Meinungen von Mitgliedern der Blockparteien zur Innenpolitik
September 1988
Einige bedeutsame Aspekte der Reaktion unter Mitgliedern befreundeter Parteien [Bericht O/208a]
Vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge haben in Funktionärs- und Mitgliederkreisen der befreundeten Parteien die Diskussionen zu Problemen der Entwicklung der Volkswirtschaft, einschließlich im Handwerk und Gewerbe, zur Versorgungssituation, u. a. auch mit Dienstleistungen, zur Medien- und Informationspolitik sowie zur Wirksamkeit zentraler und territorialer staatlicher Organe erheblich zugenommen.
Häufig werden von dem genannten Personenkreis Vergleiche zwischen den Beschlüssen des XI. Parteitages der SED1 und diesbezüglichen Problemen im eigenen Arbeits- und Lebensbereich angestellt. Es werden Einschätzungen getroffen, dass sich die Entwicklung nicht entsprechend diesen Aufgabenstellungen und Orientierungen vollziehe, dass sich die Probleme immer spürbarer auf die Erreichung des geforderten Leistungsanstieges, besonders auch im Bereich Handwerk und Gewerbe, auswirken würden.
Von dem genannten Personenkreis wird in wachsendem Maße in sehr kritischer, z. T. aggressiver und unduldsamer Form auf eine Reihe seit Jahren anstehender und ungelöster Schwierigkeiten und Probleme bei der Umsetzung entsprechender zentraler Aufgabenstellungen und Orientierungen verwiesen.
In diesem Zusammenhang zeichnet sich ab, dass immer mehr Funktionäre unter starken Druck geraten, die Diskussionen dazu in positive und konstruktive Bahnen zu lenken, da sie selbst zu den von den Mitgliedern aufgeworfenen Problemen und gestellten Forderungen häufig keine überzeugenden Antworten and Argumente finden würden.
Tendenzen der Verunsicherung über die weitere Entwicklung besonders auch im Hinblick auf die Kommunalwahlen 1989 nehmen zu. In diesem Zusammenhang wird von Funktionären der befreundeten Parteien im kleinen Kreis auch dahingehend argumentiert, dass sie selbst von den Kreisleitungen der SED keine ausreichende Unterstützung bekommen würden, wie auf diese Probleme reagiert werden sollte, wie vor allem eine spürbare Veränderung der Situation, mit der sie durch die Mitglieder ihrer Parteien konfrontiert werden, erreicht werden kann.
Die grundsätzliche Bereitschaft der Mitglieder befreundeter Parteien zur Mitarbeit bei der Verwirklichung der ökonomischen Strategie der SED, besonders bei der Lösung vieler kommunalpolitischer Aufgaben und damit bei der weiteren Verbesserung der Lebensbedingungen der Werktätigen, ist vorhanden. Es wird aber auch darauf verwiesen, dass die Lage in der Volkswirtschaft immer komplizierter und angespannter geworden sei. Das wird von dem genannten Personenkreis u. a. mit anhaltenden Problemen in der bedarfs- und sortimentsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit für die Bevölkerung immer spürbarer werdenden Einschränkungen des Leistungsniveaus und -umfangs insbesondere auf dem Sektor der Dienstleistungen begründet.
Mit großem Unmut verweisen selbstständige Handwerker auf gravierende Reduzierungen der Fonds für Materialien, Rohstoffe bzw. Halbfabrikate sowie in der Bereitstellung von Kfz und -ersatzteilen.
(Es mehren sich beispielsweise Erscheinungen in verschiedenen Gewerken, hauptsächlich aber bei Kfz-Reparaturen, dass Kundenaufträge nur realisiert werden können, wenn das erforderliche Material/Ersatzteil vom Kunden zur Verfügung gestellt wird bzw. wenn sie wesentlich längere Reparaturzeiten in Kauf nehmen.)
Sie seien permanent gezwungen, einen Großteil ihrer Zeit für die operative Beschaffung von fehlendem Material zu verwenden. Man lebe dabei von der Hand in den Mund und sei froh, die Materialien für die Produktion des folgenden Tages vorrätig zu haben. Eine langfristige Arbeitsplanung sei kaum noch möglich. Von diesem Personenkreis wird in diesem Zusammenhang das Planungssystem in der Volkswirtschaft der DDR insgesamt als zu starr und unflexibel bewertet. Es sei nicht in der Lage, eine bedarfs- und sortimentsgerechte Produktion zu gewährleisten.
Mit »vorgeplanten Engpässen«, so wird argumentiert, sei man nicht in der Lage, die gestellten Versorgungsaufgaben für die Bevölkerung zu erfüllen. Beschlüsse von Partei und Regierung der DDR würden erst wirksam werden, wenn sie mit konkreten, abrechenbaren Maßnahmen zur Verbesserung der Situation untersetzt sind. In beachtlichem Umfang werden in diesem Zusammenhang Zweifel an der Richtigkeit der Umsetzung der zentralen Orientierungen und Aufgabenstellungen insbesondere zu volkswirtschaftlichen Problemen durch staats- und wirtschaftsleitende Organe zentraler und territorialer Ebene geäußert.
Diese Personenkreise äußern sich zunehmend kritischer über die Wirksamkeit territorialer staatlicher Organe in diesem Prozess. Es sei völlig unverständlich, dass für seit Jahren bekannte und immer wieder aufgezeigte Probleme keine wirksamen Lösungswege gefunden werden. Es mehren sich im Gegenteil Erscheinungen, dass seitens territorialer staatlicher Organe gegebene Versprechungen/Zusagen nicht eingehalten werden, sodass Handwerker und Gewerbetreibende sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlen. Territoriale Staatsorgane (z. T. auch Leitungen der SED) verlieren damit zunehmend ihre Glaubwürdigkeit unter diesem Personenkreis. Sich in diesem Sinne äußernde Personen bringen offen Zweifel an der Fähigkeit dieser Organe, anstehende Probleme absehbar lösen zu können, zum Ausdruck. Es sei, so wird mehrfach geäußert, nicht verwunderlich, dass bei der gegenwärtigen Entwicklung immer mehr Bürger Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD bzw. nach Berlin (West) stellen.
Ersten Hinweisen zufolge beabsichtigen Mitglieder befreundeter Parteien, bei den Kommunalwahlen 1989 nicht mehr zu kandidieren, weil sie Fragen ihrer Wähler zu kommunalen, territorialen und Problemen des Handels und der Versorgung nicht mehr überzeugend beantworten können und auch für sich keine Möglichkeiten sehen, selbst auf die Veränderung der Situation Einfluss zu nehmen.
In erheblichem Umfang spielen in Diskussionen von Mitgliedern befreundeter Parteien, vor allem der LDPD und der CDU, zu Fragen der Versorgung der Bevölkerung auch kritische bis ablehnende Meinungsäußerungen zur Preispolitik, insbesondere zum Umfang der Subventionierung von Preisen für Grundnahrungsmittel und Mieten eine Rolle. Der Umfang dieser staatlichen Stützungen wird als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet. Beispielsweise stünden die Mietpreise in der DDR, so wird argumentiert, in krassem Widerspruch zur Kostenentwicklung bei Instandhaltungsarbeiten an der Wohnsubstanz. Ein beträchtlicher Teil des Wohnungsfonds könne deshalb aufgrund fehlender Mittel nicht saniert werden.
In einer Vielzahl von Meinungsäußerungen zu den aufgezeigten Problemen wird immer wieder auch Bezug genommen auf die als unbefriedigend empfundene Informations- und Medienpolitik in der DDR. Es sei völlig unverständlich, so wird argumentiert, dass sich die Probleme, mit denen die Werktätigen konfrontiert werden und die sie bewegen, nicht in erforderlichem Maße in der Medienarbeit widerspiegelten. Den unkritischen »Erfolgsmeldungen« in den Medien vor allem hinsichtlich der Entwicklung der Volkswirtschaft und zur Versorgung der Bevölkerung fehle die reale Bezogenheit zur Wirklichkeit. Der propagierte Leistungszuwachs in der Volkswirtschaft schlage sich nicht in einer Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung nieder. Dieser Widerspruch würde für jeden Werktätigen immer spürbarer, sodass erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Einschätzungen bestehen. Erwartet wird eine kritische Darstellung der realen Lage mit dem Aufzeigen bestehender Schwierigkeiten und Probleme sowie von Lösungswegen.
Journalistisch tätige Mitglieder befreundeter Parteien äußerten in diesem Zusammenhang, dass sie bei der Erfüllung ihrer Arbeitsaufgaben wiederholt mit Missständen, Schwierigkeiten und Schlamperei in den Betrieben, Einrichtungen und Territorien konfrontiert werden, über die aber nicht berichtet werden dürfe. Das sei für sie unbefriedigend. Eine solche Informationspolitik nutze, so äußern sie sich, letztendlich niemandem.
In diesem Zusammenhang wird von Mitgliedern und Funktionären der befreundeten Parteien häufig der Standpunkt vertreten, in der DDR müssten Missstände und Hemmnisse sowie deren Ursachen genau so offen und kritisch angesprochen werden wie in der UdSSR.
Als Mangel wird darüber hinaus empfunden, dass ihrer Meinung nach in zu geringem Umfang Hintergründe und Zusammenhänge zu außenpolitischen Problemen in den Medien dargestellt werden. Beispielhaft verweisen sie dabei auf Prozesse und Probleme in der Arbeit des RGW und auf ökonomische Reformen und Entwicklungen in anderen sozialistischen Staaten, wobei besonders die Ungarische VR und die UdSSR genannt werden.