Reaktionen der Bevölkerung auf den Pkw »Wartburg 1.3«
26. September 1988
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die in den Massenmedien der DDR erfolgten Veröffentlichungen zum Personenkraftwagen »Wartburg 1.3« [Bericht O/208]
Vorliegenden umfangreichen Meinungsäußerungen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge, löste die Mitteilung über den Pkw »Wartburg 1.3«1 bereits kurzzeitig nach ihrer Veröffentlichung in den Medien der DDR2 unter allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere unter Arbeitern und Angestellten in Zentren der Arbeiterklasse, Angestellten staatlicher Organe, Angehörigen der pädagogischen Intelligenz sowie Werktätigen der Bereiche Handel, Post- und Fernmelde-, Gesundheits- und Verkehrswesen in beachtlichem Umfang spontane, emotional stark geprägte, z. T. aggressive, überwiegend ablehnende Meinungsäußerungen aus. Diese Diskussionen halten unvermindert an. Zentrale Argumentationen dazu werden von den Werktätigen, darunter auch vielen Mitgliedern und Funktionären der SED, als wenig überzeugend bezeichnet.
Beachtenswert ist, dass sich eine Vielzahl von Werktätigen, z. T. auch Parteigruppen bzw. Arbeits- oder Gewerkschaftskollektive, direkt an zentrale Staats- und Parteiorgane wendet, um ihrer ablehnenden Haltung Nachdruck zu verleihen.
In den Diskussionen der Werktätigen wird mit unterschiedlicher Schärfe, mehrfach auch mit Angriffen auf die Politik von Partei und Regierung verbunden, die Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass diese Festlegung nochmals überdacht und korrigiert wird.
Bestimmendes Argument dabei ist, diese Preisfestlegung sei nicht mehr Ausdruck einer Arbeiterpolitik in der DDR. Kein Arbeiter könne sich von seinem Arbeitslohn den Preis für dieses Auto zusammensparen.
Bei gleichbleibender Entwicklung der Preise und Einkommen werde künftig der Kauf eines Pkw nur noch für eine »privilegierte« Schicht bzw. für Spekulanten möglich sein. (Dabei wird auch oft darauf verwiesen, dass ein Auto für viele Bürger, vor allem in ländlichen Gegenden, kein Luxusgegenstand, sondern im Zusammenhang mit den z. T. unzureichenden Verkehrsmöglichkeiten unentbehrliches Transportmittel sei.)
In breitem Umfang werden von dem genannten Personenkreis Vergleiche zu gleichklassigen in den sozialistischen Staaten hergestellten Pkw-Typen vor allem hinsichtlich technischer Parameter und Design angestellt. Dabei wird der Preis für den »Wartburg 1.3« als unangemessen hoch angesehen und abgelehnt. Der Preis sei, so wird vielfach argumentiert, Ergebnis einer unökonomischen Erzeugnisentwicklung. Er sei Ausdruck der ungenügenden, nicht dem Weltstand entsprechenden Leistungskraft dieses Wirtschaftszweiges der DDR überhaupt.
Fraglich sei darüber hinaus, ob sich die in den Verlautbarungen genannten Investitionsmittel zur Produktion des »Wartburg 1.3« in einem solchen Maße im Preis niederschlagen dürften. Oft wird dabei auch mit einer gewissen Ironie auf die Forderung der Partei, mit moderner Technik müsse schneller und billiger produziert werden, verwiesen und die Frage gestellt, ob das für den »Wartburg 1.3« etwa nicht zutreffe.
In beachtlichem Umfang wird insbesondere von Arbeitern und Angestellten in Großbetrieben aber auch von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, darunter auch vielen Mitgliedern der SED u. a. progressiver Kräfte, die Preisfestlegung für den Pkw »Wartburg 1.3« im Zusammenhang gesehen mit Problemen in der planmäßigen Entwicklung der Leistungskraft der Volkswirtschaft und dazu der Standpunkt vertreten, sie sei Ausdruck der angespannten und komplizierten Lage auf diesem Gebiet und einer damit einhergehenden inflationären Preisentwicklung bei Konsumgütern insgesamt. In diesem Zusammenhang wird dazu mehrfach geäußert, diese Preispolitik richte sich direkt gegen die Werktätigen, da auf sie ökonomische Schwierigkeiten abgewälzt würden.
Sich zu diesen Problemen in einzelnen Gesprächen, in ihren Arbeitskollektiven oder auf Versammlungen äußernde Personen vertreten häufig, vor allem unter Hinweis auf die umfangreichen Subventionen, die Auffassung, die DDR habe sich im sozialpolitischen Bereich »übernommen«. Kein Staat könne es sich unter heutigen Bedingungen leisten, einen so großen Anteil des Nationaleinkommens für die Zahlung von Subventionen zu verausgaben.
Besonders häufig werden die Subventionen für Grundnahrungsmittel als nicht mehr zeitgemäß beurteilt. Eine Erhöhung dieser Preise würde sich regulierend hinsichtlich eines sparsameren Verbrauchs, aber auch ihrer missbräuchlichen Verwendung, z. B. als Futtermittel, auswirken. Es nütze doch keinem Arbeiter, so wird geäußert, wenn die Brötchen nur 5 Pfennige kosten, ein Wartburg aber für ihn unerschwinglich ist. Vom Leben erwarte man mehr als billige Brötchen.
Die »Preisexplosion« bei Konsumgütern wirke sich ihrer Meinung nach immer spürbarer negativ auf das politische Engagement und die Leistungsbereitschaft der Werktätigen aus. In ihrer Relation zur Entwicklung der Preise seien die Arbeitseinkommen nicht mehr leistungsstimulierend. Vor allem Arbeiter äußerten, dass allein mit ehrlicher Arbeit das erreichte Lebensniveau nicht mehr gehalten werden könne.
Die ungünstige Entwicklung des Lohn-Preis-Gefüges habe in der DDR immer deutlicher spürbar zur Herausbildung krasser sozialer Unterschiede geführt, die zunehmend unerträglicher würden. Es hätten sich, so wird von dem genannten Personenkreis geäußert, in diesem Sinne drei »Klassen« entwickelt: Werktätige mit ihrem normalen Arbeitseinkommen, Personen die über »Westgeld« verfügen sowie Schieber und Spekulanten.
In der DDR-Bevölkerung sei die Tendenz weiter zunehmend, sich durch spekulative Handlungen bzw. Auf- und Ausbau von Kontakten/Verbindungen zu Personen aus dem NSW in den Besitz von Mitteln zum Erwerb von hochwertigen Konsumgütern zu bringen. Unser Geld verliere dabei zunehmend an Wert.
In diesem Zusammenhang werden häufig solche Fragen gestellt, wie diese Entwicklung mit den Beschlüssen und Orientierungen der SED zur Verbesserung des Lebensniveaus der Werktätigen zu vereinbaren und ob die Losung »Alles zum Wohle des Volkes« überhaupt noch aktuell sei.
Wiederholt sprechen Arbeiter dabei die Erwartung, z. T. auch Forderung aus, der FDGB müsse hinsichtlich dieser Probleme wirksamer seiner Verantwortung als Interessenvertreter der Werktätigen gerecht werden und in ihrem Sinne spürbarer Einfluss auf zentrale Entscheidungen nehmen.