Auftritt des SPD-Politikers Schmidt auf dem Kirchentag in Rostock
19. Juni 1988
Information Nr. 314/88 über den Aufenthalt und das Auftreten des ehemaligen Bundeskanzlers der BRD, Helmut Schmidt, anlässlich des Kirchentages der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in Rostock (16. bis 19. Juni 1988) am 18. Juni 1988
Der ehemalige Bundeskanzler der BRD reiste am 18. Juni 1988, 10.30 Uhr, in Begleitung seiner Ehefrau und weiterer sieben BRD-Bürger über die Grenzübergangsstelle Selmsdorf in die DDR zur Teilnahme an dem in Rostock stattfindenden evangelischen Kirchentag ein.
Entsprechend zentraler Festlegungen wurde er von einem Sicherungskommando übernommen und während der Zeit seines Aufenthaltes im Bezirk Rostock begleitet. (Die Ausreise von Schmidt und seiner Begleitung erfolgte am selben Tag ohne Vorkommnisse um 22.31 Uhr über die gleiche Grenzübergangsstelle.)
Schmidt und seine Begleitung trafen 11.35 Uhr entsprechend des Ablaufplanes in Bad Doberan/Rostock zur Besichtigung des Doberaner Münsters ein. Vor dem Münster, wo er von Landessuperintendent Ohse begrüßt wurde, hielten sich ca. 200 Personen auf, die Beifall bekundeten. Nach der Einnahme eines Mittagessens im Hause von Superintendent Ohse fuhr er mit seiner Begleitung ca. 13.30 Uhr weiter nach Rostock, wo er vor der Marienkirche von kirchenleitenden Persönlichkeiten in Anwesenheit des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Bräutigam, begrüßt wurde. Während der in der Marienkirche am 18. Juni 1988 in der Zeit von 14.00 Uhr bis 15.30 Uhr stattgefundenen Vortragsveranstaltung anlässlich des Kirchentages, an der ca. 2 500 Personen teilnahmen, hielt Schmidt einen Vortrag zum Thema: »Brücken bauen in Europa – was erwarte ich von der Kirche«. (Der Vortrag wird als Anlage im Wortlaut beigefügt.)
Während dieser öffentlichen Veranstaltung, die störungsfrei verlief, wurden im Vorfeld der Kirche Vertreter westlicher Medien (SFB, NDR) wirksam. Durch Bischof Stier wurde Schmidt nach seinem Vortrag mit herzlichen Worten der Dank ausgesprochen, wobei er die besondere Wertschätzung zum Ausdruck brachte und die Gemeinsamkeiten der evangelischen Kirchen in der DDR und der BRD betonte.
Im Rahmen eines öffentlichen Podiumsgespräches in der Heilig-Geist-Kirche Rostock am 18. Juni 1988 in der Zeit von 17.00 Uhr bis 18.15 Uhr unter dem Thema: »Was unsere Sache ist« trat Schmidt vor ca. 1 000 Teilnehmern mit einem 10-minütigen Beitrag in Erscheinung, in dem er in Kurzform seinen in der Marienkirche gehaltenen Vortrag wiederholte. Dabei hob er u. a. solche Aussagen hervor wie: Die Deutschen müssten mit der Teilung leben; jeder sollte an seiner Hoffnung auf ein gemeinsames Dach über der deutschen Nation festhalten; jeder habe Anspruch auf die Verwirklichung von Grundfreiheiten des Menschen und auf das »natürliche und von Gott gegebene« Recht auf freie Rede. Er verwies weiter auf das »gemeinsame Haus Europa« und sprach sich für Durchlässigkeit für Begegnungen in Deutschland und für Reisefreiheit aus. Nachdrücklich würdigte er die von Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleiteten Reformen, betonte deren positive Auswirkungen auf die Weltpolitik und äußerte die Hoffnung, dass sie entsprechenden Einfluss auf die Menschen in der DDR ausüben. Schmidt versuchte den Eindruck zu erwecken, als sei durch ihn in seinem damaligen Amt als Bundeskanzler der entscheidende Grundstein zum Dialog im kleineren und größeren Rahmen gelegt worden und begrüßte das Gipfeltreffen UdSSR – USA.
Während der gleichen Veranstaltung trat Konsistorialrat Stolpe/Berlin mit einem ca. 15-minütigen Beitrag in Erscheinung, der eine Kurzfassung seines am gleichen Tag, 15.00 Uhr, in der Universitätskirche Rostock vor ca. 700 Teilnehmern gehaltenen Vortrages »Kirche in der DDR – Christsein im Sozialismus« darstellte.
Stolpe betonte darin u. a.: Die Kirche sei bereit zu Gemeinsamkeiten mit dem Staat; sie habe die Aufgabe, das Evangelium zu verkünden, aber auch Stellung zu politischen Fragen zu nehmen. Das Verhältnis Staat – Kirche habe sich in den letzten Jahren positiv entwickelt, und weitere Voraussetzungen würden dafür bestehen. Die Kirche sei jedoch in eine kritische Situation gedrängt worden, da andere Organisationen – konkret verwies er auf FDJ und FDGB – ihren Aufgaben nicht gerecht würden. Die innere Situation der DDR sei sehr schwierig; Gründe dafür seien unter anderem die Verdrängung von Schwierigkeiten, was auch für das Problem der »Ausbürgerungsanträge« gelte. Der Staat sei von den neuen Entwicklungen geradezu überrollt worden. In der Reformpolitik der DDR sei jetzt ein »qualitativer Sprung« nötig.
Stolpe äußerte, bezogen auf die KSZE-Folgekonferenz in Wien, dass sie auch konkrete positive Ergebnisse für die Menschen in der DDR bringen würde.1
Nach Beendigung des Podiumsgespräches begab sich Schmidt nach Warnemünde in das Interhotel »Neptun«, wo für 31 ausgewählte namentlich bekannte Personen ab 19.00 Uhr ein Abendessen stattfand. Dabei wurden keine politisch beachtenswerten Aussagen getroffen.
Anschließend begab sich Schmidt mit seiner Begleitung an die Grenzübergangsstelle Selmsdorf und reiste wieder in die BRD aus.
Anlage zur Information 314/88
Rede des ehemaligen Bundeskanzlers der BRD, Helmut Schmidt, anlässlich des Kirchentages der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs am 18. Juni 1988 in der Marienkirche Rostock (Tonbandabschrift)
(Helmut Schmidt wird mit lang anhaltendem Beifall empfangen.)
Begrüßung durch Pastor Gauck:
Wir begrüßen den ehemaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt.
Unser Kirchentag, meine Freunde, steht unter dem Motto – »Brückenbau«. Er könnte auch unter dem Thema – »Hoffnung« stehen. Auch das Erinnern spielt in verschiedenen Themenbereichen unseres Kirchentages eine Rolle. Bei unseren Vorarbeiten haben wir uns der Politik der SPD erinnert, die in einer Zeit sehr starrer Fronten Brücken auf schwierigem Terrain gewagt hat. Mühsame Konstruktionsarbeiten führten damals zu ersten Ergebnissen, die Deutsch-Deutschen Verträge entstanden.
Uns interessieren heute die Gedanken des Staatsmannes und evangelischen Christen zu diesem Thema.
Helmut Schmidt, Sie sind uns herzlich willkommen.
(Jubelrufe, lang anhaltender stürmischer Beifall)
Liebe Gemeinde!
Ihre Einladung, so habe ich eben gehört, gilt einem Bürger des anderen deutschen Staates, der dort einmal – lange ist es her – politische Verantwortung getragen hat. Aber ich bin hier als ein ganz privater Bürger. (Beifall)
Und ich denke, Ihre Einladung hat auch dem Christen gegolten und ich bin dankbar dafür, vor Ihnen hier in Rostock als Bruder angenommen zu werden. (Beifall)
Im gegenseitigen Annehmen als Brüder liegt ja einer der wichtigen Gründe dafür, dass die christliche Gemeinde von Anfang an jene Verheißung erfahren konnte, die da sagte: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen!
Für meine Frau und für mich bedeutet dieser Tag in Rostock viel. Wir erleben einen Augenblick, einen Augenblick der Gemeinsamkeit, einen Tag, wenn Sie so wollen, der Einheit. (Beifall)
Und solch Tag ist immer noch nicht so selbstverständlich, wie er es sein sollte und wie er es sein könnte. Aber kann es etwas geben, das noch normaler wäre, als dass sich Deutsche gegenseitig besuchen? (Beifall)
Die Leitung des Kirchentages hat mir das Thema, zu dem ich sprechen soll, vorgegeben, auch den Ort, von dem aus ich zu Ihnen sprechen soll. Ich gestehe, dass ich nie ohne Scheu eine Kanzel betrete, denn ich war immer der Meinung, dass ein Politiker nicht auf eine Kirchenkanzel gehört. (Beifall) Ebenso, wie ich weiterhin der Meinung bleibe, dass ein Pastor nicht auf die politische Rednertribüne gehört. (Beifall)
Jedenfalls beide nicht in ihrer Eigenschaft als Politiker oder in ihrer Eigenschaft als Pastor. Und wenn sie dennoch aufgefordert werden, das Wort zu nehmen am anderen Ort, dann sollen sie es mit der Bescheidenheit des einfachen Gemeindegliedes oder des einfachen Staatsbürgers tun. Ihr jeweiliges Amt allein gibt ihren Äußerungen auf dem anderen Felde noch keinerlei besondere Würde oder Bedeutung.
Vor einigen Jahren hat mich Ihr vormaliger Landesbischof Rathke gemeinsam mit dem Staatsratsvorsitzenden im Güstrower Dom empfangen. Er begrüßte in einem einzigen Satz den Marxisten Erich Honecker und den Christen Helmut Schmidt. Trotzdem hätte der Letztere damals das Wort kaum ergreifen können. Deshalb bin ich dankbar heute, hier als Bruder angenommen zu sein, und als solcher möchte ich zu Ihnen sprechen, und nicht alles wird jedermann gefallen können. Das Thema, das mir aufgetragen ist, lautet: »Brücken bauen in Europa – meine Erwartungen an die Kirchen«.
Jeder von uns weiß, um welche Klüfte und Abgründe es geht, über die wir Brücken bauen wollen. Nächstes Jahr wird es ein halbes Jahrhundert her sein, dass von deutschem Boden aus und aus totalitärer Hybris jener Zweite Weltkrieg ausging, der – vom Deutschen total geführt und total verloren – die Teilung Europas und die Teilung Deutschlands ausgelöst hat. Seitdem hat es lange Zeiten des Kalten Krieges gegeben und nur eine kurze Zeit der Entspannung. Diese fand mit der großen Konferenz von Helsinki heute vor 13 Jahren ihren Höhepunkt, und bald darauf fand jene Entspannungsperiode schon wieder ihr Ende. Allerdings haben wir im Verhältnis der beiden deutschen Staaten jene erste Entspannungsphase einigermaßen bewahren können.
Aber die beiden Großmächte fielen in den Kalten Krieg zurück. Auch heute noch geben die Vereinigten Staaten von Amerika über 6 % und die Sowjetunion sogar über 12 % ihrer nationalen Wertschöpfungen für militärische und für Rüstungszwecke aus. In den allerletzten Monaten ist zwischen ihnen beiden doch etwas in Bewegung gekommen. Und erstmals überhaupt in der Geschichte haben die Führungsmächte der beiden militärischen Bündnissysteme sich auf einen Abrüstungsvertrag verständigt. Erstmals werden wirklich vorhandene Waffen tatsächlich vernichtet. Und ich will nicht verhehlen, dass ich durchaus Befriedigung darüber empfinde, dass ich in meinem früheren politischen Amt zu jenem Prozess habe beitragen können, an dessen Anfang neue Mittelstreckenraketen SS 20 auf Westdeutschland, auch Westeuropa, gerichtet worden waren und an dessen Ende jetzt der Vertrag über die beiderseitige Vernichtung der beiderseitigen Mittelstreckenraketen steht.
Ich weiß, dass meine Politik zu genau diesem Ziel damals auch unter Christen manchem Missverständnis ausgesetzt gewesen ist, auch, dass viele Menschen an ihrem Erfolg gezweifelt haben.
Heute dürfen wir Reagan und Gorbatschow für diesen Erfolg der Vernunft dankbar sein, wenn sie heute auf beiden Seiten gleicherweise auf Null gehen. Es wird Zeit mit der Abrüstung. Von dem neuen Jahrhundert trennen uns nur noch weniger als zwölf Jahre. Es ist höchste Zeit für weitere Abrüstung, wenn wir denn im neuen Jahrhundert ein wenig sicherer leben wollen als heute. Wir haben verstanden, es gibt keine Sicherheit nur für die eine Seite. Sicherheit vor dem anderen muss immer zugleich auch heißen, Sicherheit für den anderen. Man kann sich immer nur dann sicher fühlen, wenn auch der Gegner sich sicher vor mir selber weiß. Das ist gemeint mit dem Wort von der Sicherheitspartnerschaft. Deshalb braucht Europa gleichgewichtige Abrüstungsverträge, Verträge mit zwei Partnern. Gleichgewicht, das ist aber nicht nur eine Kategorie der Waffen oder der Mannschaftsstärken, sondern Gleichgewicht ist zugleich eine Kategorie der Psychologie der internationalen Politik. Nur derjenige kann einen Vertrag erreichen, der auch selbst sich vertragen will. Vertrag und Vertragen gehören zusammen. Und zum Vertragenwollen gehört, dass man in dem anderen nicht nur den Gegner oder gar den Feind sieht, sondern, dass man in ihm sieht einen Staat und dessen Regierung, einen Staat der Interessen hat, dessen Regierung Ziele verfolgt, der letzten Endes für sich und sein Volk Sicherheit und Frieden wünscht, weil ohne dies seine anderen Ziele nichtig blieben.
Wenn wir aber auf beiden Seiten die Feindbilder beseitigen wollen, dann müssen wir uns kennenlernen. Man muss sich ganz persönlich kennenlernen. Lange Jahre hatten wir Kalten Krieg, weil die Führungspersonen der beiden Großmächte sich nicht persönlich kannten. Sie wollten sich gar nicht kennen. Sie trafen sich nicht, sie beschimpften sich gegenseitig. Gott sei Dank, dies scheint jetzt überwunden, aber eines müssen wir alle daraus lernen: Man kann den anderen nur verstehen, wenn man ihm zuhört, wenn man ihn befragt und seinen Antworten zuhört und er kann mich nur verstehen, wenn ich seine Fragen beantworte. Wir alle, gerade auch wir Deutschen auf beiden Seiten, wir müssen uns selbst erziehen zum Zuhören und zum Antworten. (längerer Beifall)
Natürlich gilt das auch für die Soldaten. Natürlich gilt das für Marxisten und für Christen. Natürlich gilt das für Christen und für Juden und für Moslems und natürlich gilt das für Katholiken wie für Lutheraner. Gerade wir Deutschen auf beiden Seiten müssen uns zu dieser Erkenntnis erziehen. Wer den anderen zum Feind erklärt, der erzeugt Angst vor dem anderen. Angst kann aber zur Vorstufe des Konfliktes werden. Wer mit dem anderen nicht redet, wer ihn nicht besuchen will, wer seinen Besucher nicht empfangen will, wer den Dialog nicht will, der muss ja zwangsläufig Angst und Furcht erzeugen. Zwangsläufig erzeugt er Furcht auch vor sich selbst. (lang anhaltender Beifall)
Es ist zuviel Angst und zu viel Furcht in Deutschland. (Beifall) Als Franklin Roosevelt – schließlich gemeinsam mit Stalin und Churchill Sieger in der Antihitlerkoalition – als Roosevelt 1941 seine Freiheiten verkündete, da sprach er von der Freiheit der Rede und der Freiheit der Religion für jedermann, der Freiheit von Not und er sprach von der Freiheit von Furcht. Wenn wir unsere Mitmenschen wenigstens von einem Teil ihrer Ängste und Furcht befreien wollen, dann müssen wir sie reden lassen. (lang anhaltender Beifall)
Wir müssen sie fragen lassen und sie haben Anspruch auf Antworten. (Beifall) Dabei hat jeder Mensch ein natürliches, ein von Gott gegebenes Recht auf seine Heilung, auf seine freie Rede, auf seine Religion, auf seine persönliche Würde. (stürmischer lang anhaltender Beifall, Bravorufe)
Als 1975 Ford und Breschnew, Giscard d’Estaing und Gierek, als die Staatsmänner aller europäischer Staaten, einschließlich des Vatikans, einschließlich Honeckers und meiner selbst, als wir uns in Helsinki getroffen haben, da haben wir einstimmig und gemeinsam unseren Willen schriftlich erklärt, (Beifall) in unseren jeweiligen Staaten diese Grundrechte jedes Menschen zu verwirklichen. Tatsächlich ist die volle Verwirklichung des Korbes 3 der Helsinki-Erklärung, die volle Verwirklichung der Menschenrechte, nicht erreicht in Europa. (Kurzer Beifall, unterbrochen durch folgenden Einwurf von Helmut Schmidt: Kein Grund zum Beifall, überhaupt nicht soviel Grund zum Beifall, meine Damen und Herren.)
Allerdings, es sind in der letzten Zeit aus der Sowjetunion Nachrichten zu uns gedrungen, welche gewisse vorsichtige Hoffnungen auslösen. Wenn in diesen Tagen Generalsekretär Gorbatschow auf seiner Allunionskonferenz genügende Zustimmung erfahren sollte, so können seine Vorstellungen von »Glasnost«, von »Neuem Denken«, seine Vorstellungen vom »Gemeinsamen europäischen Haus« auch für uns Deutsche durchaus positive Veränderungen mit sich bringen. Uns Deutschen ist in Europa nach 1945 vielfältig ein Geschenk zuteilgeworden, nämlich, dass unsere Nachbarn uns wieder angenommen haben, dass sie trotz aller Gräuel zur Annäherung, ja zur Versöhnung bereit gewesen sind. Diese Entwicklung wird sich dann vertiefen, wenn wir uns in Europa noch intensiver gegenseitig kennenlernen, wenn die vielen Wohnungen im »Gemeinsamen Haus Europa« offene Fenster und offene Türen haben werden. (Beifall) Jeder Schritt zu diesem Ziel schafft Vertrauen, und Vertrauen schafft die Voraussetzungen für die Bereitschaft zum Vertragen und für Verträge, wobei dann schließlich auch gegenseitige Kontrolle zur Verwirklichung der Verträge gehört.
Gorbatschows Wort vom »Gemeinsamen Haus Europa« ist ein richtiges Wort, meine Damen und Herren. Ob unsere Vorfahren Russen waren oder Polen, Tschechen oder Deutsche, Italiener und Franzosen, Engländer, Skandinavier, sie alle zusammen haben das Christentum und den christlichen Glauben angenommen. Zusammen haben sie die europäische Musik geschaffen, die europäische Malerei, die europäische Literatur und die Philosophie. Und dabei haben sie Vororte der geistigen Ausstrahlung oft gewechselt – Polonia, Prag, Paris, Rom, Madrid, Genf, Weimar. Natürlich denkt man in Rostock wie in Hamburg dann auch an die Hanse von Lübeck bis Nowgorod. Geistig war Europa über ein Jahrtausend lang – und ist heute noch – ein Ganzes, im Laufe von Jahrhunderten geschichtlich geknüpft aus einer ungeheuren Vielfalt. Vor diesem Jahrtausend hatte die Völkerwanderung unser deutsches Volk in der Mitte dieses kleinen Kontinents entstehen lassen. Wir Deutschen haben mehr Nachbarvölker als andere europäische Nationen, und dies ist einer der Gründe für die vielerlei Kriege, in die wir in den letzten Jahrhunderten verwickelt gewesen sind. Dass wir angesichts der Vielzahl unserer Nachbarn keine ausreichende Fähigkeit zur Friedenswahrung entwickelt haben, das ist eine der Ursachen für die fünf Kriege, die wir Deutschen seit 1864 geführt haben.
Kaum eine andere Nation in Europa bedarf so sehr der Fähigkeit zur guten Nachbarschaft, wie wir Deutschen. Andererseits aber haben wir Deutschen gewiss es angesichts der Teilung schwerer, unsere Pflichten zur Friedensbewahrung zu erfüllen, als Menschen in manch anderen europäischen Völkern es schwer hatten.
Für die meisten Völker Europas gilt die Übereinstimmung von Kulturnation und Staatsnation. Für uns Deutsche dagegen ist oft die Identifizierung des Einzelnen mit seiner eigenen Nation schmerzhaft schwierig. Manche können sie überhaupt nicht vollziehen. Die Teilung hat zu innerer Verletzung, zum Verlust der Selbstverständlichkeit geführt, zu einer schweren Beeinträchtigung der Geborgenheit. Hier liegt die Ursache dafür, dass das Phänomen der Angst unter uns Deutschen so sehr viel stärker ist als anderswo. Weil aber doch in absehbarer Zukunft die Teilung nicht überwunden werden wird, gerade deshalb bleibt es unsere Aufgabe, Gelassenheit zu lernen und Gelassenheit zu bewahren, lernen, Gelassenheit und moralische Integrität miteinander zu verbinden.
Niemand von uns weiß, wie lange die Teilung dauern wird. Jeder von uns weiß, dass die meisten unserer Nachbarn mit der Teilung Deutschlands viel mehr zufrieden sind, als mit der Teilung Europas. Jeder von uns weiß, dass wir eine Aufhebung der Teilung nicht erzwingen können. Und jeder von uns weiß, niemals wieder darf von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Und trotzdem darf jeder von uns an seiner Hoffnung auf ein gemeinsames Dach über der deutschen Nation festhalten. (Beifall)
Selbst Gorbatschow hat in seinem »Perestroika«-Buch ja doch ausdrücklich offen gelassen, wie die Geschichte Deutschlands später verlaufen kann. Lassen Sie mich aber einen klaren Satz hinzufügen: Wir heutigen Deutschen müssen lernen, mit der Teilung zu leben. Dieser Rat richtete sich an beide, an die in der Deutschen Demokratischen Republik und an die in der Bundesrepublik Deutschland. Wir leiden beide. Sie leiden gewiss sehr viel mehr als wir im Westen, aber beide müssen wir die Gelassenheit lernen. Darüber hinaus habe ich ihnen, liebe Rostocker, nichts zu raten. Ich rate ihnen weder: kommt herüber, noch rate ich ihnen: bleibt hier. Ich habe kein Recht zu solcherlei Ratschlägen. Aber eines weiß ich: Je mehr Brücken es geben wird, hinüber und herüber, je mehr wir alle über diese Brücken reisen können, um so mehr wird die Frage »Ausreisen« oder »Hierbleiben« an Gewicht verlieren. (Längerer Beifall) Und dies möge die Regierung der DDR bedenken.
Wenn ich für die gleiche Regierung noch eine kleine Fußnote anfügen darf: Je eher die Bürger der DDR z. B. die Zeitung, für die ich arbeite, aus Hamburg abonnieren dürfen, um so besser (wäre das) für die Entwicklung des freien Geistes in ganz Deutschland (Spontaner Beifall).
Ich gehöre zu denen, die das Ziel der schrittweisen Überbrückung der Grenzen immer verfolgt haben. Jeder kann es nachprüfen. Und ich werde das auch in Zukunft tun. Und hier können Kompromisse immer wieder nützlich sein. Allerdings die Gewissensfreiheit der Person oder die Würde des einzelnen Menschen, die erträgt keinen Kompromiss und keinen Abstrich. Das haben wir aus dem Zusammenbruch der ersten Demokratie in Deutschland gelernt. (Beifall)
Es waren Hitler und seine Gesellen, die Deutschland und die deutschen Juden und dann unsere Nachbarvölker mit unerhörter krimineller Energie in die Katastrophe geführt haben, aber der Boden war doch schon vorher bereitet gewesen. Die Erziehung zur Demokratie, die Erziehung zum eigenen Urteil, die Erziehung zu Humanitas, zur Menschlichkeit, die Erziehung zu Würde und Freiheit der einzelnen Person, die hatte schon Generationen lang vorher nicht ausgereicht.
Wir heutigen Deutschen müssen wissen: Damals, anfangs der 30er Jahre, hat es mit der Suche nach Sündenböcken angefangen. Dann hat es sich fortgesetzt mit Gewalt gegen Schriften und gegen Bücher und mit Gewalt gegen Sachen. Und die Gewalt gegen Menschen war dann nur noch die längst vorbereitete Konsequenz. Mit der Verachtung der Würde des Mitmenschen, mit dem Niederbrüllen von anderer Bürgermeinung, hatte es begonnen. Mit der pauschalen Verurteilung des ganzen demokratischen Systems setzte es sich fort, und der Mord war schließlich nur noch die letzte Konsequenz.
Diese, sich unentrinnbar entfaltete Konsequenz inhumaner Verhaltensweisen müssen wir verstehen, wenn wir Deutschen aus unserer damaligen Geschichte etwas lernen wollen. Wir müssen die Verdammungswürdigkeit aller Pauschalverurteilungen verstehen, innerlich erleben, wenn wir lernen wollen, seien diese Pauschalverurteilungen gerichtet gegen die Juden oder gegen die Deutschen oder gegen die Kommunisten oder gegen die Kapitalisten oder gegen das System oder gegen wen immer. Jeder von uns muss das verantworten, was er tut, er muss es verantworten können, und er muss es vorher wissen, dass er es später zu verantworten hat.
Unter dem Wort des Petrusbriefes »Fürchtet Gott, Ehret den König«, haben 1934, ein Jahr nach Beginn der Nazizeit, evangelische Christen in der Barmer Erklärung festgestellt, dass der Staat nach wirklicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, nach dem Maße menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens, unter Androhung und Ausübung von Gewalt, für Recht und Frieden zu wirken. Und sie haben gesagt, wir verwerfen aber die falsche Lehre, als solle und als könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und die totale Ordnung menschlichen Lebens werden. Und zugleich haben sie gesagt, wir verwerfen ebenso die falsche Lehre als solle und als könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatlicher Aufgaben und Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden. Soweit jenes Zitat, über 50 Jahre alt.
Wir wissen, dass der Konflikt, der in jener These umrissen ist, dass dieser Konflikt zwischen Kirche und Staat jederzeit und überall aufbrechen könne. Jene These weist für beide Seiten einen Totalitätsanspruch zurück. Weder darf der Staat für sich in Anspruch nehmen, durch seine Ordnung eine letztgültige Antwort auf das zu geben, was nach dem Sprachgebrauch der Bibel Erlösung der Welt heißt, noch darf andererseits die Kirche, noch können ihre Vertreter sich anmaßen, in allen Fragen der Politik ein letztlich gültiges Mandat zu besitzen. Bei mir zu Hause, im Westen, wird übrigens durch politisierende Pastoren sehr viel häufiger gegen diese These verstoßen, als ich es hier bei Ihnen in der DDR erkennen kann. Wo ein Staat seine eigenen Grundlagen in der Würde des Menschen begründet und in der Achtung der Menschenrechte dort akzeptiert und zugleich, dass hier die Kirchen ein orientierendes Mitspracherecht haben, der akzeptiert das Mandat der Kirche, ja er muss dieses Mandat sogar schützen. [sic!] Dort aber, wo die Kirche sich durch Seelsorge und geistige Führung auf die Lebensbedingungen, auf die Sorgen und Wünsche ihrer Gemeindemitglieder einzulassen hat, dort muss die Kirche akzeptieren, dass hier eine staatliche Ordnung vorgegeben ist.
Eines scheint mir an dieser 5. These des Barmer Bekenntnisses genauso aktuell wie zu jener Zeit, als sie geschrieben wurde, denn es ist hier die Rede von der Verantwortung der Regierenden und der Regierten. Auf diesen Punkt hat mich vor einem viertel Jahrhundert mein väterlicher Freund Gustav Heinemann hingewiesen, und ich zitiere Heinemann: »Es ist immer wieder gut«, sagt er, »dass wir diese Erklärung zur Hand nehmen und wenn es nur das eine wäre, dass aus der ganzen These 5 der Barmer Erklärung nur zwei Wörtlein mitgenommen würden, nämlich die beiden Worte: die Regierten, beide sind verantwortlich, die Regierenden und die Regierten.«
Die großen Probleme, die dem politischen Handeln aller Völker heute aufgetragen sind, die überschreiten schon lange die nationalen Grenzen, welche für die Regierung gelten. Es gibt keine Sicherheit vor dem Kriege nur für ein einziges Land. Es gibt keine wirtschaftliche Wohlfahrt nur für ein einziges Land. Kein einzelner Staat kann die körperliche Unversehrtheit oder die Gesundheit seiner Bürger allein mehr garantieren, wenn doch die Gefährdung der natürlichen Umwelt, die Gefahr eines globalen Klimawechsels, wenn die Explosion der Weltbevölkerung, wenn schließlich auch die neu auftretende AIDS-Seuche doch alle Grenzen überschreitet. Hier müssen die Staaten zusammenarbeiten und die Grenzen dürfen keine Barrieren bilden.
Aber auch die religiösen Überzeugungen, auch die weltanschaulichen Überzeugungen dürfen keine Barrieren bilden, wenn wir denn am Ziel einer menschlichen Gesellschaft festhalten. (Beifall)
Eine persönliche Erfahrung in dem Zusammenhang: Zu Beginn des letzten Jahres bin ich in einem Haus des Jesuiten-Ordens in Rom mit einigen früheren Staats- und Regierungschefs aus allen fünf Erdteilen zusammengetroffen und mit leitenden Repräsentanten aller großer Religionen und Weltanschauungen – je ein hoher Priester des Buddhismus und des Islam, ein hoher Rabbiner, ein römischer Kardinal, ein protestantischer Bischof, ein Hindu-Priester, mehrere Marxisten und Kommunisten. Wir haben unsere gemeinsame Einsicht in die Weltprobleme des Friedens, der Entwicklung, der Umwelt, des Bevölkerungswachstums miteinander vertieft, und wir haben gemeinsam anerkannt, dass diese Probleme uns alle angehen. Und wir wurden uns einig, dass es zur Lösung dieser Probleme der Zusammenarbeit zwischen geistlichen und politischen Führern aus jeder Richtung bedarf. Es war gar nicht so schwierig, zu einer gemeinsamen Position in Hinblick auf jenen Weltfrieden zu gelangen und die Abrüstung. Auch im Hinblick auf die Weltwirtschaft oder auf den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum, Entwicklung und Umweltzerstörung sind wir sehr schnell zu gemeinsamen Empfehlungen gelangt. Was mir heute am Herzen liegt, Ihnen mitzuteilen, ist dies: Wir waren alle berührt von der Erfahrung jener Tage in Rom, dass gleichgültig vor welchem religiösen oder weltanschaulichen oder philosophischen Hintergrund aus, gleichgültig, von wo aus wir an die Probleme herantreten, konnten wir uns auf gemeinsame ethische Grundsätze einigen.
Wir haben Brücken zueinander gefunden. Eine Brücke zu bauen, das ist keine leichte Aufgabe, aber jeder kann etwas dazu beitragen. Als jüngst Erich Honeckers Besuch in der Bundesrepublik bevorstand, da habe ich in der »Zeit« geschrieben, wir hätten so lange von den Brüdern und Schwestern in der DDR gesprochen, Honecker sei einer von ihnen.
Und ich habe gesagt, lasst uns ihn als einen Bruder empfangen. Manche waren darüber pikiert. Was Honecker selbst davon gedacht hat, das weiß ich nicht, aber ich hatte das nicht leichtfertig so dahin gesprochen. Denn wir müssen ja für eine mitmenschliche Welt sorgen, für Brücken sorgen, für gegenseitiges Vertrauen sorgen. Wir müssen auch Kompromisse wollen und wir müssen Toleranz wollen und die Toleranz soll nur enden dort, wo sie auf die Intoleranz eines anderen stößt.
Was aus all diesen Mühen, was aus all unseren Sorgen wird, das steht bei Gott. Auf ihn habe ich selbst immer dann vertraut, wenn ich Angst hatte, gerade auch als Soldat im Kriege, gerade auch dann, wenn wir Angst hatten.
Liebe Rostocker!
Vielleicht darf ich Ihnen doch noch eine Empfehlung am Schluss mitgeben. Auch Ihnen empfehle ich, Ihr Vertrauen zu setzen auf Gott, den Herrn. (lang anhaltender Beifall)