Meinungen der Bevölkerung zur 6. Tagung des SED-Zentralkomitees
4. Juli 1988
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung auf die 6. Tagung des ZK der SED [Bericht O/204]
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge wurde die 6. Tagung des ZK der SED1 vor allem von politisch progressiven Bürgern mit Interesse verfolgt.
Im Mittelpunkt der Meinungsäußerungen stehen Reaktionen zu den im Bericht des Politbüros an die Tagung getroffenen Aussagen zur außenpolitischen Lageentwicklung und zu innenpolitischen Fragen.
In den Meinungsäußerungen wird übereinstimmend der auf die Erhaltung des Friedens, die Weiterführung der Abrüstung sowie Entspannung gerichteten Politik der Partei uneingeschränkt und abstrichlos zugestimmt. Eng damit im Zusammenhang steht eine Vielzahl von Meinungsäußerungen zum Verlauf und zu den Ergebnissen des Moskauer Gipfeltreffens zwischen dem Generalsekretär des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow, und dem Präsidenten der USA, Reagan.
Das Zustandekommen und die erreichten Ergebnisse des Gipfels seien – so wird immer wieder hervorgehoben – ein bedeutender Erfolg der konstruktiven und konsequenten Anwendung des neuen Denkens durch die Sowjetunion auf die Gestaltung und Entwicklung der außenpolitischen Beziehungen. Die Sowjetunion habe sich mit großer Flexibilität im Interesse der Fortsetzung des politischen Dialogs mit den USA auf die sich verändernden Bedingungen und Vorstellungen eingestellt. Mit besonderer Achtung und Wertschätzung wird in diesem Zusammenhang vom persönlichen Beitrag des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow, gesprochen.
Das Inkrafttreten des INF-Vertrages zwischen der UdSSR und den USA2 wird als sichtbarer Ausdruck der Wende zum Besseren in den Beziehungen beider Staaten und zugleich als das bedeutsamste Ergebnis des Moskauer Gipfels überhaupt bewertet. Damit sei, so argumentieren sich in diesem Sinne äußernde Personen, der Einstieg in die nukleare Abrüstung eingeleitet worden. Darüber hinaus erhoffe man sich von der sich abzeichnenden Kontinuität und Stabilität in den Beziehungen zwischen den beiden Großmächten UdSSR und USA positive Wirkungen auf die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Staaten Europas.
Dennoch wird auch immer wieder skeptisch die Frage nach der Berechenbarkeit und dem vertrauensbildenden Charakter der Politik der USA-Regierung gestellt.
Zu beachten sei auch, dass sich bereits im Vorfeld des Moskauer Gipfeltreffens gezeigt habe, dass einflussreiche politische Kreise in den USA und den anderen NATO-Staaten an der sich anbahnenden Wende zum Besseren in der Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden Großmächten nicht interessiert sind. Es sei darum nicht auszuschließen, dass der Nachfolger des USA-Präsidenten, Reagan, diesen eingeschlagenen Kurs nicht weiter verfolgen wird.
Arbeiter, Angestellte und Leitungskader in volkswirtschaftlichen Schwerpunktbetrieben, Angehörige der wissenschaftlich-technischen und pädagogischen Intelligenz sowie Werktätige aus dem Bereich Verkehrswesen verurteilen die Ausführungen des USA-Präsidenten, Reagan, in Moskau über angebliche Menschenrechtsfragen in der UdSSR.
Es sei der Eindruck entstanden, Reagan wolle die Atmosphäre der sachlichen Gespräche und Verhandlungen stören und von den Fragen der Abrüstung und Entspannung ablenken.
Die ihm eingeräumte Möglichkeit des offiziellen Zusammentreffens mit Dissidenten rufe z. T., so äußerten sich darüber hinaus Mitarbeiter staatlicher Organe, Juristen und gesellschaftswissenschaftlich tätige Personen, Unsicherheiten bei der politischen Einordnung dieser Kräfte und des staatlichen Umgangs mit ihnen hervor.
Es werden Fragen gestellt, ob diese Personenkreise dadurch künftig gegenüber staatlichen Maßnahmen tabu seien und inwieweit diese Vorgänge auch Wirkungen haben werden auf oppositionelle Kräfte im Innern der DDR. Mehrfach interpretierten o. g. Personenkreise diese Politik als Zeichen gewachsener innerer Stärke der KPdSU.
Kirchliche Amtsträger, darunter Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, beurteilen das Treffen Reagans mit den Dissidenten als demonstrative, politisch unkluge Handlung. Die Weltöffentlichkeit habe sich davon überzeugen können, dass diese Personen keine echte politische Opposition darstellten. Reagan habe sich für eine Sache engagiert, die in keinem Verhältnis zum eigentlichen Anliegen des Gipfeltreffens stehe.
Mit Stolz und Genugtuung verweist in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Bürgern auf den anerkannten Beitrag der DDR im Entspannungsprozess durch die unter Führung der SED erfolgende Dialogpolitik, vor allem mit der BRD, und die konsequente Unterstützung aller auf Entspannung und Abrüstung gerichteten politischen Aktivitäten.
Besonders gewürdigt werden in diesem Zusammenhang die Initiierung und Durchführung des Internationalen Treffens für kernwaffenfreie Zonen vom 20.6. bis 22.6.1988 in Berlin. (Vgl. Hinweise der ZAIG über Reaktionen der Bevölkerung auf das Internationale Treffen für kernwaffenfreie Zonen vom 27. Juni 1988. Bericht O/203)
Vereinzelt wird von progressiven Kräften, darunter auch ältere Mitglieder der SED, mit Hinweis auf die im Bericht getroffenen Aussagen zu den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD die Frage nach der Aktualität und Gültigkeit der Geraer Forderungen des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Honecker, zur Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR und Auflösung der Erfassungsstelle in Salzgitter durch die BRD gestellt. Im Bericht des ZK der SED an die 6. Tagung werde lediglich auf die ausstehende Regelung zur Elbgrenze verwiesen.
In einem breiten Meinungsspektrum äußern sich positive Kräfte aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen zum innenpolitischen Teil des Berichtes an die 6. Tagung. Dabei prägen kritisch gehaltene Diskussionen und Meinungsäußerungen zur Einschätzung des erreichten Standes der planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft und der Versorgung der Bevölkerung das Stimmungsbild. Grundtenor der Diskussionen von Arbeitern, Angestellten sowie Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der Industrie, der Landwirtschaft und aus dem Bereich Verkehrswesen, von Mitarbeitern staatlicher Organe und Angehörigen der medizinischen Intelligenz ist die Meinung, die reale, täglich erlebbare Lage in der Volkswirtschaft spiegele sich nicht objektiv im Bericht an die 6. Tagung wider. Bestehende Erwartungshaltungen zu einer kritischeren Einschätzung der Situation in der Volkswirtschaft, im Dienstleistungswesen und im Bereich Handel und Versorgung mit zukunftsorientierenden Lösungswegen seien nicht erfüllt worden.
Vermisst werden darüber hinaus Stellungnahmen bzw. Wertungen zu innenpolitischen Problemen, die anlassbezogen immer wieder Gegenstand von Diskussionen unter der Bevölkerung sind. Dabei verweisen u. a. Mitarbeiter staatlicher Organe und Studenten an Hoch- und Fachschulen beispielhaft auf die Ausreiseproblematik, Aktivitäten oppositioneller Kräfte in der DDR und negative Erscheinungen unter jugendlichen Personenkreisen.
Vielfach wird in diesem Zusammenhang – und in zunehmendem Maße auch von progressiven Kräften – die Meinung vertreten, zum Teil auch die Forderung erhoben, die Partei- und Staatsführung der DDR dürfe – bei aller Unterstützung ihres außenpolitischen Engagements – den Blick für innenpolitische Probleme nicht verlieren. Sich in diesem Sinne äußernde Personen verweisen mit Besorgnis darauf, dass von der Partei z. T. mehrfach gegebene Orientierungen zur Bewältigung einer Reihe von die Menschen seit Langem bewegenden Fragen nur schleppend bzw. für die Werktätigen nicht ausreichend spürbar umgesetzt worden sind.
Genossenschaftsbauern und leitende Kader landwirtschaftlicher Betriebe vertreten in diesem Zusammenhang – auch unter Bezugnahme auf die 6. Tagung des ZK der SED – die Auffassung, die Partei habe ihr Versprechen zur Stabilisierung der Ersatzteilversorgung in der Landwirtschaft und der Ausstattung mit neuer Technik nicht gehalten. Der geplante Einsatz von Computern in der Landwirtschaft sei ihrer Meinung nach nur Agitation. Damit könne man die Probleme mit der Landtechnik nicht lösen.
Der statistisch ausgewiesene Leistungsanstieg in der Mehrheit der Betriebe und Einrichtungen schlage sich nicht nieder in einer Verbesserung der Bedingungen für eine planmäßige, qualitäts- und quantitätsmäßige Absicherung der Produktion. Daraus seien in breiter gewordenem Umfang, so schätzen u. a. Leitungskader der Volkswirtschaft und Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in Großbetrieben ein, skeptische bis hin zu zweifelnden Auffassungen über die Leistungskraft der Volkswirtschaft und ihre dynamische Entwicklung erwachsen. Täglich erlebbare Störungen und Hemmnisse im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich – genannt werden dabei immer wieder das Ausstattungsniveau mit Maschinen und Anlagen, die Situation in der Ersatzteilversorgung, diskontinuierlich ablaufende Produktionsprozesse – beeinflussen maßgeblich die Meinungsbildung zum erreichten Stand der Umsetzung der Politik der Hauptaufgabe.
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang die Forderung erhoben, öffentlich und kritischer Mängel, Versäumnisse und ihre Ursachen anzusprechen bzw. sie begünstigende Faktoren zu erläutern und Wege zur Veränderung der Situation aufzuzeigen. Diese Erwartungen seien von der 6. Tagung des ZK der SED nicht erfüllt worden. Man sei, in diesem Sinne äußerten sich u. a. Arbeiter und Angestellte in Schwerpunktbetrieben der Industrie und Landwirtschaft, Angehörige der Intelligenz aus den Bereichen Pädagogik, Wissenschaft/Technik und Medizin sowie Mitarbeiter staatlicher Organe, z. T. über die bloße Feststellung von Tatsachen nicht hinausgekommen.
So könne z. B. der Hinweis im Bericht des Politbüros, es wären in der Vergangenheit Versorgungslücken entstanden, die auf Lieferrückstände an den Binnenhandel zurückzuführen sind, allein nicht befriedigen.
Angehörige der medizinischen Intelligenz und mittlere medizinische Personale stimmen der Einschätzung zum Stand der Vervollkommnung des Gesundheitswesens in der DDR nur bedingt zu. Sie empfinden es als unverständlich, dass im Bericht die angespannte Versorgungslage mit medizinischem Verbrauchsmaterial und medizinisch-technischen Geräten nicht erwähnt wird.
Journalistisch tätige und andere gesellschaftlich engagierte Personen nehmen in ihren Diskussionen Bezug auf die im Bericht getroffene Feststellung, dass der Umschwung in der Strategie des Gegners zu einer neuen ideologischen Offensive gegen des Sozialismus geführt habe. In der propagandistischen Arbeit müsse man sich darum einstellen auf zielgerichtete Angriffe des Gegners, vor allem zu Fragen der Grundrechte der Bürger im Sozialismus, der Meinungs-, Demonstrations- und Gesinnungsfreiheit. In diesem Sinne müsste auch der offensive Charakter der Beiträge in den Medien der DDR stärker ausgeprägt werden. Mit Hinweis u. a. auf die Ausreiseproblematik vertreten sie die Auffassung, dass es keine »Tabu-Themen« geben dürfe.
Vielfach wird von den sich in diesem Sinne äußernden Personen Interesse bekundet zum Umgestaltungsprozess in der Sowjetunion und politischen Veränderungen in der ČSSR und der UVR und werden Parallelen zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR gezogen. Ein offenes, kritisches Ansprechen vorhandener Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung wird dabei als Zeichen innerer Stärke der Partei angesehen.
Angehörige der medizinischen und pädagogischen Intelligenz, Wissenschaftler in Lehre und Forschung, Mitarbeiter staatlicher Organe zentraler und territorialer Ebene sowie Leitungs- und mittlere leitende Kader der Volkswirtschaft bringen ihre Erwartung zum Ausdruck, dass über die Reformprozesse in anderen sozialistischen Ländern, vor allem in der Sowjetunion, in den Medien der DDR komplexer berichtet werde. Der Abdruck einzelner Artikel bzw. Materialien in den Tageszeitungen ohne politische Wertung und Einordnung erwecke den Eindruck von Unsicherheit in der Bewertung dieser Vorgänge durch die SED.