Situation in Opposition und Kirche nach den Januar-Verhaftungen
3. Februar 1988
Information Nr. 66/88 über die aktuelle Situation im Zusammenhang mit der Realisierung strafprozessualer Maßnahmen gegen feindlich-negative Personen
Durch das enge und abgestimmte Zusammenwirken der Schutz- und Sicherheitsorgane mit den einbezogenen staatlichen Organen und gesellschaftlichen Kräften werden alle Aktivitäten feindlich-negativer Personenkreise unter Kontrolle gehalten. Öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktionen konnten bisher verhindert werden.1
Die Bestrebungen zur Neuformierung eines sogenannten harten Kerns der in der Hauptstadt der DDR, Berlin, agierenden antisozialistischen Gruppierungen, verbunden mit der Erörterung des künftigen taktischen Vorgehens in Anpassung an die entstandene Lage werden intensiviert. Dabei sind zum Teil sehr divergierende Auffassungen und Standpunkte erkennbar.
Gegenwärtig spricht sich ein Teil der einen Führungsanspruch geltend machenden Personen unter Hinweis darauf, den staatlichen Organen keinen Anlass für weitere repressive Maßnahmen geben und die »Solidaritätsaktionen für die Inhaftierten« nicht gefährden zu wollen, für die Weiterführung bisher praktizierter Mittel und Methoden aus. Im Gegensatz dazu drängen vor allem Mitglieder der Initiative »Frieden und Menschenrechte«2 sowie der Initiative »Kirche von unten«,3 darunter die hinlänglich bekannten Personen Rathenow, Poppe, Böttger, Schult und Kulisch, in konfrontativer Absicht gegen den Staat auf »wirksamere Aktionen«. In diesem Sinne üben sie auch zunehmend Druck auf die Kirchenleitungen aus.
Nach wie vor bildet die Durchführung täglicher sogenannter Informationsgottesdienste (auch als »Solidaritätsandachten« bezeichnet) in kirchlichen Räumen ständig wechselnder Kirchengemeinden in der Hauptstadt der DDR, Berlin, einen Schwerpunkt. Dabei sind ständig steigende Teilnehmerzahlen zu verzeichnen (von ca. 150 Personen zu Beginn derartiger Zusammenkünfte auf ca. 1 500 am 30. Januar 1988 in der Gethsemanekirche). Der Teilnehmerkreis setzt sich hauptsächlich zusammen aus Mitgliedern und Sympathisanten aller bestehenden Gruppierungen in der Hauptstadt und aus einigen Bezirken der DDR, Übersiedlungsersuchenden, negativ-dekadenten Jugendlichen und Jungerwachsenen sowie aus Personen, die durch fortgesetzte Propagierung derartiger Zusammenkünfte seitens westlicher Massenmedien zur Teilnahme inspiriert wurden.
Diese unter Missbrauch kirchlicher Räumlichkeiten als politische Versammlungen umfunktionierten Zusammenkünfte werden durch kirchenleitende Kräfte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg sowie durch Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit im Wesentlichen dazu genutzt, die aktuelle Situation jeweils aus ihrer Sicht darzustellen, über den Stand und die Ergebnisse der gerichtlichen Verfahren zu informieren, die im internen Kreis erörterten Pläne und Absichten des weiteren Vorgehens zur Diskussion zu stellen sowie die Zustimmung für verfasste Stellungnahmen und »Protesterklärungen« einzuholen und zur Unterschriftsleistung für derartige Pamphlete aufzufordern.
Die Organisatoren verfolgen mit diesen Veranstaltungen das Ziel, ein sich ständig erweiterndes Druckpotenzial gegenüber dem Staat zu schaffen.
Zugleich ist beabsichtigt, unter Nutzung dessen, dass ständig an diesen Veranstaltungen Mitarbeiter westlicher diplomatischer Vertretungen (u. a. der 2. Sekretär der USA-Botschaft, Lipping – Geheimdienstmitarbeiter, der 3. Sekretär der Botschaft Großbritanniens, Morton, sowie Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der BRD) und westliche Korrespondenten teilnehmen, in der Öffentlichkeit den Eindruck einer DDR-weiten »Solidarisierungswelle« für die Inhaftierten vorzutäuschen.
Besonders hervorzuheben ist das am 29. Januar 1988 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg stattgefundene sogenannte 1. Solidaritätskonzert, bezeichnet als »Meditationsandacht mit Lesung und Musik« mit ca. 1 000 Besuchern. Im Innern der Kirche waren insgesamt 10 Schautafeln aufgestellt, an denen u. a. angebracht waren: Fotos über Aktivitäten sogenannter alternativer Gruppen während des Olof-Palme-Friedensmarsches und von den Inhaftierten, eine »Dokumentation« über die Vorgänge am 17. Januar 1988, von feindlich-negativen Kräften verfasste Erklärungen und Artikel aus der DDR-Presse mit Bezugnahme auf die Provokation. Im Kirchenschiff war an gut sichtbarer Stelle ein Plakat mit der Aufschrift »Freiheit für Stephan Krawczyk« befestigt.
Weiterhin erfolgte der Verkauf von Grafiken und Büchern, insbesondere der Autoren Schlesinger und Plenzdorf. Ein zur Unterzeichnung ausgehangener Aufruf, in dem die Freilassung Krawczyks gefordert wurde, enthielt nach Abschluss der Veranstaltung ca. 150 Unterschriften.
Nach einer 30-minütigen »Andacht«, die durch das Abspielen von Liedern des Krawczyk untermalt wurde, gab Rechtsanwalt Schnur eine sachliche Darstellung über den Stand der Verfahren.
Danach wurden in wechselnder Folge Gedichte, Theaterstücke vorgetragen, erfolgte ein Auftritt des Liedermachers Bomberg. Der hinlänglich bekannte Rathenow verlas eine von ihm verfasste, mit starkem Beifall aufgenommene Erklärung, in der er die Freilassung der Inhaftierten, die Einstellung der Ermittlungsverfahren und die Rückgabe beschlagnahmter Bücher und Manuskripte forderte.
Des Weiteren forderte er unter Bezugnahme auf den X. Schriftstellerkongress der DDR4 alle Kunst- und Kulturschaffenden auf, sich für »mehr Offenheit und Abschaffung der Zensur« einzusetzen. Die mit einem Gedicht von Bertold Brecht aufgetretene Schauspielerin Heidemarie Wenzel/Berlin (Übersiedlungsersuchende seit März 1986) erklärte sich ebenfalls solidarisch mit Krawczyk und Klier. Bedingt durch die schlechte Akustik und zunehmendes Desinteresse an den weiteren Programmteilen verließen die Mehrzahl der Teilnehmer die Veranstaltung vorzeitig.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Verfassen und Verbreiten von Erklärungen, Stellungnahmen und sogenannten offenen Briefen. Zunehmend versuchen darin feindlich-negative Personen in Reaktion auf entsprechende Veröffentlichungen in den DDR-Massenmedien ihre Tätigkeit als legales Wirken im Rahmen der Verfassung zu rechtfertigen, den begründeten Verdacht landesverräterischer Beziehungen zurückzuweisen und die Forderung nach Freilassung aller Inhaftierten und deren öffentliche Rehabilitierung nachdrücklich zu unterstreichen.
In diesem Zusammenhang sind besonders zu beachten:
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die »Information der Vertreter Berliner Basisgruppen an alle Basisgruppen der DDR zu Vorgängen im Zusammenhang mit der Demonstration am 17. Januar und der Entwicklung bis heute« sowie
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die »Öffentliche Erklärung der Koordinationsgruppe Berliner Basisgruppen«.
Beide Materialien sollen in mehreren hundert Exemplaren vervielfältigt und verbreitet werden.
Streng internen Hinweisen zufolge erarbeiten gegenwärtig Mitglieder der Initiative »Frieden und Menschenrechte« eine Erklärung, gerichtet an den Parteivorstand der SPD, zu »Konsequenzen aus der gegenwärtigen Lage in der DDR für die Realisierung des gemeinsamen Dokumentes SED – SPD«.5 Diese Erklärung soll Erhard Eppler (Mitglied des Parteivorstandes der SPD und Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD) während seines Aufenthaltes in der DDR anlässlich des VII. Ökumenischen Symposiums zu Friedensfragen (3. bis 4. Februar 1988 in der Humboldt-Universität Berlin) übergeben werden.
Wie weiter intern bekannt wurde, haben namentlich bekannte Personen aus dem Umfeld der Initiative »Frieden und Menschenrechte« einen »Offenen Brief an engagierte Künstler unseres Landes«6 verfasst, in dem namenhafte Rockgruppen und Liedermacher der DDR zur »Solidarität« mit den Inhaftierten und zu öffentlichen Auftritten in Kirchen aufgefordert werden. Sollte von den Künstlern keine Reaktion erfolgen, beabsichtigen die Autoren, die Erklärung westlichen Medien zu übergeben und diese zu veranlassen, eine öffentliche Kampagne gegen die DDR-Künstler zu führen.
Weiter intensiviert haben feindlich-negative Gruppierungen in der Hauptstadt der DDR ihre Aktivitäten zur Ausweitung der »Protest- und Solidaritätsaktionen« auf andere Städte der DDR.
In Leipzig und Dresden wurden nach dem »Berliner Modell« ebenfalls sogenannte Kontaktbüros eingerichtet, die regelmäßig Informationen mit dem »Berliner Kontaktbüro« über geplante bzw. realisierte Maßnahmen, über den Fortgang der gerichtlichen Verfahren u. ä. austauschen. In den letzten Tagen fanden unter Missbrauch kirchlicher Räumlichkeiten sogenannte Solidaritätsveranstaltungen u. a. in Halle, Leipzig, Ilmenau/Suhl, Fürstenwalde/Frankfurt/O. und Zwickau/Karl-Marx-Stadt statt. Die Resonanz auf derartige Zusammenkünfte ist sehr unterschiedlich. Die Besucherzahlen reichen von ca. 30 Personen über ca. 200 Personen in Leipzig (Evangelische Studentengemeinde), 250 Personen in Halle (Christusgemeinde), bis zu ca. 450 Personen in Zwickau.
Die von reaktionären kirchlichen Amtsträgern am 27. Januar 1988 im Gemeindehaus der Domgemeinde Zwickau unter der Bezeichnung »Markt der Möglichkeiten« durchgeführte Veranstaltung beinhaltete massive Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR und gegen Repräsentanten der Partei- und Staatsführung.
Die Teilnehmer wurden aufgefordert zur Unterschriftsleistung für eine im Verlauf der Veranstaltung verabschiedete Protesterklärung, zur Beteiligung an Spendensammlungen für die Angehörigen der Inhaftierten und zum Versenden von Eingaben an zentrale staatliche Organe, verbunden mit Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen.
Das Verhalten der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ist auch weiterhin äußerst widersprüchlich. In einer am 30. Januar 1988 verabschiedeten Erklärung distanziert sie sich einerseits von den »Aktivitäten am Rande der Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg«, spricht sie sich andererseits aber eindeutig für eine Freilassung der Inhaftierten und für die Unterstützung deren Angehörigen aus.7
Gleichzeitig appelliert sie unterschwellig an den Staat, das »Recht auf freie Meinungsäußerung« zu gewähren, den Dialog mit Andersdenkenden in Gang zu bringen und diesen gegenüber Toleranz zu üben. Weder in dieser Erklärung noch im Auftreten kirchenleitender Kräfte werden – trotz intensiver und permanenter Einflussnahme seitens zuständiger staatlicher Organe – Ansätze ernsthaften Bemühens sichtbar, die von inneren Feinden in kirchlichen Räumlichkeiten inszenierten, gegen den sozialistischen Staat gerichteten politischen Veranstaltungen zu unterbinden.
Obwohl sie die in ihrem Einflussbereich wirkenden feindlich-negativen Personen und deren Sympathisanten dahingehend beeinflussen, keine provokatorisch-demonstrativen Handlungen und andere spektakulären Aktionen durchzuführen, dulden sie den fortgesetzten politischen Missbrauch der Kirchen.
Besonders Bischof Forck trägt durch sein ständiges Taktieren und Lavieren nach allen Seiten, durch das Negieren ihm gegenüber ausgesprochener staatlicher Erwartungshaltungen sowie durch seine politisch zweideutigen, indirekt gegen den Staat gerichteten Erklärungen, so u. a. auch in seinem dem BRD-Sender »Deutschlandfunk« gewährten Interview, nicht zur Beruhigung der Situation bei. Sein Verhalten begünstigt objektiv das Wirken der Feinde.
Zahlreiche kirchliche Amtsträger sind mit dieser Entwicklung in der Berliner Landeskirche nicht einverstanden, befürchten jedoch, wenn sie sich in diesem Sinne äußern, selbst zur Zielscheibe von Angriffen feindlich-negativer Personen zu werden. Deshalb üben sie Zurückhaltung. Außerdem mangelt es noch an einer einheitlichen Orientierung politisch-realistischer Kräfte.
Maßgebliche Vertreter des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und Mitglieder der Konferenz Evangelischer Kirchenleitungen bemühen sich darum, andere Landeskirchen aus den Vorgängen um die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg herauszuhalten, um das Verhältnis Staat – Kirche nicht weiter zu belasten und die nach wie vor ihnen angestrebten Gespräche mit dem Staat über sogenannte Problemfelder nicht zu gefährden. Deshalb enthielten sie sich bisher jeglicher offizieller Stellungnahme zu den Vorgängen und begründen dieses Verhalten mit dem Argument, die Situation nicht weiter anheizen zu wollen (Bischof Leich).
(Streng internen Hinweisen zufolge beabsichtigen jedoch Mitglieder der Initiative »Kirche von unten«, Bischof Leich in einem Schreiben aufzufordern, eine konkrete Stellungnahme zur Situation abzugeben.)
In internen Gesprächen brachten kirchenleitende Kräfte erneut ihre Verärgerung darüber zum Ausdruck, dass seit geraumer Zeit keine Gespräche mit Repräsentanten der Partei- und Staatsführung stattfanden.
Nach wie vor tritt der Personenkreis um Roland Jahn/Westberlin als Inspirator subversiver Aktivitäten in Erscheinung. Fortgesetzt werden gegenüber feindlich-negativen Personen Forderungen insbesondere zur Durchführung provokatorisch-demonstrativer Handlungen erhoben. Es wird auf eine stärkere Einbeziehung von Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur und auf eine stärkere Druckausübung gegenüber den Kirchen orientiert. In jüngster Zeit ist jedoch festzustellen, dass das fortwährende Drängen Jahns auf »aktionistische« Maßnahmen nicht mehr bei allen seinen Kontaktpartnern ungeteilte Zustimmung findet.
Im Ergebnis der auch weiter anhaltenden Hetz- und Verleumdungskampagne westlicher Massenmedien sowie des Wirkens feindlich-negativer Personen im Innern der DDR kam es im Zeitraum vom 25. Januar bis 1. Februar 1988 zu insgesamt 52 Vorkommnissen des Herstellens und Verbreitens von Hetzblättern (27), des Anbringens von Hetzlosungen (14), des Begehens von provokatorisch-demonstrativen Handlungen (7), vorwiegend Übersiedlungsersuchender, sowie von anonymen Telefonanrufen und Versenden anonymer Briefe (4).
Im Wesentlichen beinhalten die Vorkommnisse
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ausschließlich Forderungen nach Freilassung der Inhaftierten,
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unter Bezugnahme auf die strafprozessualen Maßnahmen weitergehende Forderungen nach »mehr Meinungsfreiheit« für DDR-Bürger und gesellschaftlicher Respektierung und Anerkennung »politisch Andersdenkender«.
Bei den bisher ermittelten Tätern handelt es sich hauptsächlich um Lehrlinge sowie Fach- und ungelernte Arbeiter und einzelne kirchliche Angestellte.
An der Aufklärung der noch ungeklärten Vorkommnisse wird intensiv gearbeitet.
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