Sondersitzung der KKL zum Verhältnis Kirche – Gruppen
19. Dezember 1988
Information Nr. 546/88 über eine Sondersitzung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL) am 3. Dezember 1988 in der Hauptstadt der DDR, Berlin
Am 3. Dezember 1988 fand in der Hauptstadt der DDR, Berlin, eine sechsstündige Sondersitzung der KKL statt, an der mit Ausnahme von Bischof Forck/Berlin, Kirchenpräsident Natho/Dessau und Präsident Domsch/Dresden alle anderen Bischöfe, die Leiter der kirchlichen Verwaltungseinrichtungen der evangelischen Landeskirchen und die synodalen Mitglieder der KKL teilnahmen.1
Die Sondersitzung der KKL beschäftigte sich mit der auf vorangegangenen Tagungen mehrfach verschobenen Thematik »Kirche und Gruppen«. Vor der Behandlung dieses Themas wurde der »Bericht zur Lage« (Bischof Demke/Magdeburg, Stellvertreter des Vorsitzenden der KKL) gegeben sowie ein Votum dieses Gremiums zum 40. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (darüber wurde in der Information des MfS Nr. 533/88 vom 9. Dezember 1988 berichtet) beschlossen.
In seinem »Bericht zur Lage« verwies Bischof Demke u. a. auf ein Gespräch, das der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Löffler, am 29. November 1988 in Eisenach mit dem Vorsitzenden der KKL, Bischof Leich, geführt hat. Der Staatssekretär habe betont, es sei eine Denkpause notwendig, um eine Beruhigung der Lage zu schaffen; deswegen seien gegenwärtig auch keine Informationsgespräche möglich.
Bezug nehmend auf die gegenwärtige politische Situation in der DDR erklärte Bischof Demke, dass die führenden Kader in Partei und Regierung »wieder Tritt gefasst« hätten und »nicht mehr so besorgt über ihr Image im In- und Ausland« seien. Der Staat nehme einen »Ansehensschwund« im In- und Ausland hin, wie es sich z. B. beim »Sputnik-Verbot« zeige. Die Intensität des ideologischen Kampfes nehme aber zu, und zugleich steige die Sensibilität in der Machtfrage. Selbst bei harmlosen Dingen würde staatlicherseits gleich »dahinter gewittert«, die Kirche wolle die Macht von Partei und Staat infrage stellen.
Der »Generalvorwurf« seitens zuständiger staatlicher Vertreter beinhalte, die Kirche mische sich in staatliche Belange ein.Verstärkt reagiere der Staat mit Nervosität auf alle die Jugend betreffenden Fragen.
Bischof Demke führte weiter aus, der Vorstand der KKL habe sich gefragt, ob das »Trittfassen« der Parteiführung ein Zeichen klarer politischer Beschlüsse oder etwa die Vorbereitung auf etwas Neues sei, das auf dem Parteitag 1990 verkündet werden soll. Die Rede des Genossen Honecker auf dem 7. Plenum2 enthalte alle zukünftigen Optionen; es gebe jedoch keine ganz klare und eindeutige Durchsicht.
Demke stellte eine Zunahme des innerkirchlichen Drucks auf die Kirchenleitungen fest. Seitens kirchlicher Basisgruppen würden dafür sogar westliche Massenmedien genutzt. Die Haltungen der einzelnen Landeskirchenleitungen seien dazu unterschiedlich, zurückzuführen auf die unterschiedliche Anzahl vorhandener Gruppen und von ihnen ausgehender Aktivitäten. So vertrete die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg völlig andere Auffassungen als vergleichsweise die Landeskirchen Anhalt, Görlitz oder Greifswald, in denen diese Fragen eine nicht so bedeutsame Rolle spielten.
Als Schlussfolgerungen, die aus der gegenwärtigen Situation zu ziehen seien, hob Demke besonders hervor, dass man sich innerhalb der Kirchenleitungen, aber auch im Verhältnis zu den Gemeinden und in den Gemeinden die Schwierigkeiten und Probleme bewusst machen müsse, »ohne großes Geschrei zu erheben«. Die Kirche müsse auch der Euphorie entgegenwirken, die sich aus der Fehleinschätzung der politischen Situation durch die Gruppen und Gemeinden ergebe. Die Sorge um die staatliche Autorität müsse auch die Kirchenleitungen beschäftigen, da die Glaubwürdigkeit des Staates abnehme und vom Ausland her unterhöhlt werde.
Es gelte für die Kirchenleitungen, die anarchistischen und schwärmerischen Tendenzen in Gemeinden und Gruppen, die gegen die staatliche Autorität gerichtet seien, »abzubiegen«.
Bischof Demke hob abschließend hervor, dass die Kirche »nicht zum Verfall der Staatlichkeit, der staatlichen Autorität« beitragen dürfe. Die Verkündigung des Evangeliums müsse eine eigene Aufgabe der Kirche bleiben und einen eigenen Zeitfonds beanspruchen; es bestehe die Gefahr, dass sich die Kirchenleitungen zu stark mit politischen Fragen und zu wenig mit der Verkündigung des Evangeliums beschäftigen.
Die Ausführungen von Bischof Demke wurden von Konsistorialpräsident Stolpe/Berlin, ebenfalls Stellvertreter des Vorsitzenden der KKL, ergänzt. Er hob hervor, die Situation werde durch neue Gesichtspunkte gekennzeichnet:
- 1.
Die Kirche trete mit ihrem heutigen Verständnis vom Auftrag der Kirche offensiver auf, was Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung betreffe. Damit werde eine neue Auslegung des verfassungsmäßigen Begriffes der Religionsausübung vorgenommen. Dieser Begriff werde extensiv ausgelegt; es bestehe die Gefahr, er werde als »All-Zuständigkeit der Kirche« verstanden. Damit werde die Kirche als »Bedrohungsgefahr« für den Staat angesehen. Außerdem sei deutlich, dass in der Kirche und in den Gruppen die Neigung zum Aktionismus steige, d. h. nicht mehr Broschüren, Rundschreiben, Vervielfältigungen seien die Hauptsache, sondern Aktionen.
- 2.
Im Sozialismus habe man es mit einer Gesellschaft mit wachsenden Problemen zu tun, mehr als vergleichsweise vor zwei oder drei Jahren. Ökonomische Probleme stünden im Vordergrund, und der Staat müsse alles unternehmen, um die Schlüsseltechnologien voranzubringen und den Anschluss an den Weltstand zu gewinnen bzw. nicht wieder zu verlieren. Aus dieser Entwicklung der Schlüsseltechnologien ergäben sich ebenfalls Probleme bei der Entwicklung der Produktionsverhältnisse, die man weder theoretisch noch praktisch im Griff habe.
Bezogen auf die »Politik der Öffnung« erklärte Stolpe weiterhin, dass »die DDR der Verlierer der Öffnungspolitik« sowohl in den sozialistischen Staaten wie auch in der Öffnung, die sich in der DDR zum Westen gezeigt habe, sei.
Mit der Ankündigung der Referenten zum XII. Parteitag3 – Genossen Honecker, Stoph, Sindermann und Seibt – solle, so Stolpe weiter, deutlich gemacht werden, dass »es keine Veränderungen gebe und die ›alte Garde‹ an der Macht bleibe«.
Bedeutungsvoll für die Einschätzung der Situation sei, dass die »alte Hauptfront nach der BRD« derzeit am friedlichsten sei.
Konsistorialpräsident Stolpe hob weiter hervor, die alten Mechanismen des Zusammenwirkens zwischen Kirchenleitung und Staatsorgan würden nicht mehr wirken. Man müsse neue Methoden finden, und die Kirche müsse besser kalkulieren. Dazu erfolgte in der KKL eine kurze Aussprache.
Durch Bischof Demke auf den Widerspruch zwischen dem »Trittfassen« der Parteiführung einerseits und dem Ansteigen der Nervosität andererseits angesprochen, erklärte Stolpe bestätigend, dies sei genau die gegenwärtige Spannung in der DDR.
Konsistorialpräsident Kramer/Magdeburg betonte, hinsichtlich der angekündigten Redner auf dem XII. Parteitag könne man auch einem Irrtum unterliegen. Es habe schon einmal ein Plenum gegeben, auf dem festgelegt worden sei, wer auf dem nächsten Parteitag spreche. Das Hauptreferat hätte damals Genosse W. Ulbricht halten sollen. Aber vor dem Parteitag habe es dann ein Mai-Plenum gegeben, auf dem eine »Auswechslung des 1. Sekretärs des ZK« erfolgt sei.
Oberkirchenratspräsident Müller/Schwerin hob die Notwendigkeit der Beseitigung von Illusionen in den Gruppen hervor. Zu befürchten seien aber gegenteilige Wirkungen, die auf einen verstärkten Aktionismus hinauslaufen würden.
Pfarrer Passauer/Berlin führte aus, nicht nur Gruppen würden aktiv, sondern teilweise auch die Kirchengemeinden und Gemeindekirchenräte, die, ohne die Kirchenleitungen zu fragen und zu informieren, eigene Entscheidungen für Aktivitäten treffen würden. Dort seien Meinungen anzutreffen, man brauche die Kirchenleitung nicht, da sie sich gegen die Gemeinden mit dem Staat verständigen würde.
Manches in Gemeinden und Gruppen, so Passauer weiter, gleiche einem Pulverfass. Die Kirchenleitungen würden dort Unverständnis mit ihrer Einschätzung finden.
Bischof Leich verwies in dieser Diskussion darauf, das Evangelium dürfe nicht nur vorgeschaltet werden, um anschließend gesellschaftspolitische Probleme zu diskutieren.
Die Diskussion zum Thema der Sondersitzung der KKL »Kirche und Gruppen« führte zu keinen Stellungnahmen oder Erklärungen; es wurden keine grundsätzlichen Entscheidungen getroffen oder Beschlüsse gefasst.
Internen Hinweisen zufolge sei das ursächlich auf die unterschiedlichen Positionen und Auffassungen unter den Mitgliedern der KKL, die Vielschichtigkeit des Verhältnisses zu den Gruppen und die unterschiedliche Beurteilung/Einordnung der Gruppen zurückzuführen.
Festgelegt wurde im Ergebnis der Diskussion lediglich, dass das Sekretariat des BEK einen Katalog von Fragen aufstellt, aus dem zu entnehmen ist, was konkret mit den Gruppen vereinbart werden könnte oder sollte, um praktische Verhaltensregeln für die Kirchengemeinden mit den Gruppen daraus ableiten zu können.
Oberkirchenratspräsident Müller/Schwerin erklärte, es gäbe viele Gruppen, die nichts mit der Kirche zu tun haben wollten. Sie würden aber durch die politische Situation in der DDR in die Kirche gedrängt. Insofern spiele die Kirche eine Art Ersatzrolle.
Bischof Hempel führte aus, seiner Meinung nach käme es in nächster Zeit zu einer Eskalation des Verhältnisses zwischen Staat und Gruppen und damit »zu einem riesigen Knall«. Konsistorialpräsident Stolpe wies ergänzend darauf hin, dass Aktionen von Gruppen zunehmen, die Anwendung von Gewalt seitens des Staates provozieren.
Die Anwesenden waren sich dahingehend einig, es sei eigentlich notwendig, dass die Kirche ihre Gewaltlosigkeit öffentlichkeitswirksam demonstriert. Es wurde jedoch Übereinstimmung darüber erzielt, noch kein öffentliches Bekenntnis abzulegen, da es in der DDR »noch nicht zu öffentlichen Gewaltaktionen« gekommen sei. Gewaltlosigkeit sei ein Problem, zu dem man sich eher in der BRD äußern müsse.
Bischof Demke vertrat abschließend die Auffassung, die Kirche müsse Verantwortung tragen und auf die Gruppen Einfluss nehmen, und zwar nicht wegen des kirchlichen Auftrages, sondern wegen der politischen Situation in der DDR. Gehe man ausschließlich vom kirchlichen Auftrag aus, wäre er für eine Trennung von den Gruppen.
Streng internen Hinweisen zufolge soll Propst Furian/Berlin – der in Vertretung von Bischof Forck an der Tagung teilnahm – in einem kleinen Gesprächskreis während einer Beratungspause geäußert haben, er verstehe nicht, warum man hier in der Konferenz nicht deutlich sagen könne, dass diese Gesellschaftsordnung Sozialismus abzulösen ist. Der eigentliche kirchliche Auftrag bestehe darin, den Sozialismus abzuschaffen.
Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Mielke [Unterschrift]