Entwicklungstendenzen in der Stimmung der Bevölkerung
24. November 1988
Hinweise über einige beachtenswerte Entwicklungstendenzen in der Reaktion der Bevölkerung auf innenpolitische Fragen [Bericht O/209]
Nach vorliegenden Hinweisen aus der Hauptstadt und allen Bezirken der DDR ist das Stimmungsbild aus allen Kreisen und Schichten der Bevölkerung unter Bezugnahme auf die Lage und Situation in der Volkswirtschaft und daraus resultierende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werkstätten immer stärker geprägt durch kritische Meinungsäußerungen über die Um- und Durchsetzung der ökonomischen Politik der Partei.1
Dabei zeichnet sich in vielfältigen Diskussionen von Werktätigen zunehmend die Tendenz ab, im eigenen Arbeitsgebiet, das betrifft vor allem produzierende Bereiche, getroffene Feststellungen über vorhandene Mängel und Missstände als symptomatisch für die Gesamtlage in der Volkswirtschaft darzustellen.
Progressiv eingestellte Bürger machen in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass sich in diesbezüglichen Meinungsäußerungen kaum noch Stolz auf das Erreichte bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR widerspiegeln würde. Stattdessen werde immer öfter von einer »Mangelgesellschaft« in der DDR gesprochen.
Sie verweisen darauf, dass insbesondere seit Jahren bestehende und sich seit geraumer Zeit drastisch zuspitzende Probleme, besonders auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung sowie der Dienstleistungen, immer wieder Ausgangspunkt und ständiger Anlass sind für heftige und erregte, teils aggressiv geführte Diskussionen in Arbeitskollektiven. Vor allem in jüngster Zeit enden derartige Meinungsäußerungen vielfach mit solchen Feststellungen, der Sozialismus habe hinsichtlich seiner ökonomischen Leistungskraft gegenüber dem Kapitalismus erheblich an Boden verloren und sei nicht attraktiv genug. Häufig wird von progressiven Bürgern auch die Befürchtung geäußert, die derzeitig komplizierte Lage in den genannten Bereichen und die daraus resultierende kritische Haltung in allen Schichten der Bevölkerung könnten sich negativ auf das Wahlergebnis bei den Kommunalwahlen im Jahre 1989 auswirken.
Im Mittelpunkt vieler, von wachsendem Unverständnis über die Nichtbewältigung anstehender Probleme geprägten Diskussionen, besonders unter Teilen der Arbeiterklasse, die unmittelbar im Produktionsprozess wirken, sowie wirtschaftsleitenden Kadern, stehen vor allem
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das Nichtbeherrschen des Investitionsgeschehens (mit allen daraus resultierenden Folgen für die Versorgung der Volkswirtschaft und den Bevölkerungsbedarf),
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die fortgesetzten Verstöße gegen die Einhaltung von Verpflichtungen der Zulieferindustrie,
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die zunehmend diskontinuierliche Bereitstellung von Materialien und Ersatzteilen in allen Bereichen der Volkswirtschaft, in der Landwirtschaft und im Transportwesen (einschließlich dem daraus resultierenden und ökonomisch nicht mehr zu rechtfertigenden hohen Arbeitsaufwand für Kombinate und Betriebe),
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die Zunahme von Anlagen und Ausrüstungen, die moralisch verschlissen sind (das Betreiben derartiger Anlagen erfolgt oft nur mit Ausnahmegenehmigungen; daraus erwachsen weitere Gefahren für die Funktionssicherheit sowie für Leben und Gesundheit der Werktätigen),
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die praktizierte Exportstrategie (weiteres Absinken der Devisenrentabilität, Export zu Lasten des Binnenmarktes),
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die Lohn-Preis-Politik (Nichtbeachtung des Leistungsprinzips, Missverhältnis zwischen Preisen und Löhnen, insbesondere durch fortgesetzte Preiserhöhungen für Konsumgüter und andere Erzeugnisse, erscheint als Widerspruch zu fortgesetzter Propagierung steigender Produktivitätskennziffern),
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die Mängel bei der bedarfs-, sortiments- und qualitätsgerechten Versorgung der Bevölkerung einschließlich der Versorgungsprobleme mit Arzneimitteln, Verbandsstoffen und medizinischen Verbrauchsmaterialien (siehe dazu auch Informationen Nr. 489/88 vom 14.11.1988) sowie im Dienstleistungsbereich.
Mit zunehmender Besorgnis erklären politisch engagierte Bürger, darunter zahlreiche langjährige Mitglieder und Funktionäre der SED sowie befreundeter Parteien, staatliche Leiter, Gewerkschaftsfunktionäre und Pädagogen, auf viele im Zusammenhang mit vorgenannten Problemen aufgeworfene Fragen nach deren Ursachen sowie immer zwingender gestellte Forderungen nach Veränderungen keine überzeugenden Antworten geben zu können.
Ihre Argumente würden bezüglich deren Glaubhaftigkeit vielfach offen angezweifelt. Sie fühlten sich in ihrer politischen Tätigkeit zunehmend alleingelassen und den Fragen der Werktätigen nicht mehr gewachsen.
Mit Nachdruck verweisen vorgenannte Personenkreise auf im eigenen Arbeits- und Freizeitbereich getroffene Feststellungen, die bei ihnen zunehmend Befürchtungen um die Stabilität der DDR und ihre weitere Entwicklungsperspektive aufkommen ließen. Dabei machen sie insbesondere auf folgende Erscheinungen aufmerksam:
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In Arbeitskollektiven sowie auf Versammlungen der SED und befreundeter Parteien sowie gesellschaftlicher Organisationen, in wissenschaftlichen Einrichtungen und an Universitäten und Hochschulen würden in Diskussionen und Meinungsäußerungen immer offener Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR und Zweifel an der Wirtschaftspolitik geäußert. Derartige Haltungen würden noch bestärkt durch die bekanntgewordenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in anderen sozialistischen Staaten. Dabei würden Forderungen nach einer realeren Gestaltung der Volkswirtschaftspläne unter stärkerer Beachtung der tatsächlich vorhandenen ökonomischen Voraussetzungen und Möglichkeiten in der DDR, nach Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft durch konsequentere Durchsetzung des Leistungsprinzips und nach grundsätzlichen Veränderungen in der bisher praktizierten Subventionspolitik einen immer breiteren Raum einnehmen. Derartige Probleme bestimmten mit steigender Tendenz auch den Inhalt der in allen Bezirken wesentlich angestiegenen Einzel- und Kollektiveingaben von Werktätigen an territoriale bzw. zentrale Partei- und Staatsorgane, an Redaktionen sowie an die Leitungen gesellschaftlicher Organisationen.
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An Umfang und Schärfe weiter zugenommen hätten kritische Meinungsäußerungen zur Informationspolitik. Sie werde – bezogen auf innenpolitische Vorgänge – in wachsendem Maße als unglaubwürdig und im Widerspruch zur tatsächlichen Lage stehend bewertet. Ständig wiederkehrendes Argument sei, es nutze niemandem, wenn in den Massenmedien der DDR ständig wiederkehrend Erfolgsbilanzen propagiert würden, die einer Überprüfung in der Praxis nicht standhielten, zumal in vielen Arbeitskollektiven der Volkswirtschaft die konkrete Lage bekannt sei, da sie täglich mit den Problemen »vor Ort« konfrontiert würden. Es sei endlich an der Zeit, eine offene Diskussion und echte Polemik zu führen, um die Schwachstellen besonders in der Volkswirtschaft und im Bereich der Versorgung aufzudecken. Man dürfe diese Problematik nicht länger den westlichen Massenmedien überlassen, da deren »Informationen« zur Wirtschaftslage bereits jetzt in erheblichem Maße die Meinung der DDR-Bevölkerung beeinflussten.
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Nachhaltig negativ beeinflusst werde das Stimmungsbild großer Teile der Bevölkerung durch von Reisen nach nichtsozialistischen Staaten, besonders der BRD und Westberlin zurückkehrende DDR-Bürger. Vor allem erstmalig derartige Reisen in Anspruch nehmende Personen ergingen sich in euphorischen Schilderungen über das Warenangebot, das Niveau der Service- und Dienstleistungen und des Verkehrswesens sowie über Zustand und Produktionsabläufe in Unternehmen und Betrieben in der BRD und in Westberlin (Hinweisen zufolge werden Besuchern aus der DDR des Öfteren Gelegenheiten zum Besuch von Betrieben und kleineren Unternehmen eingeräumt). Gleichzeitig stellten sie Vergleiche mit der Situation in der DDR auf den genannten Gebieten an und kämen häufig zu der Feststellung, dass die Leistungsfähigkeit der BRD-Wirtschaft um ein Vieles höher sei als in der DDR und dieser Rückstand auf lange Sicht nicht aufgeholt werden könne. Derartige »Berichterstattungen« lösten in Arbeitskollektiven vielfach abwertende Diskussionen über die wirtschaftliche Situation in der DDR aus und weckten Zweifel in die Richtigkeit sozialistischer Planwirtschaft. Generell sei bei großen Teilen der Bevölkerung der Drang festzustellen, um jeden Preis in den Besitz westlicher Währungen zu gelangen. Dagegen häuften sich besonders unter jenen Personenkreisen, die keine Kontakte in das nichtsozialistische Ausland unterhalten und auch nicht über westliche Zahlungsmittel verfügen, die Auffassungen, in der DDR habe sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft herausgebildet (Besitzer bzw. Nichtbesitzer von Valuta), und Nutznießer der Vorzüge unserer Gesellschaftsordnung wären immer mehr diejenigen, die am wenigsten für unseren Staat leisten.
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Festzustellen seien wachsendes Desinteresse und Gleichgültigkeit sowie ein erheblicher Rückgang in der Bereitschaft von Werktätigen in Betrieben, sich für die Bewältigung anstehender Probleme einzusetzen. Aufforderungen zur Durchführung von Sonderschichten, um entstandene Planrückstände aufzuholen, stießen zunehmend auf Ablehnung. Insgesamt seien Leistungsbereitschaft und Arbeitsmoral der Werktätigen weiter im Sinken begriffen. Das zeige sich besonders in solchen Betrieben, wo es fortgesetzt zu Störungen im Produktionsprozess kommt. Gerade in solchen Betrieben mehrten sich auch Resignationserscheinungen unter den dort tätigen mittleren leitenden Kadern. Das widerspiegele sich z. B. in solchen Auffassungen, man wolle lieber wieder als Produktionsarbeiter tätig sein, als sich ständig mit nicht lösbaren Problemen herumschlagen zu müssen und auf drängende Fragen von Arbeitern keine befriedigenden Antworten geben zu können.
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Es gebe Anzeichen dafür, dass ablehnende Haltungen zur Übernahme von Verantwortung in höheren Funktionen, nachlassende Bereitschaft zur Ausübung gesellschaftlicher Tätigkeit und Funktionen im Wachsen begriffen seien. Anlassbezogen komme es in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu spontanen Austrittserklärungen aus der SED und aus Massenorganisationen.
Im Ergebnis solcher persönlich getroffener Feststellungen und in Kenntnis vielfältiger Diskussionsinhalte kommen zahlreiche progressive Kräfte zu dem Schluss, dass sich unter größeren Teilen der Bevölkerung ein wachsender Vertrauensschwund, insbesondere in die Wirtschaftspolitik der Partei, abzeichne. Darüber hinaus verweisen sie darauf, dass viele Werktätige, insbesondere Arbeiter, anzweifeln, dass die Partei- und Staatsführung die Lage auf ökonomischem Gebiet noch voll beherrsche. Häufig werde als Ursache hierfür genannt, man lasse die politische Führungsspitze über die wirkliche Lage im Unklaren und Vieles werde begünstigt durch eine »von oben gesteuerte Erfolgspropaganda«. Außerdem machen progressive Kräfte auf solche, ihrer Meinung nach erheblich zunehmenden Diskussionen aufmerksam, in denen direkt oder indirekt zum Ausdruck gebracht werde, dass man von den derzeitig Verantwortlichen für die Wirtschaftspolitik »keine Wende zum Besseren« erwarte. (Besonders beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang das allerorts kursierende Gerücht über das Stattfinden eines Sonderparteitages der SED im Jahre 1989, auf dem angeblich umfassende personelle Veränderungen in der Parteiführung beschlossen würden.)