Lesereise von Günter Grass durch die DDR (April 1988)
2. Mai 1988
Information Nr. 219/88 über die Lesereise des BRD-Schriftstellers Günter Grass in der Zeit vom 18. bis 24. April 1988 in der DDR
Der BRD-Schriftsteller Günter Grass hielt sich in der Zeit vom 18. bis 24. April 1988 auf Einladung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt (Provinzialpfarrer Tschiche/Samswegen/Magdeburg) und des Kunstdienstes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen (Oberpfarrer Dr. Lehmann/Cospeda/Jena) zu Lesungen in mehreren Städten der DDR auf.1
(Zur Durchführung der Veranstaltungen lag die Zustimmung des Staatssekretariats für Kirchenfragen und des Ministeriums für Kultur der DDR vor.)
In vier Veranstaltungen zum Thema »Christen hören die Stimmen der Künstler unserer Zeit« las Grass entsprechend der Vereinbarungen aus seinen Büchern »Die Rättin« und »Die Blechtrommel« sowie aus seinem Manuskript »Kalkuttagedicht«.
Die Veranstaltungen fanden ausschließlich in kirchlichen Einrichtungen statt; im Magdeburger Dom vor ca. 700 Personen, in der St. Moritz-Kirche Halle vor ca. 750 Personen, im Augustiner-Kloster in Erfurt vor ca. 800 Personen und in der Stadtkirche in Jena vor 750 Personen.
In der Stadtkirche in Jena stellte Grass im Zeitraum seiner Lesung außerdem 30 selbst gefertigte Illustrationen sowie drei Selbstbildnisse vor.
Alle Veranstaltungen verliefen ohne Vorkommnisse. Sie wurden nicht wesentlich öffentlichkeitswirksam und beeinträchtigten nicht die öffentliche Ordnung und Sicherheit.
Obwohl die Lesungen nur im kirchlichen Rahmen mündlich angekündigt worden waren, erreichten sie die erwähnten hohen Besucherzahlen, die z. T. auch die Erwartungen der Veranstalter übertrafen. So musste die Veranstaltung in Halle aufgrund der Anzahl der erschienenen Personen kurzfristig vom ursprünglich geplanten Raum in der Stadtmission Halle in die katholische St. Moritz-Kirche verlegt werden.
Teilnehmer der Veranstaltungen waren – nach vorliegenden internen Hinweisen – Personen aller Altersgruppen, überwiegend jedoch Jungerwachsene, darunter Studenten; außerdem wurden Kunst- und Kulturschaffende sowie kirchliche Amtsträger festgestellt (in Erfurt z. B. Propst Falcke).
Während der Veranstaltung in Halle befanden sich Mitglieder hinlänglich bekannter feindlich-negativer Gruppierungen (wie »Frauenfriedenskreis« Halle, Arbeitskreis »Christliche Mediziner in sozialer Verantwortung«) sowie einzelne hinlänglich bekannte Personen, die in der Vergangenheit mit feindlich-negativen Aktivitäten in Erscheinung getreten waren (Frank und Katrin Eigenfeld, Friedrich Schorlemmer), unter den Anwesenden. Von ihnen gingen keine Aktivitäten aus.
Zu den Veranstaltungsorten waren jeweils zahlreiche Teilnehmer aus angrenzenden Kreisen und anderen Bezirken angereist.
Die Lesungen von Grass aus seinen Werken lösten insgesamt nur wenig Resonanz aus.
Programmgemäß beantwortete Grass im Anschluss an die Lesungen Fragen von Teilnehmern. Inhaltlich waren die gestellten Fragen vornehmlich auf sein literarisches Wirken, auf seine Haltung zur Politik der weiteren Abrüstung und Rüstungsbegrenzung, auf sein politisches Engagement in der BRD und auf seine politische Tätigkeit als Mitglied der SPD gerichtet. Außerdem wurde er nach seiner Meinung gefragt, inwieweit für Schriftsteller beider deutscher Staaten Möglichkeiten der Einflussnahme auf ihre Regierungen zur Friedenssicherung bestünden und wie er die Politik der KPdSU einschätze.
Grass beantwortete die an ihn gerichteten Fragen überwiegend undifferenziert und allgemein und war um Vermeidung von Konfrontation zu politischen Fragestellungen bemüht. Seine Antworten beinhalteten keine Angriffe gegen die Politik von Partei und Regierung der DDR.
In seinen Antworten unterstellte Grass undifferenziert den Staaten beider Gesellschaftssysteme die Schuld am Hunger in der 3. Welt, an der Zerstörung der Umwelt und am Zerfall von Kulturstätten.
Er begrüßte die Haltung der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten hinsichtlich ihrer offensiven und praktischen Schritte zur nuklearen Abrüstung und Rüstungsbegrenzung. Grass forderte in diesem Zusammenhang zur Unterstützung der Politik des Genossen Gorbatschow auf.
Für die DDR – so formulierte Grass – hoffe er, dass sich ein analoger Prozess der Umgestaltung wie in der UdSSR vollziehe.
Grass vertrat ferner die These vom Fortbestehen einer einheitlichen deutschen Kulturnation und leitete daraus die Verantwortung der Schriftsteller beider deutscher Staaten für die Entwicklung des Dialogs ab.
Bezug nehmend auf in der BRD lebende ehemalige DDR-Schriftsteller betonte Grass, deren literarische Produkte würden den Lesern in der DDR vorenthalten. Beispielhaft nannte er Erich Loest, der in der DDR zu Freiheitsentzug verurteilt worden war; dieses »Unrecht« müsse rehabilitiert werden. Generell trat Grass für die Anerkennung der ehemaligen DDR-Schriftsteller ein, unter dem Aspekt, dass beide deutsche Staaten einen gemeinsamen Kulturbegriff hätten.
Grass erwähnte auf eine diesbezügliche Frage, er werde sich gemeinsam mit dem Schriftsteller Jurek Becker am Wahlkampf der SPD in Schleswig-Holstein/BRD beteiligen.
Auf Anfrage, ob er bereit sei, die im kirchlichen Raum wirkende sogenannte Initiative »Hoffnung Nicaragua« durch Spende einer Illustration aus seiner Ausstellung zum Zweck der Versteigerung zu unterstützen, äußerte er sich zustimmend.
Internen Hinweisen zufolge blieben die Veranstaltungen unter den Erwartungen von Anwesenden, die mehr Raum für Fragestellungen erhofft hätten.
Grass hatte, nach vorliegenden internen Hinweisen, nach Abschluss der Veranstaltungen in kirchlichen Räumen (u. a. Kreispfarrstelle des Katholischen Dienstes, Stadtmission u. ä.) Treffen mit Organisatoren der Lesungen (u. a. mit den Pfarrern Schorlemmer und Tschiche) und weiteren kirchlichen Amtsträgern.
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