Gespräch von Landesbischof Leich mit Bundeskanzler Kohl in Bonn
21. Dezember 1988
Information Nr. 555/88 über ein Gespräch Landesbischofs Leich/Eisenach mit Bundeskanzler Kohl in Bonn/BRD1
Streng intern wurde dem MfS bekannt, dass Landesbischof Leich auf der am 12. Dezember 1988 stattgefundenen geschlossenen Sitzung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen über ein Gespräch mit Bundeskanzler Kohl während seines besuchsweisen Aufenthalts im Zeitraum vom 5. bis 6. Dezember 1988 in der BRD informierte, das auf Wunsch Kohls zustande gekommen sei. Dabei erklärte Leich mehrfach, dass seine Ausführungen streng vertraulich seien.
Landesbischof Leich berichtete, Kohl habe ihm gegenüber ausdrücklich den inoffiziellen Charakter dieses Informationsgespräches hervorgehoben, und beiderseits sei die Vereinbarung getroffen worden, keine schriftlichen Aufzeichnungen über das Gespräch zu fertigen.2 An dem Gespräch hätten der Chef des Bundeskanzleramtes, Schäuble, und der Vertreter der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD) beim Bundeskanzleramt, Bischof Binder, teilgenommen.
Kohl habe zu Beginn des Gesprächs über die politische und wirtschaftliche Entwicklung der BRD gesprochen. Besonders hervorgehoben habe er die »gewachsene wirtschaftliche Macht« der BRD, ohne jedoch auf die Arbeitslosenprobleme einzugehen.3
Zu den Fortschritten auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung habe sich Kohl hoffnungsvoll geäußert und betont, auch im Bereich der konventionellen Rüstung sowie beim Abbau der chemischen Waffenarsenale seien Ergebnisse möglich.
Auf die Beziehungen zwischen der BRD und der DDR eingehend, habe Kohl die Notwendigkeit betont, dass diese »geräuschlos« vonstatten gehen müssten, um in der Sache weiterzukommen. Die BRD nutze deshalb alle Möglichkeiten, um auch ohne eine Begegnung der Staatsoberhäupter die Beziehungen zwischen beiden Staaten zu verbessern. Hierin eingeschlossen seien auch die Möglichkeiten einer Einflussnahme durch die Kirchen in beiden deutschen Staaten.
Kohl habe betont, dass zwischen der BRD und der DDR bereits eine große Anzahl von Verträgen existierten, die – zusammengefasst zu einem Bündel – verstärkt mit Leben erfüllt werden müssten. Die BRD wünsche sich erstarkende ökonomische Verhältnisse in der DDR und darauf aufbauend intensive Handelsbeziehungen. Die BRD habe hohe finanzielle Leistungen zur Verbesserung der Reisemöglichkeiten der Bürger der DDR und der BRD erbracht.
Bezogen auf die juristische Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR durch die BRD habe Kohl den Eindruck, diese werde von der DDR nicht wirklich ernsthaft gefordert. Offensichtlich – so Kohl – sei sich die Führung der DDR darüber im Klaren, dass sich aus einer Anerkennung ihrer Staatsbürgerschaft auch entscheidende finanzökonomische Nachteile – u. a. im Zusammenhang mit Zollbestimmungen – ergeben würden. Die von der DDR-Führung geforderte Anerkennung verfolge das Ziel, sich ihren Bürgern gegenüber glaubhaft zu machen.
Gegenwärtig seien die innen- und außenpolitischen Ziele der DDR-Führung für die Bundesregierung nicht durchschaubar.4
Das Nichtreagieren der DDR auf äußere Einflüsse, insbesondere aus der Entwicklung in der Sowjetunion resultierend, dauerte schon eine längere Zeit an. Offensichtlich würde die DDR-Führung ihre zukünftige Politik gegenwärtig überdenken.
Die politische Lage in der DDR habe Kohl gegenüber Leich als stabil eingeschätzt. Hervorgehoben habe er die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit in Umweltfragen, besonders angesichts der Verschmutzung der Gewässer.
Unverständnis habe Kohl gezeigt, warum die DDR-Führung »so besessen darauf« sei, dass die Staatsgrenze in der Mitte der Elbe verlaufen müsse.
Kohl habe weiter geäußert, in der BRD-Regierung sei die Erkenntnis vorhanden, dass die Sowjetunion sehr an guten Beziehungen zur BRD interessiert sei. Sie wäre zur Verwirklichung ihrer umfangreichen ökonomischen Programme und Reformen auf starke Wirtschaftspartner angewiesen, welche diese Programme mitfinanzieren. Da sich Japan verweigere, konzentriere sich die Sowjetunion auf die BRD. Es sei jedoch die Frage zu stellen, ob sich die Reformpolitik durchsetzen und die jetzige Führungsspitze halten könne. Die BRD-Regierung betrachte die Nationalitätenfrage und die Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung in der Sowjetunion als sehr ernst. Deshalb müsse »das Experiment Gorbatschow« als offen betrachtet werden.5
Im weiteren Gesprächsverlauf interessierte sich Kohl für die Tätigkeit und Wirksamkeit kirchlicher Basisgruppen in der DDR.
Leich habe gegenüber Kohl erklärt, dass die Situation in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg nicht typisch für die anderen Kirchen in der DDR sei. Vielmehr sei ein Alleingang durch Bischof Forck und Generalsuperintendent Krusche zu verzeichnen. In diesem Zusammenhang habe Leich auf die in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen tätigen Basisgruppen verwiesen, welche unter Kontrolle der Kirchenleitung und den jeweilig zuständigen Gemeindekirchenräten stünden.
Leich habe in diesem Zusammenhang Kohl auf die Funktion, auf die zukünftig stärker anwachsende Bedeutsamkeit der Basisgruppen, auf die jeweiligen Inhalte ihrer Tätigkeit und sich daraus ergebende Möglichkeiten der Einflussnahme auf das gesellschaftliche und kirchliche Leben in der DDR hingewiesen.
Im abschließenden Teil des Gesprächs hätte Kohl Landesbischof Leich über die Situation in der SR Rumänien informiert. Kohl vertrete die Meinung, Ceausescu sei kein Präsident, sondern ein Psychopath. Für ihn – Kohl – sei die Reaktion Ceausescus auf das vom BRD-Außenminister Genscher unterbreitete Angebot über wirtschaftliche Hilfe für Rumänien bemerkenswert. In einem persönlichen Schreiben habe Ceausescu diese Hilfe abgelehnt und mitgeteilt, Rumänien erkläre sich aber bereit, den Arbeitslosen in der BRD Lebensmittelpakete zu übersenden.
Landesbischof Leich habe in seiner Berichterstattung auf der geschlossenen Sitzung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen abschließend hervorgehoben, dass er in dem persönlichen Gespräch bei Kohl eine Vielzahl menschlich sympathischer Züge festgestellt habe, die im Rahmen offizieller Begegnungen nicht in dem Maße sichtbar würden. Er schätze ein, dass Kohl auch zur nächsten Bundestagswahl kandidieren werde.
Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt!
Mielke [Unterschrift]