Reaktionen der Bevölkerung auf die KPdSU-Unionsparteikonferenz
11. Juli 1988
Hinweise über beachtenswerte Aspekte aus der Reaktion der Bevölkerung auf die XIX. Unionsparteikonferenz der KPdSU [Bericht O/205]
Nach vorliegenden Informationen aus allen Bezirken der DDR, einschließlich der Hauptstadt Berlin, wurde die XIX. Unionsparteikonferenz der KPdSU1 insbesondere von politisch engagierten und interessierten Bürgern in allen Bevölkerungskreisen der Republik mit Interesse verfolgt und hat eine Vielzahl von Meinungsäußerungen ausgelöst.
Generell wird die offene, freimütige und kritische Atmosphäre auf der Konferenz – das betrifft die Rede des Genossen Gorbatschow sowie die Diskussionsbeiträge der Delegierten – hervorgehoben und mit Befriedigung festgestellt, dass nicht nur Probleme der sozialistischen Entwicklung der UdSSR angesprochen wurden, sondern in allen Beiträgen die Suche nach Lösungswegen erkennbar war. In breitem Umfang wird die Auffassung vertreten, diese Konferenz sei von großer Bedeutung gewesen, und als DDR-Bürger habe man einen umfangreichen Überblick über die Vielfalt der in der Sowjetunion anstehenden und einer Lösung harrenden Probleme erhalten.
Die sich äußernden Bürger vertreten sowohl zum strategischen Konzept der KPdSU als auch zu einzelnen während der Konferenz aufgeworfenen Problemen differenzierte Auffassungen.
Die überwiegende Mehrzahl der sich äußernden Bürger bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass es der Partei- und Staatsführung in der Sowjetunion gelingen möge, den Kurs der Umgestaltung erfolgreich fortzusetzen, um in allen gesellschaftlichen Bereichen die angestrebten und erforderlichen Ergebnisse zu erreichen. In diesem Zusammenhang wird hervorgehoben, der Bericht des Genossen Gorbatschow habe eindrucksvoll aufgezeigt, dass die Führung der KPdSU die erforderliche Dynamik, Wissenschaftlichkeit und Konsequenz entwickelt habe, um die eingeleiteten Prozesse der Umgestaltung zu spürbaren Erfolgen zu führen. Besonders begrüßt werden die grundlegenden Ausführungen des Genossen Gorbatschow zur Wirtschaftsreform und zum Demokratisierungsprozess. Die sich hierzu äußernden Bürger sehen gerade im radikalen Vorgehen auf diesen Gebieten einen Weg, den Sozialismus nach außen und innen attraktiver zu gestalten. Dabei wird betont, die neue gesellschaftliche Atmosphäre der Offenheit und des Schöpfertums habe einen positiven Einfluss auf die Weiterführung des Entspannungsprozesses in der Welt und stärke das internationale Ansehen der Sowjetunion. Zustimmung findet die auf der Konferenz getroffene Feststellung, für die Verwirklichung der »Perestroika« sei das Engagement jedes Bürgers gefragt, und die »ewigen Nörgler« müssten ihren eigenen Beitrag nachweisen. Die Offenheit der Konferenz wird als wohltuend empfunden, da diese das Vertrauensverhältnis zwischen den Werktätigen und der Parteiführung stärke.
Von einer großen Anzahl von Bürgern, insbesondere Mitgliedern und Funktionären der SED und anderen progressiven Kräften in allen Bevölkerungskreisen, darunter vorrangig der älteren Generation angehörenden, wird neben Zustimmung zu den Maßnahmen der »Perestroika« Besorgnis über Umfang, Tiefe und Form der Auseinandersetzung auf der Konferenz zum Ausdruck gebracht. Unter diesen Personenkreisen zeigt sich Betroffenheit über die Fülle der anstehenden Probleme und der dargelegten Fehler der Vergangenheit. Häufig wird betont, dass durch die offene Darlegung der vielfältigsten Probleme in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion einem erst jetzt richtig bewusst werde, wie kompliziert die Situation in der UdSSR tatsächlich ist. Eine Verbesserung der auf der Konferenz geschilderten Lage erscheine sehr kompliziert, da die erforderlichen Kader für eine erfolgreiche Fortführung der Umgestaltung erst herangebildet werden müssten. Hinzu käme, dass aufgrund der Vielfalt der Probleme und der Widerstände gegen die Umgestaltung die Gefahr bestünde, dass die Parteiführung die Situation nicht beherrsche, sozialismusfeindliche Kräfte dadurch zunehmend Einfluss erlangen und die Parteiführung infolge zunehmender Ausschreitungen, Demonstrationen und Streiks zum Verlassen des Kurses der Umgestaltung veranlasst werden könnte.
Vorgenannte Personenkreise äußern sich zur derzeitigen Geschichtsbetrachtung in der Sowjetunion dahingehend, dass man über die Schärfe der Auseinandersetzung mit Fehlern führender Persönlichkeiten in der UdSSR bestürzt sei. Es wird die Frage aufgeworfen, warum gegenwärtig in der Sowjetunion die vergangene gesellschaftliche Entwicklung so negativ dargestellt werde. Es entstünde der Eindruck, nach Lenins Tod seien in der UdSSR nur noch Fehler gemacht worden, und es habe in der Folgezeit keine erfolgreiche Entwicklung mehr gegeben. Derartige Betrachtungsweisen, so wird weiter hervorgehoben, können sich deprimierend auf das Sowjetvolk auswirken und Vertrauensverluste zur Politik der Partei nach sich ziehen. Zu erwarten seien auch politisch und ideologisch destabilisierende Wirkungen in anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft, da das derzeitig gezeichnete UdSSR-Bild dem bisherigen völlig widerspreche.
In diesem Zusammenhang sind zunehmend kritische Meinungsäußerungen vor allem von Arbeitern, Angestellten und Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz beachtenswert, wonach Genosse Gorbatschow seine Kritik gegenüber seinen Vorgängern übertreiben und er seine eigene Rolle und die Ergebnisse unter seiner Führung zu sehr hervorheben würde. Er suche Rückhalt in Leninzitaten, da er glaube, damit alles kritiklos durchsetzen zu können, jedoch werde auch ihn die Geschichte eines Tages beurteilen. Überhaupt habe – so argumentieren wiederholt besonders Parteimitglieder – die offene Fehlerdiskussion auch in den Medien der UdSSR ein unvertretbares Ausmaß angenommen, zeige Züge des Anarchismus und komme z. T. dem bürgerlichen Pluralismus sehr nahe. Die praktisch ausschließlich negative Geschichtsbetrachtung nach dem Tode Lenins sei eine Ungerechtigkeit gegenüber den vielen ehrlichen Kommunisten in der Sowjetunion, die sich in vielen Jahrzehnten für die Entwicklung ihres Landes eingesetzt und aufgeopfert haben.
In den Reaktionen wird Bezug genommen auf inhaltliche Schwerpunkte der Rede des Genossen Gorbatschow auf der Konferenz und oft ein Vergleich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR hergestellt. Dabei dominiert die Auffassung, dass beide Länder ihren eigenen Weg zum Sozialismus gehen und eine Kopierung den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus widersprechen würde. Gleichzeitig wird aber zum Ausdruck gebracht, dass unsere Partei einige in der UdSSR aufgeworfene Probleme ebenfalls berücksichtigen und selbst neue erfolgversprechende Wege gehen sollte. Es wird betont, in der DDR, insbesondere in den Betrieben und Verwaltungen, ehrlicher und schonungsloser bei dem Benennen und der Bekämpfung von Schlamperei und Misswirtschaft vorzugehen, konsequenter Arbeitsbummelei und Schmarotzertum anzusprechen.
Insbesondere wirtschaftsleitende Kader aus allen volkswirtschaftlichen Bereichen sind der Auffassung, dass es notwendig sei, Mängel in der Volkswirtschaft schneller zu überwinden. Dabei wären analog der Vorgehensweise in der Sowjetunion Methoden der wirtschaftlichen Rechnungsführung, der Eigenerwirtschaftung der Mittel und der auf Gewinn orientierten Steigerung der Arbeitsproduktivität besonders geeignet. Mit der Trennung der Verantwortung von Partei und Staat könnte auch in der DDR vermieden werden, dass sich die Partei in Entscheidungen einmischt, die ausschließlich Fachleuten zukämen.
Von Angehörigen aus dem Bereich des Außenhandels wird Besorgnis dahingehend geäußert, dass die sich auf ökonomischem Gebiet vollziehenden Neuerungen in der UdSSR, wie die Dezentralisierung des Außenhandels, die geplante Einführung der freikonvertierbaren Währung innerhalb des RGW und die Eröffnung völlig neuer Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit kapitalistischen Industrieländern, für die DDR zu großen Nachteilen führen können, wenn nicht wenigstens teilweise auch derartige Neuerungen bei uns eingeführt werden.
Von Mitgliedern und Funktionären der Partei, Mitarbeitern staatlicher Organe sowie der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz wird in Meinungsäußerungen hervorgehoben, dass die von Genossen Gorbatschow vorgeschlagene zeitliche Begrenzung für die Ausübung von Wahlfunktionen im Partei- und Staatsapparat auch in der DDR zum Gegenstand öffentlicher Diskussion gemacht werden sollte. Man erwarte von einer solchen Festlegung größere Flexibilität in der Politik und schnelleres Reagieren auf sich verändernde Bedingungen sowie Verhinderung bürokratischer Denk- und Verhaltensweisen, vor allem im Staatsapparat. Mit einer solchen Maßnahme würde Erscheinungen des Karrierismus und der »Betriebsblindheit« vorgebeugt. Andererseits werden jedoch nachteilige Wirkungen für die gesellschaftliche Entwicklung gesehen, da für die Ausübung insbesondere von leitenden Partei- und Staatsfunktionen ein großer Erfahrungsschatz erforderlich sei.
Die auf der XIX. Unionskonferenz erfolgten Ausführungen zur Reform des politischen Systems sowie zur Gestaltung des sozialistischen Rechtsstaates bieten – so wird von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz hervorgehoben – für feindlich-negative Kräfte im Innern der DDR breite Ansatzpunkte für vielfältige Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR.
Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang Einzelmeinungen leitender Funktionäre aus den Bereichen der Volkswirtschaft und der Akademie der Wissenschaften. Danach sei die offene kritische Atmosphäre der Konferenz begrüßenswert, obwohl die Proportionen zwischen Kritik zur Vergangenheitsbewältigung und klaren Vorstellungen über die Perspektiven und Wege ihrer schnellen Lösung zu Ungunsten des Letzteren verschoben seien. Es dürfe die Gefahr nicht unterschätzt werden, dass feindlich-negative Kräfte in noch stärkerem Maße die »Demokratisierungswelle« in der UdSSR für ihre Interessen ausnutzen werden. Der Bericht des Genossen Gorbatschow auf der Konferenz stelle den Versuch dar, die bisher eingeschlagene Politik umfassend zu rechtfertigen, Widersprüche aufzudecken und die Partei zur beschleunigten Durchsetzung der Politik der »Perestroika« und von »Glasnost« zu mobilisieren. Das Ganze stelle sich als widersprüchliches Bild dar, weil noch nicht alles ausgereift erscheine und auch nicht eindeutig beantwortet werde. Das beträfe insbesondere die nationale Frage. Es stelle sich die Frage, warum die Ursachen, die zu Widersprüchen zwischen den Nationalitäten in der UdSSR führten, nicht offengelegt wurden und eine klare Antwort auf die Lösung des Problems ausbleibe. Außerdem befriedige die ökonomische und soziale Lage in der UdSSR nicht, obwohl man nach drei Jahren Umgestaltungspolitik noch keine Riesenergebnisse erwarten könne. Wenn die Ökonomie das Hauptkampffeld sei und bleibe, warum sei dann noch keine in sich geschlossene ökonomische Konzeption vorhanden. Die Negation einer ökonomischen Befehlswirtschaft reiche hier nicht aus. Klar sei, dass die sowjetische Gesamtproblematik nicht auf die DDR übertragen werden könne. Die DDR wäre jedoch schlecht beraten, würde sie nicht aus einer Reihe von Fragen, Gedanken, Schwächen u. a. Schlussfolgerungen ziehen.
Vielfach kommt in Meinungsäußerungen unterschiedlichster Bevölkerungskreise Unverständnis über die Behandlung der XIX. Unionskonferenz in den DDR-Medien zum Ausdruck. So seien die Originalübertragungen weder durch Funk noch durch die Presse angekündigt worden, und die Meldungen in der »Aktuellen Kamera« und im Rundfunk seien im Vergleich zur Berichterstattung über das Internationale Treffen für kernwaffenfreie Zonen äußerst dürftig ausgefallen.
In Meinungsäußerungen von Angehörigen aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften wurde hervorgehoben, dass während der Unionskonferenz bestimmte Fragen aufgeworfen wurden, die auch in der DDR Probleme darstellen, und mangelnde Offenheit zu Erscheinungen von Resignation und zu Positionen des Abwartens führen kann. Es bestünde ein großes Informationsbedürfnis der Parteimitglieder an gesellschaftspolitischen Problemen in der Sowjetunion, weswegen es erforderlich sei, dass ihnen über den Weg von Parteiinformationen, durch differenzierte Berichte in verschiedenen Medien der DDR, durch ungehinderte und organisierte Verbreitung der von der UdSSR in der DDR angebotenen Literatur Ergebnisse der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung der UdSSR zugänglich gemacht werden. Das werde deshalb für notwendig erachtet, um, wie Genosse Erich Honecker in seinem Artikel zum 43. Jahrestag der Befreiung in der »Prawda« geschrieben hat, voneinander zu lernen, ohne zu kopieren.
Häufig wird die Erwartung ausgedrückt, dass sich im Ergebnis der Veröffentlichungen aller Konferenzmaterialien in der DDR eine breite öffentliche und parteiinterne Diskussion entfalten werde.