Symposium der »Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges« (IPPNW)
[ohne Datum]
Information Nr. 529/88 über beachtenswerte Probleme im Zusammenhang mit dem Internationalen wissenschaftlichen Symposium europäischer Sektionen der Vereinigung »Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges« (IPPNW) im November 1988 in Erfurt
Im Zeitraum vom 17. bis 20. November 1988 fand in Erfurt ein internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektionen der Vereinigung »Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges« statt. Es stand unter dem Thema »Das Schicksal der Medizin im Faschismus – Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden heute«.
Anliegen dieser Veranstaltung war die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Militarismus und Krieg auf die Medizin und den Menschen, die Nachweisführung der Unvereinbarkeit von Humanismus und Kriegsvorbereitung sowie die Aktivierung der in der IPPNW organisierten Ärzte zu bewusstem Handeln für Humanismus und Friedenserhalt.
Diese angestrebte politische Zielstellung wurde nach dem MfS vorliegenden Informationen durch von der überwiegenden Mehrheit der in- und ausländischen Teilnehmer getragene politisch und fachlich konstruktive Beiträge sowie anderweitige Mitarbeit in Plenarsitzungen und Beratungen der gebildeten Arbeitskreise realisiert.
Nach weiter streng intern vorliegenden Hinweisen haben bereits in Vorbereitung dieses Symposiums einzelne, politisch negative und oppositionelle Auffassungen vertretende Mediziner der DDR ihre Absicht bekundet, diese Veranstaltung in ihrem Sinne politisch missbrauchen zu wollen. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um Mitglieder der feindlich-negativen Gruppierungen »Christlicher Arbeitskreis Ärzte für den Frieden« Berlin sowie »Arbeitskreis christliche Mediziner in sozialer Verantwortung« Halle.
(In der DDR existieren derzeit drei personelle Zusammenschlüsse von überwiegend konfessionell gebundenen, auf politisch-negativen und oppositionellen Positionen stehenden Medizinern; Hinweise über Bestrebungen zur Bildung weiterer derartiger Zusammenschlüsse liegen vor.)
Seit dem Jahre 1984 existiert der dem evangelischen Kirchenkreis Halle angegliederte sog. Arbeitskreis christliche Mediziner in sozialer Verantwortung. Zu dessen aktiven Mitgliedern gehören u. a. die Ärzte Thomas Schröter, Michael Bohley, Eva-Maria Bartl und Christian Nattermann. Ende des Jahres 1984 wurde in der Hauptstadt Berlin auf Initiative der Mitglieder der hinlänglich bekannten Gruppierung »Frauen für den Frieden« Berlin,1 Bärbel Bohley und Jutta Seidel, der sog. Christliche Arbeitskreis Ärzte für den Frieden gebildet. Ihm gehören als aktive Kräfte u. a. an die Mediziner Jutta und Eberhard Seidel, Hans-Joachim Möller sowie der Physiker Sebastian Pflugbeil.
Dem im Bezirk Erfurt existierenden »Christlichen Ärztekreis« gehört u. a. die Schwester des o. g. Thomas Schröter, Sonja Schröter, an.
Nach vorliegenden Hinweisen sind die genannten personellen Zusammenschlüsse global in die kirchliche Basisarbeit eingebunden bzw. nutzen die ihnen von den evangelischen Kirchen gebotenen Wirkungsmöglichkeiten. Ihre Führungskräfte verfolgen das Ziel, als berufsspezifische Gruppierung im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirksam zu werden. Im Stadium ihrer Bildung nutzten sie bewusst den Zustand des Fehlens von Bezirkskomitees der Sektion DDR der IPPNW und gaben vor, aus ärztlichem Ethos und christlichem Bekenntnis auf dem von ihnen gewählten Weg einen eigenständigen Beitrag für die Friedenserhaltung leisten zu wollen, da die Politik der DDR zur Sicherung des Friedens, zum Abbau von Feindbildern usw. nicht den Überzeugungen und Auffassungen aller Bürger der DDR entsprechen würde.
Anfangs orientiert auf Anerkennung als eigenständige – alternative – Sektion der DDR in der IPPNW wurde die Stoßrichtung nach der Bildung von Bezirkskomitees verlagert auf Einzelmitgliedschaft in diesen Organisationen und deren gezielten politischen Missbrauch. Mitglieder genannter »Christlicher Ärztekreise« nutzen zunehmend die ihnen großzügig eingeräumten Möglichkeiten der Mitwirkung innerhalb der DDR bzw. im Rahmen offizieller Delegationsreisen der Sektion DDR der IPPNW in das Ausland, um ihre antisozialistischen, politisch-negativen und pseudopazifistischen Auffassungen zu popularisieren und sich ungeachtet ihrer juristischen Zugehörigkeit zu bestimmten Organisationsformen der Sektion DDR der IPPNW als alternative Kräfte und als Mitglieder ihrer Gruppierungen darzustellen. Sie entwickeln entsprechende Aktivitäten, um insbesondere Kontakte und Verbindungen zur Sektion BRD der IPPNW herzustellen, auszubauen und sie für ihr Vorgehen gegen die DDR nutzbar zu machen.
Im Juni 1989 planen, nach dem MfS streng intern vorliegenden Hinweisen, die genannten »Christlichen Ärztekreise« im Zusammenwirken mit den Evangelischen Akademien Berlin-Brandenburg, der Kirchenprovinz Sachsen und Greifswald eine DDR-weite Tagung unter dem Motto »Ich weiß von der Schuld der Gleichgültigkeit – Ärzte in sozialer Verantwortung« durchzuführen. Daran sollen ca. 300 Personen, darunter auch aus dem westlichen Ausland, teilnehmen.
In Beachtung der bekannten Absicht zum politischen Missbrauch des wissenschaftlichen Symposiums durch Mitglieder derartiger »Ärztekreise« wurde durch vorbeugend eingeleitete Maßnahmen deren offizielle Teilnahme zunächst ausgeschlossen. Ungeachtet dessen reiste eine Reihe von ihnen zum Veranstaltungsort an und nahm Kontakt zu teilnehmenden BRD-Bürgern auf. Infolgedessen kam es zu konkreten und auf die Beteiligung dieser Personen am Symposium ausgerichteten Aktivitäten von Professor Karl Bonhoeffer (Vizepräsident und internationaler Koordinator der Sektion BRD der IPPNW). Im Interesse der Gewährleistung der politischen Zielstellung und der störungsfreien Fortführung der Veranstaltung wurde entschieden, auch solchen Personen die Teilnahme zu gestatten. Die Unterstützung dieser DDR-Mediziner durch Teilnehmer aus der BRD ging so weit, dass sie diesen Kräften eigene Redezeit einräumten. Insgesamt ist einzuschätzen, dass das politisch-negativ geprägte Auftreten von Mitgliedern genannter »Ärztekreise« keine wesentliche Störung des Inhalts und Verlaufs des Symposiums bewirkte, jedoch das Interesse ausländischer Teilnehmer und teilweise offen deren Beifall und Zustimmung fand.
Zu einigen ausgewählten Aspekten des Auftretens beachtenswerter Personen während des Symposiums:
Professor Bonhoeffer verlas den Beitrag des BRD-Mediziners Hanauske-Abel mit dem Titel »Die Bösen, das sind die Anderen«. Ausgehend von persönlichen Schlussfolgerungen Albert Einsteins zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wird darin die These formuliert, nur das urteilende Bewusstsein des einzelnen Menschen kann bestimmen, was eine unmoralische oder moralische Handlung sei; dieses Bewusstsein des Einzelnen müsse über die Autorität des staatlichen Gesetzes gestellt sein. Im Vortrag wurde der DDR eine angeblich mangelnde Vergangenheitsbewältigung unterstellt und artikuliert, dass eine »Atmosphäre von der Obrigkeit verkündeter Entschuldigung« eine echte Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte nicht ermöglichen würde. Das unterstreichen weitere Aussagen zum antifaschistischen Widerstand, zur Rolle von Robert Havemann und dessen »Behandlung« in der DDR als »Unperson«.
Mitglieder der »Christlichen Ärztekreise« griffen in ihren Wortbeiträgen auf Aussagen dieses Vortrages zurück und versuchten damit insbesondere die Notwendigkeit des zivilen Ungehorsams gegenüber staatlichen Entscheidungen zu begründen, diese Form des sogenannten gewaltfreien Widerstandes zur Herbeiführung gesellschaftlicher Veränderungen in der DDR zu propagieren. Der sich in diesem Sinne äußernde Diplommediziner Thomas Schröter – Arzt im kirchlichen Sophienkrankenhaus Weimar – forderte des Weiteren für die IPPNW-Arbeit in der DDR demokratisch gewählte, nicht von der SED eingesetzte Leitungsgremien. Provokatorisch kündigte er seinen Austritt aus der IPPNW an. Schröter diskriminierte ferner die NVA und äußerte u. a., bei der erzwungenen Ableistung des von ihm abgelehnten Wehrdienstes erlebt zu haben, was Militarismus sei. Er unterstellte, wegen oppositioneller Haltung Nachteile in seiner persönlichen Entwicklung erfahren zu haben. (Nach anfänglichen Sympathiebekundungen besonders seitens BRD-Bürger fand sein unsachliches und unqualifiziertes Auftreten Ablehnung.)
Die Ärztin Sonja Schröter – Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt – trug den gemeinsam mit ihrem Bruder erarbeiteten Vortrag »Rassismus als Spezialfall pathologischer kollektiver Feindbildentstehung – sozialpsychologische Aspekte« vor. Er beinhaltete bekannte Auffassungen feindlich-negativer Kräfte zur Feindbildproblematik und Aufrufe zu sozialem Ungehorsam als Mittel der Demokratieentwicklung und möglichen Weg, sich gegen die angebliche Entmündigung der Intelligenz in der DDR aufzulehnen.
Der Arzt am Evangelischen Diakoniewerk Königin Elisabeth Berlin, Hans-Joachim Möller, brachte während einer Diskussion seine ethisch-moralische Ablehnung zum Prinzip der sogenannten Triage (Selektion von Verletzten/Verwundeten zur Entscheidung über die Dringlichkeit der medizinischen Behandlung) in der Militärmedizin zum Ausdruck. Ausgehend von gewonnenen Erkenntnissen während seines Reservistenwehrdienstes im Jahre 1988 habe er feststellen können, dass auch in der DDR-Militärmedizin an diesem Prinzip festgehalten werde.
Die als Psychologin am kirchlichen St.-Elisabeth-Krankenhaus Halle tätige Eva-Maria Bartl kritisierte eine unzureichende Zusammenarbeit des Bezirkskomitees Halle der IPPNW mit dem »Arbeitskreis christliche Mediziner in sozialer Verantwortung«. Sie diskriminierte die Arbeit der Sektion DDR der IPPNW durch Unterstellungen und forderte eine Aktivierung der Arbeit der Basisgruppen.
Der ebenfalls als Arzt am St.-Elisabeth-Krankenhaus Halle tätige Christian Nattermann vertrat analoge Auffassungen. Er beteiligte sich mit einem Plakat »Pazifismus als Alternative« an einer Posterausstellung des Symposiums.
Im gesamten Zeitraum des Symposiums wurden umfangreiche persönliche Kontakte zwischen anwesenden Mitgliedern der »Christlichen Ärztekreise« und Vertretern der Sektion BRD der IPPNW unterhalten. Es kam zu Adressen- und Literaturaustauschen sowie zu weiteren Vereinbarungen hinsichtlich der künftigen Zusammenarbeit. Neben Professor Bonhoeffer traten dabei vor allem Dr. Gertrud Gumlich, Prof. Benno Mueller-Hill, Dr. Barbara Hoevener und Dr. Klaus Donner in Erscheinung.
Das Bestreben von Bonhoeffer und anderen Mitgliedern der Sektion BRD der IPPNW, im Sinne ihrer politischen Ziele Aufenthalte in der DDR politisch zu missbrauchen und auf oppositionelle Kräfte, darunter insbesondere die genannten »Ärztekreise«, Einfluss auszuüben, zeigt sich ferner wie folgt:
Bonhoeffer nahm unmittelbar vor dem Symposium an einer Reihe von Veranstaltungen im Rahmen der »Friedensdekade ’88« der Evangelischen Kirchen in der DDR teil. Auf einer solchen Veranstaltung in Bischofsrod/Suhl mit DDR-Medizinern äußerte er sich kritisch zur angeblich hemmenden Wirkung des Zentralismus in der DDR für die IPPNW-Arbeit an der Basis, zur Behinderung der Belieferung von DDR-Bürgern mit IPPNW-Informationen aus der BRD (Zeitschrift »Rundbriefe«) und propagierte die These vom zivilen Ungehorsam als Wirkungsmöglichkeit auf unterer Ebene gegen staatliche Entscheidungen.
Während einer von zwei durch den »Christlichen Arbeitskreis Ärzte für den Frieden« in der Französischen Friedrichstadtkirche in der Hauptstadt Berlin organisierten sogenannten Nachfolgeveranstaltung des Erfurter Symposiums verlas Bonhoeffer erneut den Vortrag »Die Bösen …«. Ferner äußerte er sich zu der staatlichen Entscheidung der Relegierung von vier Schülern der EOS »Carl von Ossietzky«. Er sei darüber »tief erschüttert«, und es sei für ihn künftig schwer, mit den »Oberen der DDR« weiter im Gespräch zu bleiben.
Wie dem MfS darüber hinaus streng intern bekannt wurde, nahmen Bonhoeffer und andere Mitglieder der Sektion BRD der IPPNW am 20. November 1988 am sogenannten Informationsgottesdienst im Zusammenhang mit der Relegierung der Schüler der EOS »Carl von Ossietzky« in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg sowie an Zusammentreffen mit führenden Organisatoren des Berliner »Ärztekreises« am 20. und 21. November 1988 in der Privatwohnung des hinlänglich bekannten Sebastian Pflugbeil teil. Auch dort wurden konkrete Überlegungen der Solidarisierung mit den relegierten Schülern beraten. (Dazu wurde in der Information des MfS Nr. 508/88 vom 22. November 1988 berichtet.)
Ein diesbezüglicher Protest von Bonhoeffer beim Prorektor für Gesellschaftswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin wurde von diesem zurückgewiesen.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.