Selbsthilfegruppe von Antragstellern in Brandenburg/ Havel
7. März 1988
Information Nr. 119/88 über die Haltung und Aktivitäten kirchlicher Amtsträger zur Bildung einer sogenannten Selbsthilfegruppe Übersiedlungsersuchender in Brandenburg
Dem MfS war Mitte Februar 1988 intern bekannt geworden, dass die Gemeindepfarrer Gümbel und Zorn sowie der Sozialdiakon Pagel aus Brandenburg beabsichtigten, eine sogenannte Selbsthilfegruppe übersiedlungsersuchender in der St.-Gotthardt-Gemeinde in Brandenburg zu bilden.1 In Verwirklichung dieses Zieles planten sie unter dem Deckmantel seelsorgerischer Betreuung, übersiedlungsersuchenden Personen aus Brandenburg kircheneigene Räumlichkeiten der Gemeinde für Zusammenkünfte zur Verfügung zu stellen und ihnen dadurch zu ermöglichen, sich organisatorisch zusammenzuschließen. Unmittelbar nach Bekanntwerden dieser Absicht wurden durch die zuständigen staatlichen Organe entsprechende Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung dieses Vorhabens eingeleitet. Gegenüber den genannten kirchlichen Kräften wurde in mehreren Gesprächen unmissverständlich erklärt, dass alle im Zusammenhang mit der Übersiedlung von DDR-Bürgern in das nichtsozialistische Ausland stehenden Verfahrensfragen ausschließlich Angelegenheit der zuständigen staatlichen Organe der DDR sind. Es wurde die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht, dass ihrerseits von dem Vorhaben Abstand genommen und alles unterlassen wird, was das Verhältnis Staat – Kirche belastet. Während der Gespräche zeigten sich die Personen uneinsichtig und erklärten, aus seelsorgerischer Pflicht handeln zu müssen.
Im Ergebnis weiterer staatlicher Einflussnahme wurde erreicht, dass Generalsuperintendent Bransch/Potsdam und Superintendent Koopmann/Brandenburg sich mehrfach – ebenfalls ergebnislos – dafür einsetzten, dass die genannten Personen von ihrem Vorhaben Abstand nehmen.
Trotz intensiver staatlicher und interner Einflussnahme auf loyale kirchliche Kräfte im Gemeinde- und Kreiskirchenrat stimmten – insbesondere durch intensives Wirksamwerden des Gemeindepfarrers Gümbel – sechs der insgesamt elf Mitglieder des Gemeindekirchenrates der St.-Gotthardt-Gemeinde dafür, Übersiedlungsersuchenden Personen kircheneigene Räume für Zusammenkünfte zur Verfügung zu stellen und derartigen Personenkreisen am 4. März 1988 die Durchführung einer konstituierenden Sitzung der sogenannten Selbsthilfegruppe zu ermöglichen. Intern wurde weiterhin bekannt, dass Gemeindepfarrer Zorn fortgesetzt vielfältige Einzelgespräche mit Übersiedlungsersuchenden geführt hat, in denen er ihnen die Bildung des Personenzusammenschlusses zusicherte.
Mit dem Ziel der weiteren Aufklärung der damit verfolgten Absichten und der Eingrenzung des Teilnehmerkreises wurden entsprechend dem zentral abgestimmten Vorgehen mehrere Übersiedlungsersuchende vor Beginn der Veranstaltung am 4. März 1988 zur Durchführung von Vorbeugungsgesprächen zugeführt. Die Befragungen ergaben bei allen Personen gleiche Zielstellungen für die beabsichtigte Bildung der »Selbsthilfegruppe« entsprechend bereits erfolgter Abstimmungen und Instruierungen. Die Befragten gaben an, durch Äußerungen der genannten kirchlichen Kräfte darin bestärkt worden zu sein, dass sie mit ihren Handlungen in der Kirche keine Gesetze verletzen und den Beistand der Kirche gegenüber staatlichen Organen bei der Durchsetzung ihrer Übersiedlungsersuchen, einschließlich des Schutzes vor strafrechtlichen Sanktionen, erhalten. Auf der Grundlage zentraler Entscheidungen wurden gegenüber den Befragten keine Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie wurden verwarnt und eingehend belehrt, jegliche Handlungen zu unterlassen, die geeignet sind, die öffentliche Ordnung und das Zusammenleben der Bürger zu stören. (3 Personen lehnten die Unterschrift unter die Belehrung ab.)
Gegen weitere Personen, die in diesem Zusammenhang bekannt wurden, erfolgte die Einleitung und Durchführung entsprechender Kontrollmaßnahmen.
Am 4. März 1988, in der Zeit von 20.00 Uhr bis 21.55 Uhr fand im Gemeinderaum der St.-Gotthardt-Gemeinde die geplante Veranstaltung unter dem Thema: »Frieden und Freiheit« statt. An ihr nahmen ca. 120 Personen, darunter 30 Übersiedlungsersuchende, teil. Ein kirchlicher Mitarbeiter hatte jedem der Ankommenden ein Schriftstück (Zusammenstellung von Zitaten zum Begriff »Freiheit«) übergeben (Wortlaut siehe Anlage). Während der Veranstaltung, die von Gemeindepfarrer Gümbel in Anwesenheit von Gemeindepfarrer Zorn geleitet wurde, legten mehrere Übersiedlungsersuchende feindlich-negative Standpunkte dar. Sie forderten u. a. dazu auf, eine Arbeitsgruppe »Staatsbürgerschaftsrecht« in Brandenburg zu gründen, den 1. Mai zu einem »Kampftag« der Übersiedlungsersuchenden zu gestalten und dazu mit eigenen Forderungen geschlossen aufzutreten sowie die »Aktionsbereitschaft« von Übersiedlungsersuchenden überhaupt zu erhöhen. Zum Abschluss der Diskussion erklärte Gemeindepfarrer Gümbel, die Kirche werde entscheiden, wie es weitergehen soll. Er sei dafür, diesen Teilnehmerkreis beizubehalten, vor allem deshalb, weil kleinere Gruppen durch den Staat zerschlagen werden könnten.
In Fortführung weiterer offensiver abgestimmter Maßnahmen wurden seitens der zuständigen staatlichen Organe am 5. März 1988 mit Generalsuperintendent Bransch, Superintendent Koopmann und der Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates der St.-Gotthardt-Gemeinde erneut Gespräche geführt. Dabei wurde nachdrücklich die staatliche Erwartungshaltung wiederholt, dass kirchlicherseits alles unternommen wird, künftig derartige feindlich-negative Aktivitäten in kirchlichen Räumen zu unterbinden. Ausgehend von diesen Grundpositionen wurden den kirchlichen Gesprächspartnern mitgeteilt, dass nach sorgfältiger Prüfung die Entlassung der am 4. März 1988 zugeführten Personen erfolgte, nachdem sie umfassend, z. T. schriftlich, mit der Rechtslage sowie der staatlichen Erwartungshaltung vertraut gemacht wurden. Gegenüber den Gesprächspartnern wurde die Erwartung ausgesprochen, dass nun auch die Kirche das Ihre dazu tun müsse.
Generalsuperintendent Bransch nahm die Erklärung zur Kenntnis und betonte, er habe die Gesamtproblematik der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Berlin-Brandenburg dargelegt. Seine Position sei dort bestätigt worden. Auch die Kirchenleitung sei der Auffassung, dass die Kirche kein »Auswanderungsbüro« ist. Er versicherte, alles zu tun, um etwaige Wiederholungen künftig zu vermeiden.
Superintendent Koopmann distanzierte sich von der Veranstaltung. Die Gemeindekirchenratsvorsitzende gab an, die tatsächliche Zielstellung der Veranstaltung nicht erkannt zu haben, zeigte sich erfreut und erleichtert über die Freilassung der Zugeführten und erklärte, dass der Gemeindekirchenrat für eine derartige Veranstaltung nur eine einmalige Zustimmung gegeben habe.
Weiterführende Maßnahmen zur Disziplinierung der bekannten feindlich-negativen Kräfte, zur Zersetzung der Gruppierung und zur Unterstützung des Differenzierungsprozesses unter kirchlichen Kreisen werden fortgesetzt.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 119/88
Wortlaut des Schriftstückes, das den Teilnehmern der Veranstaltung am 4. März 1988 im Gemeinderaum der St.-Gotthardt-Gemeinde Brandenburg/Potsdam übergeben wurde
Erklärung Menschenrechte 1791 Artikel 4 – Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet.
Stimmen zur Freiheit
Dass Notwendig und Frei zwei Gegensätze sind, scheint mir unsinnig und vernunftswidrig …
Ich nenne also ein Ding frei, wenn es nur aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert und handelt, gezwungen aber, wenn es von einem anderen Ding bestimmt wird, in einer gewissen Weise zu existieren und zu handeln. (Spinoza – Philosoph)
Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. (Karl Marx)
Das Kreuz Christi ist der Aufstand der Freiheit, es ist der Aufstand des Geistes gegen die Unterjochung. Wer sich dem politischen Nützlichkeitsdenken hingibt, ignoriert das Kreuz Christi. (Nikolai Berdjajew – russ. Religionsphilosoph)
Der Begriff Freiheit bleibt hinter sich zurück, sobald er empirisch (aus der Erfahrung abgeleitet) angewandt wird. Das Interesse des Einzelnen besteht darin, das zu erhalten, was der Allgemeinbegriff ihm raubt und um ein mehr des Begriffs gegenüber seiner Bedürftigkeit.
Die Allianz von Freiheitslehre und repressiver Praxis entfernt die Philosophie mehr von genuiner Einsicht in Freiheit und Unfreiheit des Lebendigen. Die Gleichgültigkeit gegen die Freiheit, ihren Begriff und die Sache selbst, wird gezeitigt von der Integration der Gesellschaft, die dem Subjekt widerfährt, als wäre sie unwiderstehlich … Ihr Interesse daran, dass für sie gesorgt werde, hat das an einer Freiheit gelähmt, die sie als Schutzlosigkeit fürchten. (Theodor Adormo – Philosoph)
Das Prinzip der totalen Herrschaft ist … in der Öffentlichkeit hat jeder die freiwillige Form zu finden, was das Regime verlangt. In der Freiheit ist zwar das Verderben groß, das völlige Verderben möglich. Ohne Freiheit aber ist das Verderben gewiss. (Karl Jaspers – Philosoph)
Glaube ist die Teilhabe an der schöpferischen Freiheit Gottes. Ohne Freiheit im allumfassenden Sinn ist Glauben nicht möglich. (J. Moltmann – evang. Theologe)
Die Freiheit in der Kirche wird gefährdet durch Leute, die die Freiheit des Evangeliums gefährden, durch Nichtgeltenlassen anderer Gruppen. (R. Bohren – evang. Theologe)
Die Quintessenz des christlichen Glaubens ist nicht Frieden oder Gerechtigkeit, sondern Freiheit. (Mußner – kath. Theologe)
Literatur:
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Marx/Engels, Ges. Werke
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Kaesemann, Ruf der Freiheit
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Jaspers, Wahrheit und Bewährung
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Mußner, Theologie der Freiheit nach Paulus
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Adorno, Neg. Dialektik
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Lohfink, Heil als Befreiung
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Bohren, Prophetie und Wahrheit
Nur zum innerkirchlichen Gebrauch.
gez. Zorn (Pfarrer)