Situation in den Leitungen der Evangelischen Kirchen
2. März 1988
Information Nr. 113/88 über einige aktuelle Aspekte der Situation in den Kirchenleitungen der evangelischen Landeskirchen in der DDR
Nachfolgend wird über einige dem MfS vorliegenden Hinweise zur Lage in den evangelischen Landeskirchen der DDR informiert:
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Vorliegende interne Hinweise über erste Reaktionen der Bischöfe und kirchenleitender Gremien der evangelischen Landeskirchen in der DDR auf die geführten Gespräche seitens leitender Partei- und Staatsfunktionäre1 lassen in der Grundtendenz erkennen, dass mehrheitlich der Wille besteht, an der Linie des 6. März 19782 festzuhalten und das Verhältnis der Kirche zum Staat auch künftig im Sinne dieser Vereinbarungen zu gestalten.
Mit Ausnahme von Bischof Forck/Evangelische Landeskirche in Berlin-Brandenburg, distanzierten sich kirchenleitende Kräfte anderer Landeskirchen von den Organisatoren, Hintermännern und Teilnehmern der Provokation anlässlich der Kampfdemonstration der Werktätigen am 17. Januar 1988 in der Hauptstadt der DDR.
Betrachtenswert ist jedoch, dass diese Ereignisse nicht im Zusammenhang gesehen werden mit den fortgesetzten Bestrebungen feindlich-negativer Gruppierungen und Kräfte, unter dem Schutz der Kirche wirksam zu werden, kirchliche Einrichtungen und Veranstaltungen politisch zu missbrauchen und mit Unterstützung reaktionärer kirchlicher Kräfte staatsfeindliche Handlungen zu initiieren und zu organisieren.
Wiederholt wurde intern geäußert, derartige Vorgänge seien ausschließlich Sache der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg.
(Beachtenswert sind Feststellungen über zunehmende kritische Äußerungen kirchlicher Amtsträger und Laien gegenüber dem Kurs der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, insbesondere von Bischof Forck. So haben nach Äußerungen von Pfarrer Passauer im Anschluss an einen Gottesdienst am 28. Februar 1988 in der Sophienkirche 60 Gemeindepfarrer aus dem Bereich dieser Landeskirche Forck in einem Brief vorgeworfen, dass er sich zu sehr um Politik und zu wenig um die Gemeinden kümmere. Wie festgestellt wurde, handelt es sich dabei um einen offenen Brief des »Weißenseer Arbeitskreises« an Bischof Forck.)
Ähnliche Erscheinungen in anderen Landeskirchen werden zum Teil verharmlost und heruntergespielt. Nach wie vor wird auch das inkonsequente und taktierende Verhalten kirchlicher Amtsträger gegenüber feindlich-negativen Kräften mit dem angeblichen seelsorgerischen Auftrag der Kirchen begründet, sich um alle Menschen zu bemühen, die in »innere und äußere Not« geraten seien, unabhängig davon, wie die jeweilige »Notlage« zustande gekommen sei.
Erhebliche Diskussionen hat unter kirchenleitenden Kräften die in der Gesprächskonzeption »Zu prinzipiellen Fragen der Beziehungen zwischen Staat und Kirche«3 enthaltene und diesem Personenkreis vorgetragene Einschätzung ausgelöst, wonach sich die Kirche in staatliche Angelegenheiten einmischt und Anliegen erörtert, die ausschließlich in die Kompetenz des Staates, der Parteien oder gesellschaftlichen Organisationen gehören.
Bisherigen Hinweisen zufolge lehnen maßgebliche kirchenleitende Kräfte diese Wertung ab bzw. versuchen sie abzuschwächen. Teilweise wird der Versuch unternommen, für die entstandenen Belastungen im Verhältnis Staat – Kirche den Staat verantwortlich zu machen. So erklärte Bischof Leich auf einer Sitzung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, man müsse den Vorwurf zurückweisen, dass die Kirche die derzeitigen Probleme und Schwierigkeiten verursacht hätte. Sie sei lediglich mit »Folgeerscheinungen von Defiziten der Gesellschaft« konfrontiert, die sie nicht zu verantworten habe. Die Verschlechterung im Verhältnis Staat – Kirche resultiere aus Problemen, über die die Kirche schon seit Jahren reden wolle, wo aber der Staat Gespräche »verweigere«.
Ausgehend von dieser durch Bischof Leich vertretenen Grundposition kam auch der Vorstand der Konferenz Evangelischer Kirchenleitungen in der DDR zu der Feststellung, dass die staatliche Wertung des Inhalts und Verlaufs der 1. Vollversammlung der »Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« (12.–15. Februar 1988 in Dresden) eine »Fehlinterpretation« darstelle.
Eindeutig politisch realistische Standpunkte in diesen Fragen vertrat bisher nur Bischof Gienke/Greifswald.
Relativ einheitlich sind die Positionen kirchenleitender Kräfte zur Problematik der Übersiedlungsersuchenden. Ausgehend von ihren wiederholt bekräftigten Standpunkten, dass der Platz jedes Gemeindemitgliedes hier in diesem Land sei und ein Verlassen der DDR – sofern nicht dringende humanitäre Gründe vorliegen – nicht akzeptabel sei, werden die provokatorisch-demonstrativen Aktionen Übersiedlungsersuchender verurteilt.
Im Gegensatz zum Verhalten der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg wird die Einrichtung von besonderen Kontakt- oder Seelsorgestellen bzw. Büros in den Bereichen anderer Landeskirchen abgelehnt.
(Trotz intensiver Einflussnahme seitens zuständiger staatlicher Organe, besonders gegenüber Bischof Forck, hält die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg an ihrer in der Erklärung vom 4. Februar 1988 enthaltenen Bereitschaft zur Beratung und »seelsorgerischen Begleitung gegenüber ausreisewilligen« DDR-Bürgern fest.)
Dennoch besteht weitgehend Übereinstimmung zwischen den kirchenleitenden Kräften, dem Staat immer aufs Neue nahe zu legen, die Rechtsgrundlagen zum Reiseverkehr für alle DDR-Bürger »durchschaubarer« zu machen und zu veröffentlichen.
- 2.
Wie dem MfS streng intern bekannt wurde, bereitet sich Landesbischof Leich, Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, intensiv auf das für den 3. März 1988 vorgesehene Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, vor.
Bischof Leich hatte mit dem Leiter des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR, Oberkirchenrat Ziegler/Berlin, Vereinbarungen getroffen, um konzeptionelle Vorstellungen zur grundsätzlichen Fassung seiner Erklärung zu beraten.
Darüber hinaus trifft er am 2. März 1988 mit allen Landesbischöfen und Präsidenten der evangelischen Landeskirchen in der DDR zusammen, um seine Konzeption für das Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR zu erläutern und zu beraten.
Landesbischof Leich behalte es sich vor, in Abhängigkeit vom Gesprächsverlauf in seinen Ausführungen variabel zu sein.
Landesbischof Leich beabsichtige, den Dank für die Gesprächsmöglichkeit auszusprechen und die Gültigkeit der Grundsätze des 6. März 1978 hervorzuheben. Im Anschluss daran wolle er jedoch entsprechend seiner konzeptionellen Vorbereitung bestimmte gesellschaftspolitische Problemfelder ansprechen.
Im ersten Teil seines Vortrages will Bischof Leich die Bemühungen und konkreten Schritte der DDR und des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR persönlich zur Erhaltung und Sicherung des Friedens, für Abrüstung und für die Dialogbereitschaft würdigen. Die Erhaltung und Sicherung des Friedens sei, so wolle Leich betonen, das entscheidende Bindeglied zwischen Staat und Kirche in der DDR.
Leich werde zum Ausdruck bringen, dass im Ergebnis der Entwicklung nach dem Gespräch vom 6. März 1978 bemerkenswerte Fortschritte im Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der DDR erreicht worden seien, die es ermöglicht hätten, im Gespräch zu bleiben.
Landesbischof Leich wolle weiter darlegen, dass durch die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung auch neue gesellschaftliche Probleme entstanden seien, die erörtert und gemeinsam gelöst werden sollten. In diesem Sinne werde kirchlicherseits das Gespräch am 3. März 1988 als Fortsetzung des Gesprächs vom 6. März 1978 verstanden. Leich beabsichtige zu erklären, die Kirche wünsche ein noch kooperativeres Verhältnis zum Staat und erwarte dafür »verstärkt kontinuierliche Signale«.
Die Kirche verstehe sich nicht als »Oppositionspartei« oder »Instrument der Gegenpropaganda«; sie wolle jedoch einen eigenständigen gesellschaftspolitischen Beitrag in der sozialistischen Gesellschaft leisten. In diesem Sinne betrachte Leich auch bestimmte gesellschaftliche Problemfelder, die im Dialog einer Lösung zugeführt werden könnten.
Folgende Komplexe wolle Landesbischof Leich in diesem Zusammenhang ansprechen:
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Fragen der »Rechtssicherheit« für Übersiedlungsersuchende.
(Die Kirche erkläre sich mit unbegründeten Übersiedlungen aus der DDR grundsätzlich nicht einverstanden; es sei jedoch in Auslegung des Evangeliums ihre Aufgabe, diese Menschen »seelsorgerisch zu begleiten«. Die Kirche könne dieses Konfliktpotenzial nicht beseitigen; dazu bedürfe es gesamtgesellschaftlicher Schritte.)
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Erhöhung der »Mündigkeit« der Bürger.
(Die Bereitschaft zur Mitverantwortung der Bürger sei nur zu erwarten, wenn sich der Bürger in seiner »Mündigkeit« ernst genommen sehe und sie im täglichen Leben »erfahre«. »Mündigkeit« erfordere den Abbau der »Administration« und des »Formalismus« im Umgang mit den Bürgern, z. B. im Zusammenhang mit notwendigen Begründungen bei Ablehnungen von Reisen in das Ausland, mit der Bearbeitung von Eingaben und Beschwerden von Bürgern.)
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»Offenheit« in der Informations- und Medienpolitik der DDR.
(Die Bürger seien fähig zur selbstständigen Verarbeitung auch belastender Tatbestände. Wünschenswert sei eine verstärkte Präsenz von Medienvertretern der DDR im kirchlichen Raum analog der positiven Erfahrungen aus dem »Lutherjahr« 1983 und dem Kirchentag 1987 in Berlin mit dem Ziel des Abbaus des »westlichen Medienmonopols«.)
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Überdenken der »Jugendpolitik«.
(Jugendliche und Jungerwachsene sollten stärker als Fragende, Suchende und Schwankende gesehen werden, die mehrheitlich nicht von einer feindlichen Grundposition handelten. Die Dialogführung, das Angebot von kompetenten und offenen Gesprächsmöglichkeiten mit diesen Jugendlichen müsse erweitert werden.)
Landesbischof Leich wolle weiteren streng internen Hinweisen zufolge darüber hinaus auch solche Problemfelder vortragen, die bereits mehrfach angesprochen worden seien, aber bisher aus kirchlicher Sicht keiner befriedigenden Lösung zugeführt worden wären. Das beziehe sich vor allem auf
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die Durchführung des zugesagten Gesprächs mit zuständigen Vertretern des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR in Verbindung mit der Erörterung des kirchlicherseits mehrfach formulierten Vorschlages zur Einrichtung eines zivilen Bausoldatendienstes in humanitären Bereichen mit verlängerter Wehrdienstzeit zur Lösung des »gesellschaftlichen Problems« der Wehrdienstverweigerung,
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die Einlösung der bereits gegebenen Zusagen zu Gesprächen mit entscheidungskompetenten Vertretern des Ministeriums für Volksbildung, u. a. zur Chancengleichheit in Schule und Ausbildung.
Weiteren streng internen Hinweisen zufolge wird kirchlicherseits über das Gespräch des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR am 3. März 1988 der Text einer Presseveröffentlichung vorbereitet. Es wird in Erwägung gezogen, diesen Text durch Oberkirchenrat Ziegler mit zuständigen staatlichen Vertretern abzustimmen.
Im Anschluss an das Grundsatzgespräch ist eine erste Auswertung in einer außerordentlichen Tagung der KKL in Berlin vorgesehen.
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- 3.
Nach dem MfS weiter intern vorliegenden Hinweisen trat Bischof Forck auf dem sogenannten Friedensseminar »Konkret für den Frieden VI« am 27. Februar 1988 in Cottbus auf und unterstützte dort vorbehaltlos ein von feindlich-negativen Kräften eingebrachtes Positionspapier. Darin wird aufgefordert, die sogenannten alternativen Gruppierungen noch stärker untereinander zu vernetzen und nach Mitteln und Wegen zu suchen, deren Widerstand durch »zeichenhaftes Handeln an die Öffentlichkeit« zu bringen. Des Weiteren wird in diesem Papier eine »pluralistische, demokratische und dezentralisierte Organisation des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens« in der DDR sowie eine »Entmilitarisierung des öffentlichen Lebens«, eine »Entideologisierung der Bildung« und die »Entbürokratisierung des Umgangs mit den Bürgern« gefordert.
Als weiterer konkreter Ausdruck der Einmischung in ausschließlich staatliche Belange ist die Existenz und Tätigkeit des »Kontaktbüros der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg«, Nöldnerstraße 43, 1134 Berlin, zu werten.
Entgegen der mit der Bildung des Kontaktbüros seitens der Kirchenleitung vorgesehenen, offensichtlich aber vorgetäuschten Absicht, Übersiedlungsersuchende »seelsorgerisch« zu betreuen, werden durch das Kontaktbüro Handlungen durchgeführt, die mit religiöser Tätigkeit nichts zu tun haben.
So erfolgt durch das Kontaktbüro
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die Registrierung Übersiedlungsersuchender mit Angabe der Personalien und des Zeitpunktes des Erstersuchens auf eigens zu diesem Zweck ausgelegten Listen,
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die Befragung von Übersiedlungsersuchenden zu angeblich erlittenen »Repressalien« und anderweitigen »Benachteiligungen« im Zusammenhang mit deren Übersiedlungsersuchen.
Des Weiteren
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werden durch das Kontaktbüro an Übersiedlungsersuchende Verbindungen (Namen, Kontaktadressen) zu staatlich nicht genehmigten sogenannten Arbeitsgruppen Staatsbürgerschaftsrecht der DDR vermittelt,
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wird durch kirchenleitende Kräfte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg geduldet und toleriert, dass derartige Kräfte im Vorraum und Umfeld des Kontaktbüros aktiv gegenüber Übersiedlungsersuchenden tätig werden (u. a. Aufforderungen zur Teilnahme an verbotenen Zusammenschlüssen, illegalen Zusammenkünften, Einbeziehung in konspirative Tätigkeit sowie in Vorbereitung auf weitere öffentlichkeitswirksame feindlich-negative Handlungen – z. B. Kirchenbesetzungen, provokatorisch-demonstrative Aktionen mit feindlichen Losungen usw.).
Nach dem MfS weiter vorliegenden Hinweisen fühlt sich zum Beispiel der Jugendpfarrer Kasparek, Ullrich aus Jena »zuständig« in Sachen Übersiedlungsersuchende. Er inspiriert und organisiert mit anderen feindlich-negativen Kräften sogenannte Wanderungen Übersiedlungsersuchender in Jena, zu denen sie sich wöchentlich einmal (sonnabends) überwiegend auf dem Holzmarkt in Jena treffen.
Mit diesen eindeutig auf Öffentlichkeitswirksamkeit abzielenden provokatorischen Aktivitäten soll massiver Druck auf die staatlichen Organe zur Genehmigung der Übersiedlung ausgeübt werden.
Bei Kasparek handelt es sich um eine Person mit einer feindlichen Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR.
Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
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