Proteste gegen die Deponierung von Schaumstoff-Abfällen
14. November 1988
Information Nr. 496/88 über die Deponierung volkswirtschaftlich nicht mehr verwertbarer PUR-Schaumstoff-Abfälle in der Flur Großbreitenbach/Ilmenau/Suhl und daraus resultierende Reaktionen der Bevölkerung
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen wurden seit Mitte Oktober 1988 in einer gesonderten Erddeponie in einem Restloch der Flur von Großbreitenbach 188 t wegen Durchnässung und Verschmutzung nicht mehr für eine weitere Verarbeitung geeignete PUR-Schaumstoff-Abfälle verkippt, die bisher im Betriebsteil Langewiesen des VEB Spielwaren Großbreitenbach (Betrieb des VE Kombinat Spielwaren) im Freien gelagert worden waren.
Bei diesem PUR-Schaumstoff (Weichschaum) handelt es sich um Abfälle der Polstermöbelindustrie und des VEB Schaumstoffchemie Burkhardtsdorf/Karl-Marx-Stadt, zu deren Abnahme und Verarbeitung zu PUR-Schaumflocken der VEB Spielwaren Großbreitenbach festgelegt und vertraglich verpflichtet wurde.
Da die PUR-Schaumstoff-Anlieferungen die Lager- und Verarbeitungskapazitäten des VEB Spielwaren Großbreitenbach jedoch beträchtlich überstiegen, kam es durch Lagerung im Freien zu Verschmutzungen und Durchnässungen des Materials, wodurch eine weitere Verarbeitung nicht mehr gegeben war.
Auf Antrag des Generaldirektors des VEB Kombinat Spielwaren vom 29. Juni 1988, dem die Zustimmung des Ministeriums für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie vom 8. April 1988 vorausging, wurde vom Rat des Bezirkes Suhl nach Prüfung der rechtlichen Voraussetzung für die Verkippung und Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen des Umweltschutzes die Genehmigung zur Einlagerung in einer gesonderten Deponie in Großbreitenbach mit entsprechenden Auflagen erteilt.
Grundlage für diese Entscheidung bildete das Protokoll einer Standortberatung in Großbreitenbach vom 12. Juli 1988, an der Vertreter der zuständigen örtlichen, kreislichen und bezirklichen Staatsorgane und von Betrieben sowie gesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen des Territoriums teilnahmen. Weder zu diesem Zeitpunkt noch danach wurden Einwände gegen den ausgewählten Standort für die vorgesehene Deponie von PUR-Schaumstoffen erhoben. Der Deponie stimmten außerdem die Hygieneinspektion, die Staatliche Gewässeraufsicht, der Bereich Geologie und die Staatliche Umweltinspektion zu.
Vorliegenden Hinweisen von Experten zufolge bestehen durch die Deponierung von PUR-Schaumstoffen bei Einhaltung der erteilten Auflagen keinerlei Gefahren für das Grundwasser und die Umwelt.
Mit den Festlegungen zum Abtransport der PUR-Schaumstoffe aus dem Betriebsteil Langewiesen des VEB Spielwaren Großbreitenbach wurde gleichzeitig eine bestehende Umweltgefahr beseitigt, die sich aus einem möglichen Brand des Materials, bei dem toxische Stoffe freigesetzt werden, ergeben kann.
Aufgrund der nicht ausreichenden Transportmöglichkeiten im Territorium und wegen des Fehlens geeigneter Bewachungskräfte kamen auf Vorschlag des Betriebsleiters des VEB Spielwaren Großbreitenbach Angehörige der Sowjetarmee und Fahrzeuge vom Typ »URAL« der GSSD-Garnison Rudolstadt zum Einsatz, mit der ein Patenschaftsvertrag besteht.
Im Zusammenhang mit der Verkippung auf der Deponie und der Bewachung durch sowjetische Soldaten kam es unter Einwohnern von Großbreitenbach und Umgebung zu heftigen Diskussionen und zur Verbreitung von Gerüchten über die Deponierung von gefährlichen Giften und Schadstoffen sowie die Gefährdung der Umwelt.
Ferner wurde verbreitet, der Rat der Stadt Großbreitenbach sei über die vorgesehene Verkippung nicht informiert worden.
Über die Stimmungslage unter der Bevölkerung wurden unverzüglich der 1. Sekretär der Kreisleitung der SED Ilmenau und der Vorsitzende des Rates des Kreises Ilmenau informiert. Vom Bürgermeister der Stadt Großbreitenbach war in Abstimmung mit dem Rat des Bezirkes Suhl und dem Rat des Kreises Ilmenau für den 20. Oktober 1988 eine Einwohnerversammlung einberufen worden, an der etwa 350 Einwohner teilnahmen. Als Gäste nahmen Vertreter des Rates des Bezirkes, des Rates des Kreises, der Staatlichen Gewässeraufsicht und des VE Kombinat Spielwaren teil.
Das Ziel der Versammlung, die Einwohner von Großbreitenbach über den Sachverhalt (Gründe für Deponierung, Ablauf der Arbeit, Ungefährlichkeit des Materials für Umwelt und Grundwasser, allseitige Prüfung der Bedingungen, Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen bei Standortwahl, Zustimmung der territorialen Organe) umfassend zu informieren und zu beruhigen, ist jedoch nicht erreicht worden. Infolge des Fehlens einer klaren Konzeption für die Durchführung dieser Einwohnerversammlung wurde der Verlauf im Wesentlichen durch provokatorische Anfragen von teilnehmenden Jugendlichen bestimmt.
Die anwesenden Vertreter der staatlichen Organe reagierten nicht den Erfordernissen entsprechend und konnten somit die vorhandenen Zweifel bei der Bevölkerung nicht beseitigen.
Offensichtlich im Zusammenhang mit der Errichtung der Deponie wurden in der Zeit vom 23. bis 26. Oktober 1988 durch bisher unbekannte Täter mehrere Losungen in Großbreitenbach angebracht, durch einen anonymen Anruf ein Funktionär des Rates des Kreises Ilmenau bedroht und im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen die Verbreitung von Schriften angedroht.
Am 25. Oktober 1988 wurde unter Leitung des Vorsitzenden des Rates des Kreises Ilmenau eine Funktionärsberatung mit Betriebsleitern, Parteisekretären, Stadtverordneten, LPG-Vorsitzenden und Agitatoren der Stadt Großbreitenbach und der Gemeinde Gillersdorf mit der Zielstellung durchgeführt, durch offensive und überzeugende ideologische Arbeit die Stimmungslage unter Teilen der Bevölkerung zu verändern und Unverständnis, Misstrauen und Skepsis zu beseitigen.
Beginnend mit dem 27. Oktober 1988 sind Kräfte und Transportkapazitäten der LPG (P) Großbreitenbach mit der Verbringung und Deponierung der PUR-Schaumstoffe in Großbreitenbach beauftragt worden.
Über die unvermindert anhaltenden Diskussionen unter der Bevölkerung Großbreitenbachs wurden der 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Suhl und der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Suhl durch das MfS fortlaufend informiert.
Die konsequente Realisierung der Festlegungen des 1. Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Suhl vom 28. Oktober 1988,
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alle Kräfte und Mittel zur kurzfristigen Beendigung der Einlagerung in der Deponie Großbreitenbach einzusetzen,
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eine qualifizierte politische Arbeit unter Leitung des Rates des Kreises Ilmenau in Großbreitenbach zu organisieren und
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eine Arbeitsgruppe des Rates des Bezirkes Suhl unter Leitung des Bezirksarztes zur Unterstützung der politischen Arbeit in Großbreitenbach einzusetzen,
wirkte sich positiv auf die vorhandene Situation aus. Die Einlagerung der PUR-Schaumstoff-Abfälle wurde am 30. Oktober 1988 am festgelegten Deponiestandort Großbreitenbach zum Abschluss gebracht. Noch zu verrichtende Restarbeiten dienen der Angleichung der Erddeponie an das Geländeprofil.
Die Reaktion der Bevölkerung in der Stadt Großbreitenbach bezogen auf die Deponierung von PUR-Schaumstoffen hat sich zwischenzeitlich beruhigt und ist durch zunehmend sachliche Diskussionen gekennzeichnet. Die Unbedenklichkeitserklärungen zur Einlagerung von PUR-Schaumstoffen werden von der Mehrzahl der Einwohner akzeptiert.
Andererseits äußern Bürger von Großbreitenbach noch immer ihr Unverständnis darüber, dass für den entstandenen volkswirtschaftlichen Schaden niemand zur Verantwortung gezogen wird.
In Realisierung eines Auftrages des Staatssekretärs im Ministerium für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie (MBL) wurden von der Inspektion des MBL am 31. Oktober und 1. November 1988 Untersuchungen vor Ort für das Unbrauchbarwerden von 188 t PUR-Schaumstoff-Abfällen durchgeführt. Die Information der Inspektion des MBL vom 2. November 1988 enthält u. a. die Aussage, bereits 1972 mit Aufnahme der Flockenproduktion im VEB Spielwaren Großbreitenbach seien keine ausreichenden materiell-technischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine verlustfreie Lagerung und Verarbeitung von PUR-Schaumstoff-Abfällen gegeben gewesen. Obwohl bereits 1974 ein Ordnungsstrafverfahren wegen der unsachgemäßen Lagerung von PUR-Schaumstoffen im Freien und der Beeinträchtigung von Ordnung und Sicherheit im Betriebsgelände gegen den ehemaligen Betriebsdirektor durchgeführt wurde, wurden in der Folgezeit sowohl vom VEB Spielwaren Großbreitenbach als auch vom VE Kombinat Spielwaren keine Maßnahmen eingeleitet, um die vertraglichen Abnahmeverpflichtungen mit den im Betrieb vorhandenen Lager- und Verarbeitungskapazitäten in Übereinstimmung zu bringen Das verdeutlicht nicht zuletzt die Bestandsentwicklung der im Freien gelagerten PUR-Schaumstoff-Abfälle (z. B. 31. Dezember 1984 = 142 t, 31. August 1986 = 174 t, 4. Dezember 1987 = 188 t).
In der Information der Inspektion des MBL wird weiter darauf hingewiesen, dass auch bei Realisierung des Baus einer Lagerhalle (Objekt 40. Jahrestag der Gründung der DDR) die Notwendigkeit einer Lagerung im Freien nicht ausgeschlossen werden kann, wenn die Anlieferung weiterhin, wie bisher üblich, unkontinuierlich und stoßweise erfolgt.
Im Ergebnis der Untersuchungen wird von der Inspektion des MBL dem Minister für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die auf die Herbeiführung grundlegender Veränderungen gerichtet sind.
Dazu gehört u. a.:
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Durch Pressung der PUR-Schaumstoff-Abfälle zu Ballen soll eine bessere Nutzung der vorhandenen Lagerkapazität gewährleistet werden (Verdichtung auf ca. 1/5 des ursprünglichen Volumens).
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Das Zurückgehen des Bedarfs des VE Kombinat Spielwaren an PUR-Schaumstoff-Flocken und das Fehlen weiterer Anwendungsmöglichkeiten bedingt Entscheidungen zur anderweitigen Verwertung der anfallenden PUR-Schaumflocken in der Volkswirtschaft.
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Der Generaldirektor des VE Kombinat Spielwaren hat geeignete Maßnahmen einzuleiten, die eine Wiederholbarkeit der Abwertung und Deponierung von PUR-Schaumstoff-Abfällen grundsätzlich ausschließen.
Im engen Zusammenwirken mit der Deutschen Volkspolizei wird an der Aufklärung der Personen gearbeitet, die für das Anbringen von Losungen und die Verbreitung anonymer Forderungen verantwortlich sind.