in der DDR herzustellen«.) Die Inhalte der »Einladung« und der »Erklärung« enthalten teilweise Angriffe gegen die staatlichen Entscheidungen.
Die Poppe führte sechs Exemplare eines vervielfältigten vierseitigen Textes mit der Überschrift »Kurze Darstellung der Ereignisse in der EOS Carl von Ossietzky« mit sich. (Wortlaut siehe Anlage 3)
Nach Abschluss der Befragungen wurden die zugeführten Personen zur strikten Einhaltung der Gesetzlichkeit aufgefordert und belehrt. Danach erfolgte im Zeitraum von 21.15 Uhr bis 22.00 Uhr zeitlich gestaffelt ihre Entlassung. Die Verdachtsprüfungshandlungen werden weitergeführt.
Zum Inhalt und Verlauf der »Informationsandacht«:
Nach der Eröffnung der Veranstaltung durch Pfarrer Simon gab die Katharina Harich aus ihrer Sicht eine kurze Darstellung der Vorkommnisse an der EOS »Carl von Ossietzky« und informierte über die erfolgten Zuführungen der vorgenannten Personen durch die Sicherheitsorgane. Sie teilte mit, dass sich der Schriftsteller Stephan Hermlin und Prof. Jürgen Kuczynski für die Belange der relegierten EOS-Schüler einsetzten.
In der danach erfolgten Andacht erklärte Pfarrer Simon unter Bezugnahme auf biblische Texte, dass allen Christen sozialer und politischer Schutz gewährt werden müsse. Wer dies verwehre und es mit der Trennung von Staat und Kirche begründe, greife das Wort Gottes an. Mit der »Informationsandacht« wolle man nicht Opposition gegen den Staat, sondern die eigene Beteiligung am Leben der Gesellschaft dokumentieren.
Danach informierte Stadtjugendpfarrer Hülsemann über die am 28. Oktober 1988 stattgefundene Beratung der Kirchenleitung. Er übermittelte die Grüße Bischof Forcks an die Anwesenden, verwies auf dessen »Betroffenheit« über die Vorgänge an der Pankower Oberschule und teilte mit, dass sich Forck stark für die Angelegenheit der relegierten Schüler engagiere. Er, Forck, habe sich in dieser Angelegenheit an höchste Stellen gewandt und hoffe auf eine gute Lösung. Forck bittet deshalb, im Interesse der Betroffenen Ruhe zu bewahren und die staatlichen Reaktionen auf seine Bemühungen abzuwarten. Die gesamte Kirchenleitung zeige sich solidarisch.
In seinen weiteren Ausführungen verwies Hülsemann auf die von ihm mit den vier Schülern geführten Gespräche. Er betonte, an ihre Aufrichtigkeit zu glauben, dass sie mit ihren Aktivitäten keine staatsfeindlichen Absichten verfolgt, sondern nur ihr Recht auf Meinungsäußerung wahrgenommen hätten.
Er unterbreitete den Vorschlag, am 4. November 1988 im Stadtjugendpfarramt einen Informationsaustausch über die weitere Entwicklung der Situation durchzuführen und bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Aktivitäten zu unternehmen. Er deutete jedoch an, dass er – sofern sich bis zum 4. November 1988 keine Änderung in der Situation der Betroffenen ergebe – eine Koordinierungsgruppe bilden wird.
Die von Hülsemann dargelegten Standpunkte der Kirchenleitung wurden von mehreren Teilnehmern unterstützt, jedoch mit der Forderung verbunden, bei einem ergebnislosen Verlauf der Gespräche mit den staatlichen Organen öffentlichkeitswirksame Aktionen durchzuführen. Gegen diese Orientierung der Kirchenleitung wandte sich in scharfmacherischer und massiver Form Herbert Mißlitz. Er forderte, unverzüglich konkrete Maßnahmen für das weitere Vorgehen am 4. November, so u. a. die Einrichtung von Mahnwachen, festzulegen, wenn bis zu diesem Zeitpunkt keine Rücknahme der Relegierung der betroffenen Schüler erfolgt sei. Sein Auftreten beeinflusste wesentlich die Atmosphäre unter den Anwesenden und veranlasste Diskussionsredner, verstärkt Forderungen nach Solidarisierungsmaßnahmen zu erheben. Bereits zuvor hatte ein Teilnehmer seine Bereitschaft erklärt, am 4. November 1988 einen sogenannten Informationsgottesdienst in der Gethsemanekirche durchzuführen. (An der Identifizierung dieser Person und an der Aufklärung beabsichtigter Aktivitäten am 4. November 1988 wird gearbeitet. In Abhängigkeit vom vorliegenden Erkenntnisstand werden Vorschläge für das weitere Vorgehen unterbreitet.)
Ein von Mißlitz unterbreiteter Vorschlag, die am 29. Oktober 1988 in der Zionskirchgemeinde stattfindende Zusammenkunft der innerkirchlichen Gruppierung »Kirche von unten«5 für einen Informationsaustausch zu nutzen, wurde von Pfarrer Simon abgelehnt.
Zum Abschluss der Zusammenkunft wurde durch Pfarrer Simon ein Gebet gesprochen, in das alle durch die Ereignisse an der »Carl-von-Ossietzky«-Oberschule Betroffenen eingeschlossen wurden.
Nach Beendigung der »Informationsandacht« verließen alle Teilnehmer den Veranstaltungsort. Dabei kam es zu keinen Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.
Vorliegenden Hinweisen zufolge nahmen die in der DDR akkreditierten Korrespondenten Heber und Hauptmann (ARD), Schmitz (ZDF), Nesirky (Reuter) und Jennerjahn (DPA) an der Veranstaltung teil bzw. hielten sich im Umfeld des Veranstaltungsortes auf, ohne von der mitgeführten Aufnahmetechnik Gebrauch zu machen.
Es wird vorgeschlagen:
Der Staatssekretär für Kirchenfragen sollte im Zusammenhang mit den Vorkommnissen am 28. Oktober 1988 in den Räumen der Zionskirchgemeinde eine Aussprache mit Bischof Forck durchführen.
Er sollte dabei in grundsätzlicher Form derartige kirchliche Praktiken zurückweisen. Bischof Forck sollte dargelegt werden, dass die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg ihre Glaubwürdigkeit verliert, da sie sich offen in staatliche Angelegenheiten einmischt. Genosse Löffler sollte nachdrücklich fordern, den politischen Missbrauch der Kirchen zu unterbinden und in diesem Sinne gegebene Zusagen strikt einzuhalten.
Analoge Gespräche sollten durch den Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Hauptstadt der DDR für Inneres mit Propst Furian und Generalsuperintendent Krusche und durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte mit dem zuständigen Superintendenten und dem geschäftsführenden Pfarrer der Zionskirchgemeinde durchgeführt werden.
In allen Gesprächen ist die Disziplinierung von Pfarrer Simon, der die politisch-negativen Entwicklungstendenzen seiner Kirchengemeinde und in dessen Umfeld begünstigt, unter Berufung auf ein bereits erfolgtes Gespräch zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen und Generalsuperintendent Krusche nachhaltig zu verlangen. Darüber hinaus ist zu fordern, dass keine Wiederholung einer derartigen Veranstaltung stattfindet.
Es wird geprüft, inwieweit gegenüber Mißlitz rechtliche Sanktionen eingeleitet werden können.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Mielke [Unterschrift]
Anlage 1 zur Information Nr. 465/88
[Kopie]6
Einladung zu einem Informationsabend: Was geschieht an unseren Schulen? Zu den Ereignissen an der Carl-von-Ossietzky- und der Heinrich-Schliemann-Schule
An die Gemeinden
Wer es zum ersten Mal hört, ist fassungslos. Wer nachfragt, wird abgewiesen. Wer protestiert, findet sich als »Staatsfeind« wieder. Was ist geschehen?
Schüler einer Schule äußern sich an einer Schulwandzeitung zu einem tagespolitischen Thema: Gefragt wird, wie es in [der] VR Polen weitergehen kann. Andere Schüler diskutieren anhand eines in der Zeitschrift »Die Volksarmee« veröffentlichten Gedichts und anlässlich der Frage nach dem Sinn von Militärparaden ihre friedenspolitischen Auffassungen. Wieder andere Schüler dieser Schule bekennen sich öffentlich zu ihrem Standpunkt, auch in der DDR allen neofaschistischen Tendenzen entschieden entgegenzutreten.
Man mag, wenn man dies hört, schon ahnen, dass es einigen schulischen Verantwortungsträgern nicht passen kann, wenn hier Jugendliche ihre eigenen Gedanken äußern. Wie also nehmen Pädagogen ihren Erziehungsauftrag wahr? Die schlimmsten Ahnungen bestätigen sich: »Ein Tribunal« von Lehrern und Leitungsfunktionären bescheinigt den Jugendlichen, ihre Meinungen zum Thema Polen seien »staatsfeindlich«, ihre Auffassungen zu Friedenspolitik und Friedenserziehung stellten eine »pazifistische Plattform« an der EOS »Carl von Ossietzky« (!) dar und ihre antifaschistische Gesinnung sei, weil mit eigenen Plakaten auf der offiziellen Demonstration am 11. September manifestiert, als »Provokation« zu werten. Versuche der Schüler, sich gegen solche Verfälschungen ihres Anliegens und darauf aufbauende Diffamierungen zu wehren, werden unterbunden. Wo es aussichtsreich erscheint, setzt man FDJ-Ausschlussverfahren in Szene. In Schnellverfahren werden gegen alle, die sich nicht einschüchtern lassen, Relegierungen durchgesetzt, Umschulungen eingeleitet und Verweise ausgeteilt. Eltern, die sich gemeinsam mit ihren Kindern gegen dieses Unrecht wehren, werden als Verleumder denunziert bzw. zu Initiatoren staatsfeindlicher Umtriebe gestempelt. Die Mitschüler der abgestraften Jugendlichen empfangen die Weisung, jeden Kontakt mit den nunmehr Aussätzigen zu meiden. Doch auch diese Ungeheuerlichkeit ließ sich zuletzt noch übertreffen: Eine außen stehende Schülerin der Schliemann-EOS, die sich mit einigen Mitschülern bei einem der relegierten Jugendlichen informiert, was in der Ossietzky-Schule vor sich ging, fand sich am nächsten Tag ebenfalls vor einem »Tribunal« bekannter Machart wieder, und die Umstände lassen eine Ausdehnung der drakonischen Abstrafungen nunmehr auch auf vermutete Sympathisanten befürchten. Zu allem Überfluss wies man diese Schülerin an, künftig über die Geschehnisse an der Ossietzky-Schule zu schweigen! Es erscheint nunmehr schon fast verständlich, wenn die Verantwortlichen für diese inquisitorischen Praktiken das Bekanntwerden solch unglaublicher »Erziehungsmaßnahmen« scheuen.
Wir fühlen uns durch diese Ereignisse unmittelbar betroffen. Wir protestieren gegen diesen Exzess der Willkür gegenüber Jugendlichen, die ein Recht auf die Diskussion ihrer Auffassungen zu allen sie bewegenden Fragen haben. Es darf weder heute noch in Zukunft geschehen, dass Jugendliche, die ihren eigenen Weg suchen, zu »Verschwörern« erklärt werden! Wir protestieren insbesondere gegen die zu befürchtende neuerliche Disziplinierung einer weiteren Schülerin. Wir fordern die Aufhebung der diskriminierenden Maßnahmen gegen alle betroffenen Schüler und die Einstellung aller weiteren Versuche, Offenheit und eigenes Engagement an unseren Schulen mit Einschüchterungsversuchen und Disziplinierungen zu beantworten und das Vertrauen von Jugendlichen zu missbrauchen.
Zum Freitag, dem 28. Oktober, ab 18.00 Uhr laden Mitarbeiter/innen kirchlicher Basisgruppen in den Gemeindesaal der Zionskirchgemeinde ein, um über die näheren Umstände der hier kurz geschilderten Ereignisse zu informieren. Willkommen sind alle Interessierten, insbesondere natürlich Schüler und Eltern.
Nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch!
Anlage 2 zur Information Nr. 465/88
[Kopie]
Erklärung der Initiative Frieden und Menschenrechte
Der Anspruch einer Erziehungs- und Bildungspolitik sollte die Erziehung zu allseitig entwickelten, demokratiefähigen und mündigen Bürgern sein. Die Jugend- und Bildungspolitik in der DDR erhebt für sich den Anspruch, kann ihn aber in der Praxis nicht gerecht werden, weil sie auf einem persönlichkeitsbrechenden und gesellschaftlichen Wohlverhalten aufbaut.7
Wegen der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung wurden bis jetzt vier Schüler der EOS »Carl v. Ossietzky« in Berlin relegiert. Es gab außerdem Zwangsumschulungen, Verweise und unverhältnismäßig massiven Druck auf sich solidarisierende Schüler, Eltern und Freunde. Weitere Relegierungen in anderen Schulen sind angedroht worden. Diese Jugendlichen haben nichts anderes getan, als sich, z. B. durch Wandzeitungsartikel zur Situation in Polen und der Teilnahme an einer offiziellen Demonstration mit eigenen Transparenten (»Gegen faschistische Tendenzen«, »Neonazis raus«), [mit] Problemen auseinanderzusetzen, die dringend einer öffentlichen Diskussion bedürfen.
Dieses Vorgehen des Machtapparates weist auf eine langfristig angelegte Strategie hin, den Anpassungsdruck auf Kinder und Jugendliche an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu verstärken. Es ist unerträglich, in welcher Art und Weise die persönliche und berufliche Zukunft von Jugendlichen einem Verfügungsanspruch über Menschen geopfert wird.
Das Ministerium für Volksbildung spielt durch seine nahezu ausschließliche Zuständigkeit für den gesamten Bereich von Erziehung, Bildung und Ausbildung eine besondere Rolle in der DDR. Das Ziel der gegenwärtigen Bildungspolitik ist letztendlich die Erziehung zu Untertanen. Die Folgen sind u. a. ein weit verbreiteter frühzeitiger Rückzug in festgelegte kleinbürgerliche Lebensformen aber auch eine starke Resignation bei vielen Jugendlichen, die sich u. a. in vermehrten Ausreiseanträgen, Fluchtversuchen, verstärkten Alkoholmissbrauch, Jugendkriminalität und nicht zuletzt verstärkten neonazistischen Aktivitäten äußert.
Angesichts dieser Konsequenzen ist es dringend geboten, sich einer solchen Politik zu widersetzen.
Als Voraussetzung für eine grundsätzliche Veränderung der Bildungspolitik müssen wir die Aufhebung aller das Recht auf Bildung einschränkenden Sanktionen wegen der Inanspruchnahme anerkannter Menschenrechte fordern.
Anlage 3 zur Information Nr. 465/88
[MfS-Abschrift]8
Erklärung
Wir werden beschuldigt, wir hätten uns antisozialistisch verhalten. Uns wird vorgeworfen, wir hätten gegen die sozialistische Gesetzlichkeit verstoßen. Es wird uns unterstellt, wir hätten uns organisiert, wir wollten politisch labilen Schülern unsere Meinung aufzwingen, um so eine pazifistische Plattform zu errichten.
Diese Diffamierungen verletzen und empören uns sehr. Die gegen uns beantragten bzw. verhängten Schulstrafen und der Ausschluss einiger von uns aus der Freien Deutschen Jugend empfinden wir als großes Unrecht.
Die gegen uns erhobenen Vorwürfe veranlassen uns, noch einmal die Gemeinsamkeiten unserer politischen Überzeugungen und damit auch unsere Grundhaltung zu unserem Staat darzulegen:
Wir wollen in der DDR leben und lernen. Wir wollen schöpferisch an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft mitwirken. Wir wollen offen unsere Meinung äußern und sie öffentlich diskutieren.
Die politischen Ereignisse auf der ganzen Welt interessieren und beschäftigen uns sehr. Wir stehen zur Friedenspolitik der DDR. Mit unserer antifaschistischen Grundhaltung treten wir gegen neofaschistische Tendenzen unter Jugendlichen auf. Wir alle wurden mit solchen Erscheinungen konfrontiert, einige von uns wurden von faschistischen Skins angegriffen und beschimpft. Wir werden uns immer und überall gegen solche Erscheinungen wehren.
Unterschrieben von: Kai, Benjamin, Katja, Alexander, Shenja-Paul und Philipp
Kurze Darstellung der Ereignisse in der EOS »Carl von Ossietzky« (1100 Berlin, Görschestr.)
Am 12.9.1988 bringen die Schüler Shenja-Paul und Benjamin einen Artikel über die Ereignisse in Polen an der »Speakers corner« an. Die sachliche Grundhaltung des Artikels, verstärkt durch zahlreiche ADN-Zitate, wird von vielen Schülern gut aufgenommen.
Der Schüler Kai heftet wenige Tage später einen in Eigeninitiative gefertigten polemisierenden Artikel an die »Speakers corner«, in dem er die Notwendigkeit der Militärparade am 7. Oktober infrage stellt. Die Schüler werden im Anhang aufgefordert, ihre Meinung zu äußern. Im Ergebnis einer mehrtägigen Diskussion, die durch den Artikel ausgelöst wurde, fertigt er (wieder ohne Absprache mit anderen) einen Nachdruck des Artikels an und reicht ihn als Unterschriftenliste herum. Als Kai bereits 37 Unterschriften gesammelt hat, ohne den Direktor zu informieren, bringt dieser seine Missbilligung über die durch den Schüler gewählte Form zum Ausdruck. Der Direktor bietet jedoch an, er würde sich für eine Anfrage an das zuständige Ministerium einsetzen. Voraussetzung sei jedoch die Aushändigung der Liste. Kai übergibt die Liste.
Mit Eltern der Schüler, die den von Kai angefertigten Text unterschrieben haben, werden Termine für Gespräche vereinbart.
Am 21.9. bringen Shenja-Paul, Benjamin, Alexander, Philipp und Wolfram unter der Überschrift »Ein Gedicht, das uns sehr beeindruckt und zum Nachdenken anregt« ein Gedicht an der »Speakers corner« an, das sie als waffenverherrlichend empfinden.
Am 21.9. finden in den 12. Klassen die Wahlversammlungen der FDJ statt. Es wird heftig diskutiert. In der Klasse 12/1 werden Benjamin und Wolfram erneut in die FDJ-Leitung der Klasse gewählt. Auf dieser Wahlversammlung sind auch ein Vertreter der FDJ-Kreisleitung und der Direktor anwesend.
Am 22.9.1988 (noch bevor alle Elterngespräche durchgeführt sind) werden die Schüler Kai, Katja, Philipp, Shenja-Paul und Benjamin in dieser Reihenfolge aus dem Unterricht geholt. An den nun folgenden Befragungen im Sekretariat nehmen der Direktor, die jeweiligen Klassenleiter, zwei Vertreter der GOL, die Parteisekretärin und drei weitere Personen teil, die den Schülern nicht vorgestellt werden. Zwei der den Schülern unbekannten Personen protokollieren. Am nächsten Tag werden auf die gleiche Weise Alexander und Wolfram befragt. Die Befragung wird nach Aussage aller Schüler in einer scharfen Form durchgeführt, sie dürfen nicht aussprechen, haben das Gefühl, provoziert zu werden, es wird von ihnen verlangt, dass sie sich von den von ihnen geäußerten Meinungen in Zukunft distanzieren. Sie werden auf die Aufnahmebedingungen für die EOS verwiesen.
Am 26.9.1988 wird Benjamin für zwei Tage beurlaubt damit die »Lage sich beruhigt und die Schulleitung sich über weitere Maßnahmen klar werden kann.« Der Direktor spricht in Benjamins Klasse davon, dass Benjamin eine »Mängelphilosophie« vertrete und eine »nicht negative Lösung« für Benjamin nicht mehr denkbar sei. Es gäbe kein Problem »Unterschriftensammlung« mehr, sondern nur noch ein Problem »Benjamin«. Die einzige Möglichkeit für Benjamin wäre, alles zurückzunehmen.
Die Schüler Katja, Philipp, Alexander, Shenja-Paul, Georgia und Kai schreiben einen Brief an den Direktor, in dem sie mitteilen, dass sie das Gefühl haben, dass Benjamin für Meinungen bestraft werden soll, die sie mitgetragen haben, über die sie weiter diskutieren wollen und für die sie mit Benjamin gemeinsam die Konsequenzen tragen wollen.
Am 27.9. wird der Brief dem Direktor übergeben. Auf einer der Sitzungen der GOL, die inzwischen in kurzen Abständen auch während des Unterrichts tagt, wird vom Direktor der Brief verlesen.
Es wird über Relegierung und FDJ-Ausschluss gesprochen. Der FDJ-Ausschluss wird von der GOL für Benjamin, Katja, Philipp und Kai empfohlen.
Am 28.9.1988 wird das für diesen Tag angesetzte Polenforum abgesetzt. Den sieben Schülern wird mitgeteilt, dass die für den 29.9. angekündigten Aussprachen mit der GOL nicht stattfinden werden. Stattdessen werden außerordentliche Mitgliederversammlungen der FDJ für die Klassen Kais, Katjas, Philipps und Benjamins von der GOL festgelegt.
Auf den am 29.9. nacheinander stattfindenden Mitgliederversammlungen werden Ausschlussverfahren aus der FDJ durchgeführt. An den Versammlungen nehmen ein Vertreter der Kreisleitung der FDJ, des Patenbetriebes, des Elternaktivs, zwei Vertreter der GOL, der jeweilige Klassenleiter, der Direktor, die Parteisekretärin und ein Gast teil. Philipp, Kai und Katja werden auf ihren jeweiligen FDJ-Versammlungen aus der FDJ ausgeschlossen. In Benjamins Klasse, auf die ebenfalls massiver Druck ausgeübt wird, kann der FDJ-Ausschluss nicht durchgeführt werden, da die notwendige 2/3-Mehrheit nicht erreicht wird. Mehrere der gegen den Ausschluss stimmenden Schüler brechen in Tränen aus. Der Vertreter der Kreisleitung der FDJ spricht von »antisozialistischer Plattformbildung im Blauhemd«. Man bemühe sich, um jeden zu kämpfen (z. B. um Grabschänder, Skinheads u. a.), aber in diesem Fall müsste die Trennung von eindeutig staatsfeindlichen Schülern erfolgen. In keiner der Klassen können die von den Ausschlussverfahren betroffenen Schüler ausführlich Stellung nehmen. Ihre Einwände werden abgetan.
Am 30.9.1988 findet in der Aula der Schule eine außerordentliche Schulversammlung statt. Die Schüler müssen einzeln vortreten. Philip, Kai, Katja und Benjamin wird nacheinander mitgeteilt, dass gegen sie ein Relegierungsverfahren eingeleitet wurde.
Die Schüler werden beurlaubt und müssen den Raum verlassen. Philipp geht schweigend. Ebenso Benjamin. Kai bittet ums Wort, soll aber nicht reden. Er sagt trotzdem, dass er alles als sehr ungerecht empfindet. Dann wird er von zwei Schülern aus dem Raum gebracht. Danach muss Katja gehen.
Jemand meldet sich und sagt, dass man mit dem Ausschluss aus der FDJ keinen Schulausschluss gewollt habe. Diese Erklärung bekräftigen viele Schüler durch Beifall. Zahlreiche Mitschüler der Betroffenen weinen. Alexander muss vortreten. Ihm wird ein Verweis erteilt. Er sagt, dass er sich für diese Schule schämt. Wenn er sich für diese Schule schämt, sagt der Direktor, könne er auch gehen. Auch Alexander geht. Shenja-Paul wird die Erteilung eines Verweises und die Umschulung mitgeteilt. Auch er geht.
Rekonstruktion des Textes an der »Speakers corner«, da Original nicht mehr vorhanden
In wenigen Wochen ist es soweit. Auf den Straßen Berlins werden riesige Geschosse aufgefahren, todbringende Waffen zur Schau gestellt. Die Panzer rollen in einer Zeit über die Straßen, da gerade vertrauensbildende Maßnahmen eine gemeinsame Sicherheit schaffen sollen. In einer solchen Zeit ist das öffentliche Vorführen militärischer Stärke, das laute Bekunden der Abschreckung schädlich für die politische Schönwetter-Phase, die vielleicht historisch sein könnte. Es passt auch nicht in die Friedenspolitik der DDR. Dem internationalen Ansehen der DDR sowie dem gesamten Friedensprozess würde ein Verzicht auf die Militärparade am 7. Oktober gut tun.
Du Meine
Ich denk noch an einst | an sonnigen Tagen | hab stolz ich dich | übern Bach getragen.
Dein Können | hast du mir gezeigt | hab willig mich zu dir geneigt.
Die Stärken sind mir | gut bekannt | oft zucktest du in meiner Hand.
Und ich werd | in deine Kammer gehen | werd in reinster | Pracht dich sehn.
Ich streif mit dir | zur Mondesnacht | dein Anblick | mich ganz sicher macht.
Ich weiß warum | ich kenn dein Wie | du | Kalaschnikow-MPi.
(Das Gedicht von Oberfeldwebel Bernd Anderson ist der Zeitung »Volksarmee« vom Mai 1986 entnommen.)