Meinungen der Bevölkerung zur 7. Tagung des SED-Zentralkomitees
13. Dezember 1988
Erste Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die 7. Tagung des ZK der SED [Bericht O/212]
Vorliegenden ersten Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge wurde die 7. Tagung des ZK der SED1 hauptsächlich von progressiven und politisch engagierten Bürgern, darunter Angehörige der wissenschaftlich-technischen und pädagogischen Intelligenz, Arbeiter und Angestellte in Großbetrieben verschiedener Bereiche der Volkswirtschaft sowie Mitarbeiter staatlicher Organe zentraler und territorialer Ebene, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.
Im Mittelpunkt des Interesses stehen die im Bericht des Politbüros an das Plenum getroffenen Einschätzungen und aufgeworfenen Probleme, vor allem zu Fragen der planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft.
Vielfach werden die Ausführungen des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Honecker, als eine klare Orientierung, als Bekräftigung des Festhaltens an der Generallinie der Partei gewertet. Der Bericht des Politbüros enthalte eine ausgewogene Darstellung der erreichten Erfolge bei der Gestaltung des Sozialismus in der DDR und der noch anstehenden Probleme. Sich in diesem Sinne äußernde Personen heben u. a. hervor, dass eine Reihe von Fragen, die die Menschen seit Langem bewegen, konkreter und kritischer angesprochen worden ist als bei vorangegangenen Tagungen des ZK. Von genannten Personenkreisen wird eingeschätzt, man habe für diesbezügliche Gespräche mit den Werktätigen eine gute Argumentationsgrundlage erhalten.
Nahezu uneingeschränkte Zustimmung findet die im Bericht enthaltene Einschätzung der internationalen Lage.
In diesem Zusammenhang wird die auf Frieden und Völkerverständigung ausgerichtete Dialog-Politik der SED, insbesondere auch bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, als engagiert und flexibel bewertet.
Die Parteiführung habe mit den prinzipiellen Darlegungen über die Zweigleisigkeit der Bonner Politik, vor allem hinsichtlich des Offenhaltens der »deutschen Frage« eine lange Zeit geübte Zurückhaltung bezüglich einer offensiven Zurückweisung von Positionen und Aktivitäten einflussreicher BRD-Politiker aufgegeben und klare, für jedermann verständliche Worte gesprochen. Das wird von den genannten Personenkreisen ausdrücklich begrüßt. Gleichzeitig wird die Erwartung geäußert, dass man künftig jeglichen Einmischungsversuchen seitens der BRD in die inneren Angelegenheiten der DDR in gleicher Form begegnet. Es sei daher unverständlich, dass es dem Bundeskanzler der BRD überlassen worden ist, bevorstehende neue Regelungen im Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD als Erster anzukündigen. Eine hohe gesellschaftspolitische Wirksamkeit hätte erzielt werden können, wenn derartige Informationen auf dem Plenum gegeben worden wären.
Mit Genugtuung wurden die Ausführungen des Genossen Honecker über das Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion aufgenommen. Mehrfach wurde dazu auch die Auffassung vertreten, dass derartig prinzipielle Aussagen angesichts der sich häufenden Spekulationen bis hin zu direkten Angriffen auf den Bruderbund mit der Sowjetunion und der KPdSU dringend notwendig seien. (Auch unter dem Gesichtspunkt der Bekräftigung eines einheitlichen Standpunktes der DDR und der UdSSR zu grundlegenden Fragen der politischen Lageentwicklung äußern sich genannte Personenkreise in diesem Zusammenhang zu den Ergebnissen des offiziellen Besuchs des Bundeskanzlers der BRD, Kohl, in der Sowjetunion. Die konsequente Haltung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU gegenüber den Erklärungen des Bundeskanzlers zu einigen Problemen im Verhältnis der beiden deutschen Staaten habe diese Übereinstimmung besonders deutlich werden lassen. Das internationale Ansehen und die Autorität der DDR seien damit weiter gefestigt worden.)
Die im Bericht getroffene Feststellung über den Aufbau eines Sozialismusmodells in der DDR, ohne die Formen und Wege der gesellschaftlichen Entwicklung in anderen sozialistischen Ländern zu kopieren, wird unterstützt. Mit einem solchen Standpunkt werde, so wird argumentiert, die Kompliziertheit und zugleich auch mögliche Differenziertheit in der gesellschaftlichen Entwicklung der einzelnen sozialistischen Staaten anerkannt.
Breite Zustimmung findet die im Bericht enthaltene Einschätzung, dass in der DDR auf allen Gebieten, vor allem hinsichtlich der sozialistischen Sicherheit und des Wohnungsbaus, viel erreicht wurde, aber auch noch viel zu tun sei, um schon länger existierende Probleme zu lösen. Die Erfolge vor allem in der Sozialpolitik sind nach Auffassung vieler Werktätiger real dargestellt und seien Ausdruck der Leistungskraft der Volkswirtschaft.
Dennoch gibt es ein außerordentlich differenziertes Meinungsspektrum zu den im Bericht enthaltenen Einschätzungen der planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft und den damit im Zusammenhang stehenden Problemen. Charakteristisch für derartige Meinungsäußerungen ist der erneute Vergleich der im Bericht getroffenen Aussagen mit der von den Werktätigen im produzierenden Bereich täglich erlebbaren Praxis in Betrieben und Territorien.
Erneut widerspiegeln sich hierin hinlänglich bekannte Standpunkte und Meinungen, wie sie in den Hinweisen der ZAIG vom November 1988 (Einige beachtenswerte Entwicklungstendenzen in der Reaktion der Bevölkerung auf innenpolitischen Fragen [Bericht O/209]) enthalten sind.
Typisch für eine Reihe von Meinungsäußerungen ist eine kritisch distanzierte Wertung der im Bericht gegebenen Einschätzung der Situation in der Volkswirtschaft sowie der Entwicklung ihrer Leistungskraft. Sich in diesem Sinne äußernde Personen, insbesondere verantwortliche Kader u. a. Werktätige aus Konzentrationspunkten der Arbeiterklasse, vertreten die Auffassung, ernste Probleme und ihre Ursachen bei der Bewältigung der gestellten Aufgaben hätten noch konkreter beim Namen genannt werden müssen. Erwartet worden sei ein energischeres Reagieren der Parteiführung auf die Nichtbewältigung seit Langem bekannter, immer spürbarer werdender Unzulänglichkeiten in der Versorgung der Bevölkerung, vor allem mit hochwertigen Konsumgütern und Ersatzteilen.
Besonders kritisch wird in diesem Zusammenhang auch aufmerksam gemacht auf das Fortbestehen der unbefriedigenden Versorgung mit notwendigen Ersatzteilen in der Landwirtschaft, im Verkehrswesen u. a. Bereichen, obwohl es zur Lösung dieser Probleme bereits mehrmals zentrale Orientierungen und Aufgabenstellungen gegeben hat.
Notwendig seien wirksame, auf die Verbesserung der Situation ausgerichtete Maßnahmen und Entscheidungen, deren buchstabengetreue Umsetzung durch die verantwortlichen Organe und Einrichtungen kontrolliert und gesichert werden müsste. Mit Appellen allein würden keine Veränderungen erreicht.
Sehr kritische bis zweifelnde Auffassungen werden vertreten zu den im Bericht getroffenen Aussagen über eine gewachsene Effektivität und Qualität der Produktion sowie über den Lebensstandard der DDR-Bürger.
Dabei verweisen sich in diesem Sinne äußernde Personen auf das ihrer Meinung nach dazu im Widerspruch stehende unzureichende Warenangebot sowie auf eine nachlassende Qualität bei einer Reihe von Erzeugnissen, vor allem Konsumgüter, trotz gleichbleibender, z. T. sogar gestiegener Preise. Teilweise sarkastisch wird zum Ausdruck gebracht, es sei wohl kein Ausdruck der »Leistungskraft« der Volkswirtschaft, wenn es bei der Hälfte der Versorgungspositionen ernsthafte Probleme gäbe. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die Frage nach dem Stand der Erfüllung der von Betrieben übernommenen Verpflichtungen zur außerplanmäßigen Produktion von Konsumgütern gestellt.
Aus dieser Sicht findet auch die Einschätzung des Lebensstandards der DDR-Bürger, insbesondere aber der angestellte Vergleich mit dem Lebensstandard der Bürger in der BRD nur bedingt Zustimmung. Dabei wird verwiesen auf eine bessere Bedürfnisbefriedigung der BRD-Bürger durch ein umfassendes Warenangebot, ein hohes Niveau an Dienstleistungen sowie weitere, als Vorzüge angesehene Lebensbedingungen in der BRD. Der Verweis auf die Suppenküchen für die Arbeitslosen in der BRD sei z. B. nicht geeignet, um über die Lücken und Mängel in der Versorgung der Bevölkerung in der DDR hinwegzusehen.
Breiten Raum in Gesprächen nehmen Meinungsäußerungen zur gestellten Forderung nach konsequenter Durchsetzung des Leistungsprinzips und Auslastung der Arbeitszeit ein. Häufig wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass diese Frage seit Langem viele Werktätige bewege. Insbesondere von Angehörigen der Intelligenz, darunter Leitungs- und mittlere leitende Kader in der Volkswirtschaft, Mitarbeiter staatlicher Organe sowie Wissenschaftler in Lehre und Forschung, wird der Standpunkt vertreten, die Verletzung des Leistungsprinzips in der DDR bringe eine anwachsende Differenziertheit bis hin zur Stagnation von geplanten Entwicklungsprozessen mit sich. Das wirke sich auch direkt auf das Lebensniveau der Werktätigen aus und begünstige so zunehmend skeptische bis zweifelnde Meinungen und Haltungen zur Attraktivität und Perspektive des Sozialismus überhaupt. Es sei durch Entwicklungen in den letzten Jahren möglich geworden, sich in der DDR ein überdurchschnittliches materielles Lebensniveau zu sichern, ohne dafür äquivalente Leistungen erbringen zu müssen. Beispielhaft wird dabei u. a. verwiesen auf zunehmende Erscheinungen des Schieber- und Spekulantentums bzw. auf die Rolle der DM als »zweite Währung« in der DDR.
Mehrfach wird dabei die Feststellung getroffen, soziale Sicherheit und Geborgenheit erzeuge nicht automatisch eine Leistungsmotivation bei den Werktätigen. Sie wirkten nicht ausreichend als Triebkräfte für den erforderlichen Leistungszuwachs.
Aus der Sicht genannter Personenkreise ist die Schaffung wirksamer leistungsmobilisierender materieller Stimuli sowohl im produzierenden als auch im Bereich Wissenschaft und Forschung dringend erforderlich.
Unter Hinweis auf die äußerst angespannte Lage in ihren Betrieben vertreten verantwortliche Kader u. a. Werktätige aus dem Bereich Bauwesen die Auffassung, dass das Politbüro die Lage in ihrem Bereich offensichtlich nicht real eingeschätzt habe. Die materiell-technische Absicherung des Wohnungsbaues könne durch die Volkswirtschaft nicht voll gewährleistet werden. In beachtlichem Umfang werden von dem genannten Personenkreis Zweifel an der Lösung der Wohnungsfrage bis zum Jahre 1990 geäußert.
Ursachen der auftretenden Mängel und Unzulänglichkeiten werden vielfach in grundsätzlichen Fehlern in der Durchsetzung der Wirtschaftspolitik gesehen. Leitungskader der Volkswirtschaft, Mitarbeiter staatlicher Organe sowie Funktionäre der SED und befreundeter Parteien äußern dazu in internen Gesprächen solche Auffassungen wie die, die gegenwärtig praktizierten Methoden der Wirtschaftsführung bewähren sich nicht. Hier müssten grundlegende Veränderungen vorgenommen werden. Mit der Beibehaltung gegenwärtiger Praktiken sei es unmöglich, die wirtschaftliche Stagnation und den Rückgang des Leistungszuwachses in einzelnen Bereichen aufzuhalten und den Rückstand zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität in führenden kapitalistischen Ländern aufzuholen.
In diesem Zusammenhang wurde die Festlegung der Durchführung des XII. Parteitages2 der SED mit Interesse zur Kenntnis genommen. Anerkannt und befürwortet wird die dazu erklärte Zielstellung, eine Übereinstimmung zwischen dem Parteitags- und Fünfjahrplanzyklus zu erreichen.
Eng damit verbunden werden aber auch in nahezu allen Bevölkerungskreisen Erwartungshaltungen hinsichtlich Kaderveränderungen in der Partei- und Staatsführung der DDR.
In einer Reihe von spekulativen Meinungsäußerungen, u. a. von Arbeitern und Angestellten aus Großbetrieben, Mitarbeitern staatlicher Organe sowie Studenten an Hochschulen und Universitäten, werden darüber hinaus eine Korrektur der ökonomischen Strategie der SED bis zum Jahr 2000 sowie die Ausarbeitung einer neuen »ideologischen Linie« aufgrund der komplizierten außenpolitischen Lage und der Entwicklung in den sozialistischen Ländern erwartet.
Auf positive Resonanz unter verantwortlichen Kadern in der Volkswirtschaft stießen die Ausführungen des Genossen Honecker über Veränderungen in der Planung und Bilanzierung von Investitionen sowie zur Erhöhung der Akkumulationsrate im produktiven Bereich.
Es sei richtig, die Verantwortung der Kombinate bei der Durchführung von Investitionen weiter zu stärken. Die Leiter seien jetzt gezwungen, die Grundsätze der wirtschaftlichen Rechnungsführung durchzusetzen und sich mit allen den betrieblichen Gewinn schmälernden Faktoren auseinanderzusetzen. Mit diesen Maßnahmen würde auch die Steigerung der Arbeitsproduktivität stimuliert.
Auch unter Bezugnahme auf den Bericht des Politbüros an die 7. Tagung äußert sich eine Reihe Werktätiger, darunter viele Angehörige der Intelligenz, Studenten an Hochschulen und Universitäten sowie Kulturschaffende, kritisch zur Informationspolitik in der DDR.
Dabei wird u. a. der Standpunkt vertreten, der Informationsgehalt der Beiträge in unseren Medien stünde nicht im Einklang mit der Forderung des Genossen Honecker, mit den Menschen müsse vernünftig geredet werden.
In diesbezüglichen Meinungsäußerungen spielt nach wie vor die Entscheidung zur Streichung der Zeitschrift »Sputnik« von der Postzeitungsvertriebsliste der DDR eine große Rolle. Obwohl der in zentralen Publikationsorganen veröffentlichte Kommentar »Gegen die Entstellung der historischen Wahrheit« dazu beigetragen hat, die Diskussionen über die Entscheidung zu versachlichen und mehr Verständnis dafür zu wecken, dominiert auch weiterhin die Auffassung, es wäre zweckmäßiger, sich mit Versuchen einer Verfälschung der Geschichte offensiv polemisch auseinanderzusetzen als zu administrieren.