Probleme beim Auf- und Ausbau von Atomkraftwerken
19. Oktober 1988
Information Nr. 440/88 über einige Probleme im Zusammenhang mit der Umsetzung der Beschlüsse der Partei- und Staatsführung der DDR zum Ausbau der kernenergetischen Basis in der DDR
Zur Gewährleistung der volkswirtschaftlichen Leistungsentwicklung bis 1990 und danach sind in den entsprechenden zentralen Beschlüssen Festlegungen enthalten, die einen Bedarfszuwachs an Elektroenergie von 2,2 %/Jahr (Zuwachs des Bevölkerungsbedarfes von 2,8 bis 3,0 %/Jahr) vorsehen.
Dazu gehören u. a.
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die Fertigstellung des Blockes 6 im Braunkohlekraftwerk Jänschwalde/Cottbus (Beginn des Probebetriebes ab November 1988),
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die Errichtung weiterer Gasturbinenkapazitäten bis Ende 1990 (NSW-Import, 320 MW) und die Deckung des weiter ansteigenden Bedarfes bei Elektroenergie im Wesentlichen auf der Basis neu in Betrieb zu nehmender Erzeugerkapazitäten auf kernenergetischer Basis bei gleichzeitiger Durchsetzung der Maßnahmen zur rationellen Energieanwendung.
Wie die geführten Untersuchungen zur Klärung von Ursachen und Hintergründen fortlaufend eingetretener, teilweise erheblicher zeitlicher Verzögerungen bei der Vorbereitung, Errichtung und Inbetriebsetzung von Kernkraftwerksblöcken ergaben, führte die völlig unzureichende Umsetzung entsprechender zentraler Beschlüsse, insbesondere hinsichtlich des planmäßigen Zuwachses an Kernkraftwerkskapazitäten sowie die nicht den Erfordernissen entsprechende Leistungsentwicklung des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau einschließlich seiner Kooperationspartner in den anderen Zweigen der Volkswirtschaft (u. a. Bauwesen, Schwermaschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik/Elektronik), zu den gegenwärtig vorhandenen erheblichen Rückständen.
Nach vorliegenden Hinweisen sind bisher gegenüber dem 1987 beschlossenen Programm zur Entwicklung der kernenergetischen Basis der DDR bei der Realisierung der Kernkraftwerksblöcke folgende zeitlichen Verzögerungen eingetreten:
KKW »Bruno Leuschner«[Block] | Zielstellung | Voraussichtliche Inbetriebnahme (Rückstände entspr. Bau- und Montagestand) | Verzögerungen gegenüber MRB vom 8.7.1987 |
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Block 5 | Dezember 88 | III. Quartal 89 | 6–9 Monate |
Block 6 | November 89 | III. Quartal 90 | 7–10 Monate |
Block 7 | IV. Quartal 90 | IV. Quartal 91 | 12 Monate |
Block 8 | IV. Quartal 91 | IV. Quartal 92 | 12 Monate |
[Block] | Zielstellung | Voraussichtliche Inbetriebnahme (Rückstände entspr. Bau- und Montagestand) | Verzögerungen gegenüber MRB vom 8.7.1987 |
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Block 1 | IV. Quartal 93 | II. Quartal 94 | 6 Monate |
Block 2 | II. Quartal 95 | I. Quartal 96 | 9 Monate |
Nach internen Einschätzungen von Fachexperten führen derzeitige Rückstände bei den Bau- und Montageprozessen und daraus resultierende zeitliche Verschiebungen bei der Inbetriebnahme der Kernkraftwerksblöcke 5 bis 8 im KKW »Bruno Leuschner« und Block 1 im KKW Stendal ab 1989 bis 1995 jeweils in den Wintermonaten zu erheblichen Defiziten bei der Bereitstellung elektrischer Leistung (z. B. 1989: ca. 700 MW; 1994/95: ca. 1 000 bis 1 700 MW). Aus dieser Situation heraus sei es deshalb erforderlich, die vertraglich vereinbarten Importe von Elektroenergie aus der BRD vorzuziehen (Aufnahme des Elektroenergiebezuges von 320 MW bereits ab Winterhalbjahr 1989/90) und die kommerziellen Vereinbarungen zum Elektroenergiebezug aus der Republik Österreich über den bisher festgelegten Zeitraum 1990 hinaus fortzusetzen. Damit verbunden sind zusätzliche ökonomische Belastungen für die Volkswirtschaft der DDR, die jährlich bis auf über 400 Mio. VM bis 1994/95 anwachsen können.
Die im Kraftwerksanlagenbau der DDR, vor allem im Zusammenhang mit der Errichtung der kernenergetischen Basis, zu verzeichnenden Rückstände, Hemmnisse und Mängel resultieren nach übereinstimmenden Auffassungen vor allem daraus, dass die Umsetzung der Beschlüsse zur Leistungsentwicklung des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau und der Kooperationspartner (Industriebau, Metallurgie, Maschinenbau, Elektrotechnik/Elektronik) nicht gemäß den vorgegebenen Zielstellungen erfolgte. Die Umsetzung gestaltete sich zähflüssig und hielt mit den zunehmenden Anforderungen (z. B. Neuentwicklungen, sicherheitstechnische Nachrüstungen u. a. m.) entsprechend dem internationalen Niveau nicht Schritt. Entscheidende Maßnahmen, wie
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Zuführung von 7 000 Arbeitskräften,
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Schaffung einer qualifizierten, erfahrenen Stammbelegschaft auf den Gebieten der Forschung und Entwicklung, Konstruktion, Projektierung, Technologie, Bau und Montage,
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Erweiterung der kernkraftwerksspezifischen Produktion und von Werkstattkapazitäten sowie
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Verallgemeinerung der besten Erfahrungen der Bau- und Montagekollektive unter Nutzung der sowjetischen Erfahrungen
wurden bisher nur unzureichend verwirklicht.
Zu dieser Situation haben nach Auffassungen von Experten beigetragen:
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Mängel in der Leitungstätigkeit (nicht ausreichende Beherrschung der Leitungsprozesse im Stammbetrieb des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau bis zu den Leitern der Baustellenkollektive)
und die offensichtlich auch gegenwärtig objektiv vorhandenen materiell-technischen und kapazitätsmäßigen Grenzen in der Volkswirtschaft der DDR,
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der nur unzureichend quantitativ und qualitativ entwickelte wissenschaftlich-technische und technologische Vorlauf einschließlich der Eigenleistungen in der Projektierung und in der Technologie im VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau sowie bei den zuständigen Bereichen der Kooperationspartner anderer Industriezweige.
(Der letztgenannte Umstand begrenzt erheblich die rechtzeitige Einflussnahme auf technisch-ökonomische und sicherheitstechnische Lösungen gegenüber den sowjetischen Partnern und führt zu Fehlern und Mängeln im Rahmen des bestehenden arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit der sowjetischen Seite vor allem im Zusammenhang mit Änderungen in der Bau- und Montagephase der Kernkraftwerksblöcke, z. B. Projekt- und Montageänderungen, Nachrüstungen u. a. m., die letztendlich weitere zeitliche Verzögerungen und höhere ökonomische Aufwendungen bewirken.),
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die Zuführung einer Vielzahl neuer Arbeitskräfte ohne kernkraftwerksspezifisches Wissen und entsprechende Erfahrungen zu den Baustellen der Kernkraftwerke (Qualifiziertes und erfahrenes Personal aus der Zeit der Errichtung der Blöcke 1 bis 4 im KKW Greifswald ist überwiegend aufgrund des Einsatzes an anderen volkswirtschaftlichen Vorhaben, z. B. im sozialistischen Ausland, nicht mehr vorhanden.
Nach Einschätzung von Experten widerspricht diese Praxis den internationalen Erfahrungen im Kernkraftwerksbau. Damit bestehen begünstigende Bedingungen für Projekt- und Montagefehler und Qualitätsmängel sowie für Fehlhandlungen und Handlungsunsicherheiten beim Leitpersonal der beteiligten Kombinate und Betriebe, die auch während der Inbetriebsetzungsphasen des Blockes 5 im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« aufgetreten sind.),
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die Stagnation des Leistungsvermögens der am Bau der Kernkraftwerke der DDR beteiligten Kombinate und Betriebe der DDR. Dadurch wurde zunehmend der Einsatz ausländischer Bau- und Montagekollektive im Rahmen von Leistungsimporten aus RGW-Ländern erforderlich. So sind z. B. auf der Großbaustelle im Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« von insgesamt 10 600 Arbeitskräften rund 4 000 ausländische Arbeitskräfte, darunter 2 900 aus der VRP, tätig. Es handelt sich überwiegend um Werktätige anderer sozialistischer Länder, die nicht über langjährige kernkraftwerksspezifische Erfahrungen und Qualifikationen verfügen, teilweise erst qualifiziert werden müssen und in den Zeiträumen von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wechseln.
In diesem Zusammenhang weisen Experten mit Nachdruck darauf hin, dass es aus sicherheitspolitischen, leitungsorganisatorischen, technologischen und ökonomischen Gründen bzw. Risiken notwendig sei, derartige Leistungsimporte durch die Beschleunigung der Leistungsentwicklung des Kraftwerksanlagenbaues und der betreffenden Kooperationspartner in der Volkswirtschaft der DDR unter Beachtung der Herausbildung von Stammbelegschaften für kernkraftwerksspezifische Aufgaben schrittweise zu reduzieren. (Zuständige staatliche Leiter vertreten in persönlichen Gesprächen sogar den Standpunkt, mit ausländischen Werktätigen könne man keine Kernkraftwerke bauen.),
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die ständige Verlängerung der Realisierungszeiträume für die Kernkraftwerksblöcke, die Langzeitlagerungen planmäßig gelieferter Ausrüstungen aus der UdSSR erforderlich machten, wodurch Qualitätsschädigungen eintraten sowie zeitaufwendige und nicht berechenbare Säuberungs- und Innenreinigungsprozesse notwendig wurden, was wiederum zeitliche Verzögerungen zur Folge hatte.
(z. B. Block 5),
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die unzureichende Nutzung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens z. B. auf der Baustelle KKW Greifswald, vor allem die Einhaltung der Arbeitsdisziplin.
Nicht unwesentlich – so schätzen Fachexperten des Kraftwerksanlagenbaus weiter ein – könnte eine Reihe grundsätzlicher Probleme in der Zusammenarbeit mit der sowjetischen Seite zu weiteren Verzögerungen bei den für den Zeitraum bis 1992 geplanten Zugängen an Kernkraftwerkskapazitäten führen.
Das betreffe u. a.
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die Wiederverwendung des sowjetischen Teilprojektes – Informationsrechenkomplex – der Blöcke 5 und 6 für die im Bau befindlichen Blöcke 7 und 8 sei unklar, da die sowjetische Seite beabsichtigte, einen weiterentwickelten Rechnerkomplex zum Einsatz zu bringen. Daraus könne sich eine Verlängerung im Bau- und Montageprozess dieser Blöcke von jeweils sechs bis zwölf Monaten ergeben,
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die sowjetische Seite ordnete bisher noch nicht die Projektierung und die Lieferung des 1000-MW-Turbosatzes für den Block 1 sowie von Niederdruckrohrleitungssystemen für das Reaktorgebäude des Kernkraftwerkes Stendal ein. Zur Sicherung der Inbetriebnahme des ersten 1000-MW-Blockes im Kernkraftwerk Stendal entsprechend der beschlossenen Zielstellung 1987 wäre die Lieferung des o. g. Turbosatzes im Jahre 1990 erforderlich. Nach dem derzeitigen Stand der Verhandlungen mit der sowjetischen Seite muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Lieferung des Turbosatzes für den Block 1 voraussichtlich erst 1992 erfolgen wird.
Bedeutsam erscheint auch die Tatsache, dass Vertreter des sowjetischen Generallieferanten im Ministerium für Kernenergetik anlässlich im Juli 1988 in der UdSSR geführter bilateraler Konsultationen gegenüber den Vertretern des Ministeriums für Kohle und Energie zum Ausdruck brachten, dass sie unter den neuen Bedingungen der Wirtschaftsleitung in der UdSSR keine zwingenden Möglichkeiten haben, die im zweiseitigen Regierungsabkommen vom 14. Juli 1965 über die Erweiterung der Zusammenarbeit bei der Errichtung von Kernkraftwerken in der DDR sowie in entsprechenden Protokollen eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den sowjetischen Vereinigungen und Betrieben durchzusetzen.
Zu diesen Fragen wurde das Politbüro des ZK der SED am 23. August 1988 durch die Staatliche Plankommission informiert.1
Es wurde festgelegt, auf der Ebene der Paritätischen Regierungskommission DDR – UdSSR weitergehende Verhandlungen zu führen und in diesem Rahmen zu entsprechenden Lösungen zu kommen.
Ausgehend von den bisher erreichten tatsächlichen Ergebnissen bei der Entwicklung der kernenergetischen Basis in der DDR machen Fachexperten darauf aufmerksam, dass der Zeitpunkt herangereift sei, zur Vermeidung weiterer Rückstände im Kernkraftwerksbau der DDR und negativer ökonomischer Auswirkungen für die Volkswirtschaft der DDR grundsätzliche Schlussfolgerungen zu ziehen. In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, durch den Ministerrat der DDR eine konsequente Abrechnung der bisher gefassten Beschlüsse der Partei- und Staatsführung vorzunehmen und Vorschläge zur weiteren Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft der DDR für die Errichtung von Kernkraftwerken unter Beachtung der herangereiften Fragen (z. B. Leistungsimporte, Zusammenarbeit mit den sowjetischen Partnern, Reduzierung der Valutabelastungen durch Elektroenergieimporte aus dem NSW) zu unterbreiten.