Reaktionen der Bevölkerung auf Versorgungsprobleme (Kurzfassung)
16. Januar 1988
Hinweise über einige beachtenswerte Aspekte der Reaktion der Bevölkerung zu Problemen des Handels und der Versorgung [Bericht O/196b – Kurzfassung]
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen nehmen in der Hauptstadt und allen Bezirken der DDR Meinungsäußerungen breitester Kreise der Bevölkerung zu Fragen des Handels und der Versorgung an Umfang und Intensität ständig zu. Sie sind vorherrschendes Thema zahlreicher Diskussionen in Arbeitskollektiven, werden aber auch zunehmend in Versammlungen gesellschaftlicher Organisationen in Betrieben und Wohngebieten angesprochen.
Diesbezügliche Meinungsäußerungen sind schärfer und in der Aussage kritischer geworden.
Trotz Anerkennung einer kritischeren und realistischeren Darstellung dieser Probleme auf der 5. Tagung des ZK der SED1 bleibt diese Grundtendenz bestehen.
Viele Diskussionen widerspiegeln in wachsendem Maße Unmut und Unverständnis, insbesondere unter Hinweis auf immer offener zutage tretende Angebots- und Sortimentslücken bei Waren unterschiedlichster Erzeugnisgruppen, Qualitätsmängel bei Industriewaren und hochwertigen Konsumgütern, diskontinuierliche Warenlieferungen, auch bei Grundnahrungsmitteln, fehlende Ersatzteile und unvertretbar lange Wartezeiten in den Dienstleistungs- und Serviceeinrichtungen, besonders im Kfz-Reparaturbereich, sowie auf die als ungerechtfertigt bezeichneten Preisrelationen im Delikat- und Exquisithandel.
Es häufen sich Hinweise aus allen Bezirken über Diskussionen von Werktätigen, in denen zentralen bzw. territorialen Organen die Fähigkeit abgesprochen wird, die seit Jahren andauernden und in jüngster Zeit zugespitzten Versorgungsprobleme im Interesse der Werktätigen zu lösen.
Entsprechende zentrale Aufgabenstellungen und Orientierungen werden oftmals als nichteingelöste Versprechen gewertet und als nicht mehr glaubhaft bezeichnet. Immer häufiger werden Vergleiche des derzeitigen Warenangebots, der Preise und der Einkommensstruktur mit der Situation vor Jahren angestellt und ein Absinken des Lebensniveaus und des Realeinkommens konstatiert.
Verbreitet werden Vermutungen über Ursachen der derzeitigen Versorgungssituation geäußert. Diese reichen von Auffassungen über die Unfähigkeit entscheidungsbefugter Mitarbeiter staatlicher Organe und des Handels im Territorium, über das Unvermögen der Industrie und des Handels, sich rechtzeitig auf den Bedarf und die Ansprüche der Bevölkerung einzustellen, bis hin zu solchen Behauptungen, die manipulierte Berichterstattung von unten nach oben lasse die Partei- und Staatsführung in Unkenntnis über die reale Lage und verhindere damit ein angemessenes Reagieren auf diese Situation.
Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre und Mitarbeiter staatlicher Organe sowie Wirtschaftskader der unteren Ebene äußerten, ihnen würde immer zwingender die Frage nach den tatsächlichen Ursachen für die sich häufenden Probleme auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung gestellt, verbunden mit der Forderung, die dafür Verantwortlichen offen zu benennen und sie ohne Ansehen der Person zur Verantwortung zu ziehen.
Häufig sei zu verzeichnen, dass der Forderung, den Bürgern auf die sie bewegenden Probleme eine offene Antwort zu geben, ausgewichen wird, sodass der Eindruck entsteht, dass es den angesprochenen Funktionären an überzeugenden Argumenten fehle, eine gewisse Ratlosigkeit vorhanden sei und kaum befriedigende Lösungswege aufgezeigt werden könnten.
In wachsendem Maße und häufig mit Wissen und Duldung der zuständigen Leiter nutzen Arbeiter und Angestellte in Betrieben, staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen die Arbeitszeit für z. T. mehrstündige Einkäufe bzw. verlassen aus diesen Gründen vorzeitig ihren Arbeitsplatz.
Bei angekündigten bzw. erfolgten Warenlieferungen bilden sich vielfach Käuferschlangen vor Verkaufseinrichtungen, z. T. ohne konkrete Kenntnisse der Wartenden über das Warenangebot. Mitarbeiter des Handels, insbesondere Verkaufspersonal, verweisen auf ein zunehmend aggressives Auftreten der Kunden beim Nichterhalt verlangter Waren.