Reaktionen der Bevölkerung auf Versorgungsprobleme (Langfassung)
12. Januar 1988
Hinweise über einige beachtenswerte Aspekte der Reaktion der Bevölkerung zu Problemen des Handels und der Versorgung [Bericht O/196a – Langfassung]
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen nehmen in der Hauptstadt und allen Bezirken der DDR Meinungsäußerungen breitester Kreise der Bevölkerung zu Fragen des Handels und der Versorgung an Umfang und Intensität ständig zu. Sie sind vorherrschendes Thema zahlreicher Diskussionen in Arbeitskollektiven, werden aber auch zunehmend in Versammlungen gesellschaftlicher Organisationen in Betrieben und Wohngebieten angesprochen. Diesbezügliche Meinungsäußerungen sind schärfer und in der Aussage kritischer geworden. Trotz Anerkennung einer kritischeren und realistischeren Darstellung dieser Probleme auf der 5. Tagung des ZK der SED1 bleibt diese Grundtendenz bestehen.
Viele Diskussionen widerspiegeln in wachsendem Maße Unmut und Unverständnis, insbesondere unter Hinweis auf immer offener zutage tretende Angebots- und Sortimentslücken bei Waren unterschiedlichster Erzeugnisgruppen, Qualitätsmängel bei Industriewaren und hochwertigen Konsumgütern, diskontinuierliche Warenlieferungen, auch bei Grundnahrungsmitteln, fehlende Ersatzteile und unvertretbar lange Wartezeiten in den Dienstleistungs- und Serviceeinrichtungen, besonders im Kfz-Reparaturbereich, sowie auf die als ungerechtfertigt bezeichneten Preisrelationen im Delikat- und Exquisithandel.
(In allen Bezirken der DDR ist auch eine erhebliche Zunahme von im Ton sehr kritisch gehaltenen Eingaben, immer häufiger auch Kollektiveingaben, an zuständige staatliche Organe und Handelsfunktionäre auf Kreis- und Bezirksebene aber auch an zentrale Staatsorgane zu Fragen des Handels und der Versorgung feststellbar, ohne dass bisher eine für die Bürger spürbare Verbesserung der Situation erreicht wurde.)
In den häufig sehr emotional geprägten, teilweise auch spontan entstehenden Diskussionen zu Versorgungsproblemen kristallisieren sich zunehmend folgende beachtenswerte Argumentationen heraus:
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Die gegenwärtige Versorgungslage trage nicht dazu bei, den Sozialismus attraktiver und anziehender zu machen.
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Man sollte in der jetzigen Situation nicht mehr versuchen, die ständig wachsenden Versorgungsprobleme und Preissteigerungen mit dem Argument von stabilen Preisen bei Grundnahrungsmitteln wegzudiskutieren.
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Wenn sich bei uns nicht bald etwas ändert, können wir die Menschen nicht mehr für den Sozialismus begeistern.
Progressive Kräfte weisen darauf hin, dass Diskussionen zu Versorgungsfragen auch immer nachhaltiger von Personen mit beeinflusst werden, die nach erfolgten Reisen in die BRD/Westberlin in ihren Arbeitskollektiven ausführlich über das dort vorgefundene »überwältigende« Warenangebot, über die große Sauberkeit und Ordnung in den Geschäften und Orten, über pünktliches sowie bequemes Reisen mit der Bundesbahn berichten und dabei Vergleiche mit der Lage auf diesen Gebieten in der DDR anstellen.
Wiederholt wird die Frage aufgeworfen, warum bekommt man in der BRD im Gegensatz zur DDR alles zu kaufen; auch hier bei uns arbeiten die Menschen fleißig.
Es häuften sich Hinweise aus allen Bezirken über Diskussionen von Werktätigen, in denen zentralen bzw. territorialen Organen die Fähigkeit abgesprochen wird, die seit Jahren andauernden und in jüngster Zeit zugespitzten Versorgungsprobleme im Interesse der Werktätigen zu lösen.
Entsprechende zentrale Aufgabenstellungen und Orientierungen werden oftmals als nichteingelöste Versprechen gewertet und als nicht mehr glaubhaft bezeichnet. Immer häufiger werden Vergleiche des derzeitigen Warenangebots, der Preise und der Einkommensstruktur mit der Situation vor Jahren angestellt und ein Absinken des Lebensniveaus und des Realeinkommens konstatiert.
Verbreitet werden Vermutungen über Ursachen der derzeitigen Versorgungssituation geäußert. Diese reichen von Auffassungen über die Unfähigkeit entscheidungsbefugter Mitarbeiter staatlicher Organe und des Handels im Territorium, über das Unvermögen der Industrie und des Handels, sich rechtzeitig auf den Bedarf und die Ansprüche der Bevölkerung einzustellen, bis hin zu solchen Behauptungen, die manipulierte Berichterstattung von unten nach oben lasse die Partei- und Staatsführung in Unkenntnis über die reale Lage und verhindere damit ein angemessenes Reagieren auf diese Situation.
Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre und Mitarbeiter staatlicher Organe sowie Wirtschaftskader der unteren Ebene äußerten, ihnen würde immer zwingender die Frage nach den tatsächlichen Ursachen für die sich häufenden Probleme auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung gestellt, verbunden mit der Forderung, die dafür Verantwortlichen offen zu benennen und sie ohne Ansehen der Person zur Verantwortung zu ziehen.
Es falle ihnen jedoch immer schwerer, auf entsprechende Fragen und Diskussionen der Werktätigen mit überzeugenden Argumenten zu antworten. Aus diesem Grund sei – so wird von Werktätigen behauptet – auch vielerorts feststellbar, dass Parteifunktionäre sowie Mitarbeiter staats- und wirtschaftsleitender Organe Gesprächen mit Werktätigen sowohl in Betrieben als auch in Wohngebieten über die sie bewegenden Probleme ausweichen. Sofern solche Gespräche zustande kämen, entstünde des Öfteren der Eindruck, die Funktionäre seien ratlos bzw. nicht in der Lage oder überfordert, derartige Fragen zu beantworten bzw. für aufgezeigte Probleme akzeptable Lösungswege aufzuzeigen. Vielfach werde dann versucht, von den eigentlichen Fragen und Problemen abzulenken und nur die »große Linie« zu erläutern.
Bedingt durch über Jahre anstehende und bisher nicht gelöste Probleme, besonders auf dem Gebiet des Handels, würden unter Mitarbeitern staatlicher Organe, unter Handelsfunktionären und Mitarbeitern des Handels Resignationserscheinungen und solche negativen Verhaltensweisen wie mangelnde Entschlusskraft, Ablehnung von Verantwortung, Ausweichen vor Auseinandersetzung zunehmen.
Darüber hinaus sei nach ihren Feststellungen unter Werktätigen ein Nachlassen der Arbeitsdisziplin und -moral, ein Rückgang in der Bereitschaft zur Übernahme von Verpflichtungen und zum Ableisten von Überstunden zu beobachten.
In wachsendem Maße und häufig mit Wissen und Duldung der zuständigen Leiter nutzen Arbeiter und Angestellte in Betrieben, staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen die Arbeitszeit für z. T. mehrstündige Einkäufe bzw. verlassen aus diesem Gründen vorzeitig ihren Arbeitsplatz.
Bei angekündigten bzw. erfolgten Warenlieferungen bilden sich vielfach Käuferschlangen vor Verkaufseinrichtungen, z. T. ohne konkrete Kenntnisse der Wartenden über das Warenangebot. Mitarbeiter des Handels, insbesondere Verkaufspersonal, verweisen auf ein zunehmend aggressiveres Auftreten der Kunden beim Nichterhalt verlangter Waren.
Diese nach Auffassung vorgenannter Personenkreise an Umfang und Ausmaß immer größer und für jeden Werktätigen sichtbarer werdender Probleme gäben immer mehr Anlass für ernste Befürchtungen hinsichtlich der abstrichlosen Realisierung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED.2
Hauptgegenstand außerordentlich kritischer Meinungsäußerungen auch in diesem Zusammenhang ist die Medienpolitik der DDR. Charakteristisch für viele diesbezügliche Äußerungen ist das Argument, von den DDR-Massenmedien würde ständig ein rosa-rot gefärbtes Bild der Entwicklung der Volkswirtschaft präsentiert werden, das im krassen Widerspruch zum täglichen Erlebten stehe.
Es bestünde – so wird weiter argumentiert – die Gefahr, dass bei Fortsetzung derartiger Veröffentlichungen die Partei, bezogen auf ihre Wirtschaftspolitik, erheblich an Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Werktätigen einbüße.