Kontakte von BRD-Politikern zu evangelischen Kirchen in der DDR
16. September 1988
Information Nr. 415/88 über beachtenswerte Aspekte zu Einreisen und dem Aufenthalt führender politischer Kräfte aus der BRD und Westberlin zu kirchenleitenden Gremien und Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen haben Einreisen und Aufenthalte führender politischer Kräfte aus der BRD und Westberlin zu kirchenleitenden Gremien und Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen.
So reisten im Zeitraum vom 1. Januar 1987 bis August 1988 insgesamt 73 führende politische Kräfte aus der BRD und Westberlin einmal oder mehrfach mit dem angegebenen Grund in die DDR ein, an kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen bzw. kirchliche Amtsträger besuchen zu wollen. (Die tatsächliche Zahl dieser Kontakte ist weit höher, da auch im Rahmen anderer angegebener Besuchsziele sowie der seitens der DDR eingeräumten großzügigen Aufenthaltsmöglichkeiten in der DDR kirchliche Veranstaltungen und Amtsträger aufgesucht werden.)
In jedem Fall kam es zu Zusammentreffen, politischen Gesprächen bzw. dem öffentlichen Auftreten der eingereisten Personen im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen.
Nachweislich wurden 48 Kontakte führender SPD-Politiker, 21 Kontakte führender CDU/CSU-Politiker, 3 Kontakte führender FDP-Politiker und 24 Kontakte führender Vertreter der Partei DIE GRÜNEN festgestellt. Einzelne Führungskräfte dieser Parteien rückten dabei besonders in das Blickfeld. Das sind:
Aus Kreisen der SPD:[Name] | Einreisen |
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Schmude, Jürgen Mitglied des Bundestages, Präses der Synode der EKD | 25 |
Schröder, Dieter leitender Mitarbeiter im Parteivorstand | 5 |
Sielaff, Horst Mitglied des Bundestages | 4 |
Eppler, Erhard Mitglied des Parteivorstandes und des Präsidiums | 4 |
Stobbe, Dietrich Mitglied des Bundestages | 3 |
Momper, Walter Mitglied des Abgeordnetenhauses Westberlin , Vorsitzender der Fraktion der SPD | 3 |
Schneider, Gerhard Mitglied des Abgeordnetenhauses Westberlin | 3 |
[Name] | Einreisen |
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Diepgen, Eberhard Regierender Bürgermeister von Berlin (West) | 6 |
Warnke, Jürgen Mitglied des Bundestages | 2 |
[Name] | Einreisen |
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Knabe, Wilhelm Mitglied des Bundestages | 6 |
Schierholz, Henning Mitglied des Bundestages | 6 |
Kunert, Jan Mitglied des Landtages Hessen | 6 |
Vollmer, Antje Mitglied des Bundestages | 4 |
Neben der Teilnahme an Kirchentagen, Synoden, Kirchenleitungssitzungen und anderen kirchlichen Veranstaltungen wurden im Rahmen der genannten Einreisen wiederholt Begegnungen mit den Bischöfen Forck, Leich, Hempel, Demke und Stier sowie mit Konsistorialpräsident Stolpe/Berlin und Propst Furian/Berlin festgestellt. Darüber hinaus kam es zu Zusammenkünften mit solchen reaktionären Amtsträgern wie dem Pfarrer Eppelmann. (Über Treffen führender Kräfte aus der BRD und Westberlin mit reaktionären kirchlichen Amtsträgern und Kräften des politischen Untergrundes in der DDR wurde durch das MfS aktuell wiederholt informiert.)
Hinsichtlich des praktizierten Vorgehens ist die Linie erkennbar, sich nicht vordergründig mit den evangelischen Kirchen in der DDR zu solidarisieren bzw. in der Öffentlichkeit Fragen oder Problemfelder zu diskutieren, sondern vorwiegend im internen Gespräch kontinuierlich und ausdauernd auf kirchliche Amtsträger im Sinne der Ostpolitik der Bonner Regierung einzuwirken.
Die zunehmende Reisetätigkeit und der intensivierte »Polittourismus« von führenden Kräften aus den etablierten Parteien der BRD und Westberlins sowie von weiteren politischen Repräsentanten zu kirchlichen Zielen in der DDR verdeutlichen den Stellenwert, den der Gegner in diesem Sinne den evangelischen Kirchen in der DDR beimisst und machen andererseits die zunehmende Absicht kirchenleitender Gremien und Kräfte in der DDR deutlich, in den politischen Dialog mit politischen Parteien der BRD und Westberlins einzutreten und sich als gesellschaftliche Kraft in der DDR zu etablieren.
Die den evangelischen Kirchen beider Staaten als ideologische Basis dienende Plattform ist dabei ihr vorgegebenes Selbstverständnis von der »Einheit Deutschlands«, der Notwendigkeit, die Grenzen zu überwinden, der Notwendigkeit »innerer Öffnung der DDR« und des Dialogs mit Andersdenkenden sowie der Notwendigkeit und »Berechtigung der Kritik« am jeweiligen System.
Deutlich werden dabei gewisse Bestrebungen gegnerischer politischer Kräfte, die evangelischen Kirchen in der DDR in das nationalistische Grundkonzept der BRD-Regierung einzubinden. Dem entsprechen Äußerungen Bonner Regierungskreise, wonach die evangelischen Kirchen in der DDR beharrlich und behutsam danach streben, zunehmend eine sogenannte Brückenfunktion zwischen Ost und West auszuüben.
Die BRD-Regierung gewinne den Eindruck, die evangelische Kirche in der DDR übernehme mit Billigung von Partei und Staat die Rolle einer »kontrollierten Opposition«, um eine »notwendige Ventilfunktion« zu erfüllen. Daher sei die BRD-Regierung auch an verstärkten Kontakten zwischen der evangelischen Kirche in Ost und West interessiert.
Führungskräfte politischer Parteien in der BRD und Westberlin sehen in den evangelischen Kirchen in der DDR solche Einrichtungen/Institutionen, die aufgrund ihrer Strukturen und des vorhandenen »Freiraumes« sowie differenzierter und breitgefächerter politischer Grundauffassungen der verschiedensten Kräfte innerhalb der Kirchen als gewichtiges politisches Potenzial in der DDR – insbesondere als politisches Oppositionspotenzial – wirksam werden können.
Deshalb ermuntern und bestärken sie ihre kirchlichen Kontaktpartner in der DDR darin, die Kirchen als schützendes Dach für antisozialistische Kräfte nutzbar zu machen und den der Kirche vom Staat eingeräumten Handlungsraum zur Unterstützung solcher Kräfte und Gruppierungen rigoros auszuschöpfen.
Das sich in den genannten Begegnungen widerspiegelnde politisch-ideologische Konzept führender BRD-Regierungskreise bezogen auf die Kirchen und religiös gebundene Kreise in der DDR besteht ferner darin, schrittweise dem erklärten Ziel näher zukommen, »die Lage der Menschen im geteilten Deutschland zu erleichtern«, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu liberalisieren.
In diesem Sinne sind immer wieder Bestrebungen erkennbar, kirchliche Amtsträger gezielt politisch zu beeinflussen, ihr »gewachsenes Selbstbewusstsein weiter zu stärken« und sie auf einen Kurs der Konfrontation gegen die Politik der SED in Kirchenfragen zu bringen.
Vorliegenden Erkenntnissen zufolge nutzten Führungskräfte aller Bundestagsparteien ihre Beziehungen zu leitenden Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR bis auf die Gemeindeebene, um sich von diesen vor Begegnungen mit Repräsentanten der DDR über innenpolitische Fragen, über die Beziehungen Staat – Kirche und über Ansichten von Bürgern der DDR zu aktuellen internationalen Problemen »unterrichten« zu lassen. Dabei sicherten sie im Einzelfall zu, Wünsche und Beschwerden der kirchlichen Kontaktpartner in Gesprächen mit staatlichen Vertretern der DDR vorbringen zu wollen. In Einzelfällen kam es nach offiziellen Gesprächen mit Repräsentanten der DDR zu einer Auswertung der Gesprächsinhalte mit kirchlichen Kräften.
Leitende Beamte der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR bezeichneten die Kontakttätigkeit zu evangelischen Kirchenkreisen wiederholt als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, weil dadurch Verbindungen zu Kreisen hergestellt würden, die nicht vollständig der »Kontrolle der Partei« unterworfen seien.
(In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass die Ständige Vertretung der BRD in der DDR seit Jahren zielgerichtet Verbindungen zu kirchenleitenden Gremien und Kräften in der DDR auszubauen und zu intensivieren versucht. Im Ergebnis dessen kam es zu einer relativ stabilen Kommunikation und zum Informationsaustausch. Leitende Beamte der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR – aber auch der Botschaft der USA und anderer Botschaften in der DDR sowie zahlreiche Vertreter westlicher Massenmedien – nehmen neben umfangreichen offiziellen Kontakten jede sich bietende Möglichkeit wahr, zeitweise unter Umgehung bestehender staatlicher Verordnungen und Auflagen, an kirchlichen Veranstaltungen aller Art teilzunehmen, um Informationen abzuschöpfen und in die BRD zu vermitteln. Damit wird von ihnen ein beachtlicher Beitrag zur Vorbereitung von bestimmten Gesprächen führender politischer Kräfte aus der BRD in der DDR geleistet.)
Nach weiter vorliegenden Hinweisen sollen kirchliche Amtsträger ermutigt werden, ihre Forderungen nach Verzicht des Staates auf »Feindbild- und Hasserziehung« an den Schulen sowie nach Anerkennung des »Rechts« auf Wehrdienstverweigerung und auf Chancengleichheit für christliche Bürger gegenüber der Partei- und Staatsführung noch nachdrücklicher vorzubringen.
Gleichzeitig wird beabsichtigt, den Einfluss realistisch denkender Kräfte in den evangelischen Kirchenleitungen der DDR zurückzudrängen und diejenigen kirchlichen Amtsträger verstärkt zu unterstützen, die den vom Staat gewährten »Freiraum« für das Wirksamwerden »Andersdenkender« sowie oppositioneller Gruppen bzw. Personen zur Verfügung halten.
Die Intensivierung der Kontakte führender politischer Kräfte aus der BRD zu kirchlichen Amtsträgern in der DDR sowie die streng intern bekannt gewordenen Gesprächsinhalte lassen den Schluss zu, dass die evangelischen Kirchen in der DDR von diesen zunehmend als politische Institution profiliert und einzelne kirchliche Personen kontinuierlich politisch aufgewertet werden sollen.
Das verdeutlichen u. a. Inhalt und Charakter von Treffen des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe »Deutschlandpolitik« der CDU, Lintner, sowie der Bundestagsabgeordneten der CDU, Scharrenbroich und Schreiber, mit dem hinlänglich bekannten Pfarrer Eppelmann, in welchen u. a. folgende Komplexe behandelt wurden:
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die deutsche Zukunft mit der Zielstellung der Erarbeitung eines gemeinsamen Memorandums der sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung in der DDR und der CDU/CSU,
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Aufnahme und Weiterführung von Gesprächen der sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung in der DDR mit der CDU/CSU und Darstellung von Positionen bestimmter Vertreter der evangelischen Kirchen in der DDR auf der Grundlage des von feindlich-negativen Kräften erarbeiteten Pamphletes »Absage an Geist und Logik der Abgrenzung«,
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mögliche Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg und anzustellende Überlegungen, wie sich die Parteien in der BRD und die Bundesregierung einsetzen könnten zur Förderung von »Gemeinsamkeiten« auf der Grundlage des KSZE-Prozesses,
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gemeinsame Bemühungen zur schrittweisen Aufhebung von Reise- und Kontaktbeschränkungen für ehemalige DDR-Bürger, zur Teilnahme »nichtoffizieller und unabhängiger« Personen aus der DDR an Konferenzen und Seminaren in der BRD.
Auch pragmatisch gemäßigte Kräfte der CDU unterstützen das diesbezügliche Vorgehen. Sie sehen in der zunehmenden Reisetätigkeit sowie in der Intensivierung von Kontakten zu kirchenleitenden Gremien und Kräften in der DDR Wirkungsmöglichkeiten hinsichtlich der Festigung und Durchsetzung des Gedankens von der »Einheit der Nation«.
Insgesamt werden weitgehend einheitliche Auffassungen vertreten, die evangelischen Kirchen in der DDR als politische Kraft im Sinne einer »grenzüberschreitenden Kirche« oder einer »besonderen Gemeinschaft der Christen in Deutschland« anzusehen.
Davon ausgehend werden durch die unterschiedlichen politischen Parteien der BRD und Westberlins differenzierte und modifizierte Positionen deutlich.
Festzustellen ist, dass sich Kontakte von Politikern der CDU/CSU – aber auch der anderen Parteien – besonders häufen bei bedeutsamen gesellschaftlichen oder kirchenpolitischen Ereignissen in der DDR sowie in Phasen der Belastung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Dabei werden seitens der BRD-Politiker derartige Zusammentreffen nicht nur zur Abschöpfung von Informationen, sondern auch zur Instruierung und Orientierung ihrer Kontaktpartner in der DDR sowie zur ausführlichen Darlegung der Grundzüge der Politik der CDU/CSU genutzt.
Streng internen Hinweisen zufolge werde von führenden Politikern der CDU in Übereinstimmung mit leitenden Kirchenkreisen der BRD und Westberlins die Linie verfolgt, die »Freiräume« und der Dialog, der sich in den zurückliegenden Jahren zwischen Staat und Kirche in der DDR entwickelt habe, dürften nicht durch direkte Einflussnahme von außen bzw. durch ein offensichtliches Hineinwirken in die Beziehungen DDR – Kirche gefährdet werden. Die »Verantwortung« der CDU für die DDR-Kirchen solle deshalb vor allem in persönlichen Kontakten bis hin zu Gemeindemitgliedern wahrgenommen werden. Der weiteren Unterstützung der Kirchen in der DDR durch die BRD im Zusammenwirken mit der »EKD«/BRD durch die seit Jahrzehnten praktizierte Methode der Zurverfügungstellung finanzieller Mittel solle weiterhin größte Aufmerksamkeit gewidmet werden.
In diesem Sinne verhielten sich u. a. die Bundesministerin für »innerdeutsche Beziehungen« der BRD, Wilms, und ihre Begleitung während eines Gesprächs im Evangelischen Konsistorium mit Vertretern der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin- Brandenburg am 21. Januar 1988 zurückhaltend.
Sie ließen sich im Detail über die Vorkommnisse am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, insbesondere den chronologischen Ablauf des Eingreifens der zuständigen Organe, informieren. Sie interessierten sich ferner für die Übersiedlungsproblematik und die konkrete Situation in den evangelischen Kirchengemeinden. Die Antworten der Wilms beinhalteten Erklärungen zum praktizierten politischen Konzept der BRD-Regierung, insbesondere zur allgemeinen Durchsetzung humanitärer Fragen sowie die Feststellung, über ihre Begegnungen der Bundesregierung Bericht zu erstatten.
Diese Linie wurde auch deutlich in den Begegnungen von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses Westberlin und des Regierenden Bürgermeisters von Westberlin, Diepgen, mit kirchenleitenden Personen in der DDR.
Intern vorliegende Erkenntnisse beinhalten die Orientierung maßgeblicher Kreise der Westberliner CDU, mit Zurückhaltung, aber mit Beständigkeit auf aktuelle Probleme zwischen Staat und Kirche in der DDR zu reagieren; es sei nicht auszuschließen, dass westliche Regierungsparteien ähnliche Kontroversen mit den eigenen Kirchen bekommen könnten. Die Westberliner CDU müsse sich deshalb den notwendigen argumentativen Spielraum für nicht auszuschließende Konfrontationen erhalten. Es werde angestrebt, bestehende Kontakte zur Evangelischen Landeskirche in Berlin-Brandenburg zu intensivieren, um die historisch bedingten Gemeinsamkeiten fortzuführen.
SPD-Führungskreise unterhalten seit Langem traditionell enge Kontakte zu leitenden Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR, die nach der Publizierung des gemeinsamen Dokuments »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«1 an Umfang und Intensität zunahmen.
Grundsätzlich wird in den Gesprächen zwischen führenden SPD-Kräften und kirchenleitenden Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR die Übereinstimmung mit der Linie der Bonner Regierung deutlich. Inhalte der Gespräche und des öffentlichen Auftretens lassen jedoch eine bestimmte Zweigleisigkeit erkennen, die neben Treffen mit Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens in der DDR auf parallele Kontakte mit maßgeblichen kirchlichen Amtsträgern und Vertretern der sogenannten Basisgruppen in der DDR abzielt. Dabei wird im Interesse des Dialogs mit der SED auf ein »behutsames« Vorgehen gegenüber diesen Kreisen orientiert. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Rau umriss dieses Konzept mit den Worten, dass Begegnungen mit Persönlichkeiten des christlichen Lebens in der DDR Einfluss auf die Entwicklung einer friedenspolitischen, in Gruppen und kleineren Kreisen geführten Arbeit als auch des christlichen Glaubensbekenntnisses ausüben. Er hält es deshalb bei der künftigen Orientierung der christlichen und Friedensarbeitskreise in der DDR für angebracht, die »Freiräume auszuloten«, die sich aus der Öffnung der Kirchenpolitik der DDR ergeben würden.
Internen Hinweisen zufolge äußerte sich Johannes Rau im Anschluss an seinen privaten Besuch vom 24. bis 26. Oktober 1987 in der DDR, in dessen Rahmen er auch Gespräche mit Kirchenvertretern im Pfarrhaus Basedow/Malchin und am Weiterbildungsseminar der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in Güstrow führte, befriedigt über den Ausbau der Kontakte zu dieser Landeskirche. In diesem Zusammenhang erklärte Rau, er betrachte seinen Vortrag zum »Versöhnungsgedanken« als christliche Basis. Damit wolle er einen persönlichen Beitrag als praktizierender Christ wie auch als Politiker für die Menschen in der DDR leisten. Es gelte nicht, im Versöhnungsgedanken nur politische Differenzen zu überwinden, sondern im Sinne christlicher Nächstenliebe eine breite Basis des gegenseitigen Verständnisses und Verstehens gemeinsamer Ausgangspunkte zu schaffen. Rau begrüßte die Öffnung politischer Stellen der DDR für einen größeren »Freiraum« der Christen in der DDR, was seinen Ausdruck auch in sinnvollen Organisationsformen finden müsste.
Davon ausgehend unterstützte Rau das Anliegen der Arbeitsgruppe »Frieden« der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, das Bedingungen zur Zusammenarbeit erörterte. Es müssten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, Menschen beider deutscher Staaten im Sinne christlichen Glaubens zusammenzuführen und sie über Probleme offen sprechen zu lassen. Rau orientierte, über die Kontakte mit den Landeskirchenleitungen hinausgehend seien persönliche Gespräche mit Christen in der DDR notwendig, wobei in Konfliktfragen auch mit dem Gewicht der Ämter der BRD-Politiker und deren ökonomischen Mitteln Hilfe gegeben werden könne. BRD-Politiker könnten in besonderen »Härtefällen« als Vermittler zwischen Gemeinden und amtlichen Stellen wirken.
Ausdruck des taktischen Vorgehens sind auch die Auftritte der SPD-Spitzenpolitiker Eppler, Bahr und Schmidt auf den Kirchentagen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen (Erfurt), der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs (Rostock) und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (Halle).
Mit der Präsens und dem Auftreten führender SPD-Politiker während der Kirchentage wurde die bisher breiteste und direkteste Darstellung von Positionen der SPD vor einer größeren kirchlichen Öffentlichkeit in der DDR erreicht. Es war die Absicht erkennbar, das gemeinsame Dokument SED – SPD langfristig als Handlungsgrundlage zu nutzen, um die Einflussmöglichkeiten unter der DDR-Bevölkerung zu verbreitern und eine Forcierung der Kontaktpolitik sowohl zu leitenden kirchlichen Amtsträgern als auch zu politisch negativen Geistlichen und Vertretern sogenannter Basisgruppen zu rechtfertigen.
Insbesondere im Rahmen der Kirchentage in der DDR 1988 wurde deutlich, dass das Dokument sowohl von SPD-Politikern als auch von bestimmten kirchenleitenden Personen in der DDR als innenpolitisches Instrument zur Dialogführung betrachtet und als ein geeignetes Mittel angesehen wird, um mit dem Staat einen ständigen Dialog »zu ungelösten Fragen« zu führen. Die Anwendung dieses Dokuments als ein Instrument in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat wird insbesondere von SPD-Mitgliedern in kirchenleitenden Funktionen empfohlen. Ihre Einreisen in die DDR – u. a. zu den Kirchentagen – waren von diesen Bestrebungen gekennzeichnet.
Mehrheitlich wurden von den SPD-Politikern in ihrem öffentlichkeitswirksamen Auftreten während der Kirchentage neben der Betonung der gemeinsamen Friedensverantwortung der Christen in beiden deutschen Staaten Themen aufgegriffen wie die Notwendigkeit des Dialoges zwischen Marxisten und Christen in der DDR, die Übersiedlungsproblematik oder Umweltschutzfragen.
Eine weitere Tendenz gezielter Einflussnahme durch führende SPD-Vertreter manifestiert sich in intensiven Kontakten zu bestimmten Amtsträgern der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg sowie zu hinlänglich bekannten Kräften des politischen Untergrundes in der DDR.
So verdeutlichen z. B. die seit Dezember 1987 (nach den Vorgängen um die Zionskirche Berlin Ende November 1987)2 erfolgten Einreisen von Schmude und des SPD-Bundestagsabgeordneten Horst Sielaff in die Hauptstadt der DDR sowie ihre Teilnahme an Zusammenkünften und Veranstaltungen diese Intensität. (Schmude und Sielaff trafen sich mehrfach sowohl mit bestimmten Amtsträgern der Kirchenleitung als auch mit hinlänglich bekannten Kräften wie Pfarrer Eppelmann.)
Im Vordergrund der Gespräche standen neben einem intensiven Informationsaustausch und einer Bewertung der aktuellen politischen Lage Diskussionen über das gemeinsame Dokument SED – SPD.
Mit der Aufhebung des zeitweiligen Versagens der Einreise in die DDR für Mitglieder der Bundestagsfraktion DIE GRÜNEN in die DDR (ab Herbst 1984) war eine unmittelbare zielgerichtete Reisetätigkeit vor allem von antikommunistischen Kräften der Grünen zu hinlänglich bekannten feindlich-negativen Kräften in der DDR sowie zu kirchenleitenden Kräften und Gremien besonders der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg verbunden. Obwohl in diesem Jahr eine rückläufige Tendenz bei den Einreisen zu beobachten ist, gehen führende Kräfte der GRÜNEN nach wie vor davon aus, dass das Potenzial der Kirche in der DDR einen gleichberechtigten kompetenten Gesprächspartner darstellt.
Erkennbare Ziele bzw. Gesprächsinhalte waren u. a.:
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Festigung von Kontakten mit der erklärten Absicht, die sogenannte deutsche Frage in den Mittelpunkt »gemeinsamer Friedensarbeit« zu stellen,
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Herstellung stabiler Dialogbeziehungen zur Erörterung einer »deutschlandpolitischen« Konzeption,
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Sondierung von Möglichkeiten des »kooperativen Zusammenwirkens« mit der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg,
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Abbau kritischer Haltungen kirchenleitender Kräfte gegenüber den alternativen bzw. Basisgruppen mit der Absicht, diesen Gruppierungen im kirchlichen Raum stärkere Wirkungsmöglichkeiten einzuräumen,
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Versuche, die Menschenrechts- und Ökologieproblematik zum Bestandteil des Wirkens kirchlicher Basisgruppen gegen die Politik der DDR zu machen.
Besonders deutlich wurden diese Gesprächsinhalte während Begegnungen von kirchenleitenden Kräften mit Mitgliedern (bzw. ehemaligen Mitgliedern) der Bundestagsfraktion bzw. des Westberliner Abgeordnetenhauses wie Beckmann, Schierholz, Schneider, Schnappertz, Kelly, Knabe, Bastian.
Einen bedeutenden Stellenwert in der Politisierung der evangelischen Kirchen in der DDR nehmen die Einreisen kirchenleitender Amtsträger der »EKD«/BRD in die DDR ein. (Nachweislich wurden vom Januar 1987 bis zur Gegenwart ca. 250 Einreisen festgestellt.) In der Vielzahl der Begegnungen und Zusammenkünfte von Vertretern kirchenleitender Gremien beider Seiten werden die fortgesetzten Aktivitäten deutlich, gemeinsame Standpunkte und Positionen zu bedeutsamen kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Ereignissen zu erarbeiten und z. T. auch zu veröffentlichen sowie die kirchliche Partnerschaftsarbeit zwischen Kirchengemeinden bzw. innerkirchlichen Zusammenschlüssen der BRD und der DDR zu intensivieren.
Zustimmend aufgenommen wurden von bestimmten evangelischen kirchenleitenden Kräften in der BRD und in der DDR internen Hinweisen zufolge die besonders in jüngster Zeit festgestellten Bestrebungen von BRD-Kommunalpolitikern, die Kirchen – unter Missbrauch entsprechender Abkommen und Vereinbarungen – in die Städtepartnerschaftsbeziehungen mit einzubinden mit dem Ziel, Kontakte als wichtigstes Element praktizierter »Deutschlandpolitik« zu nutzen, um auch religiös gebundenen Bürgern beider deutscher Staaten Gelegenheit für unkontrollierbare persönliche Begegnungen zu ermöglichen.
Das Vorgehen führender BRD-Kreise und bestimmter Kirchenkreise der BRD in Umsetzung ihres strategischen Konzepts hat bei einer Anzahl kirchenleitender Personen, kirchlicher Mitarbeiter und Laien Wirkungen hinterlassen. Das widerspiegelt sich im konkreten praktischen Verhalten einer Reihe kirchenleitender Amtsträger – insbesondere hinsichtlich der Orientierung auf eine Politisierung der evangelischen Kirchen in der DDR, der beharrlichen Forderung nach gesellschaftlicher Mitsprache und Ausübung ihres vorgegebenen Wächteramtes, der Unterstützung negativer Elemente – sowie in Beschlüssen kirchenleitender Gremien und kirchenpolitischen Konzeptionen solcher reaktionärer Amtsträger wie Pfarrer Schorlemmer und Propst Falcke.
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Mielke [Unterschrift]