Unterstützung der Inhaftierten durch Schriftsteller und Musiker
9. Februar 1988
Information Nr. 72/88 über feindlich-negative Aktivitäten einiger im kulturellen Bereich tätiger Personen
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen traten im Zusammenhang mit den durchgeführten strafprozessualen Maßnahmen gegen feindlich-negative Kräfte auch einige im kulturellen Bereich tätige Personen zum Teil öffentlichkeitswirksam und unter Missbrauch kirchlicher Räumlichkeiten mit gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Aktivitäten in Erscheinung. Sie nutzten u. a. die von im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirkenden Kräften organisierten und durchgeführten sogenannten Informationsgottesdienste in Kirchen ständig wechselnder Kirchengemeinden in der Hauptstadt der DDR, Berlin, um sich öffentlich mit den Inhaftierten zu solidarisieren und deren Freilassung zu fordern. In Einzelfällen bekundeten sie ihre ablehnende Haltung zu den staatlichen Maßnahmen in entsprechenden Veröffentlichungen westlicher Massenmedien.
Dazu im Einzelnen:
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Der hinlänglich bekannte Lutz Rathenow verlas auf der am 29. Januar 1988 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg stattgefundenen »Meditationsandacht mit Lesung und Musik« vor ca. 1 000 Besuchern eine von ihm verfasste und mit starkem Beifall aufgenommene Erklärung (Wortlaut siehe Anlage 1), in der er die Freilassung der Inhaftierten, die Einstellung aller Ermittlungsverfahren und die Rückgabe beschlagnahmter Bücher und Manuskripte forderte.
(Streng internen Hinweisen zufolge hat sich Rathenow zu einem engen Kontaktpartner des in Westberlin ansässigen Feindes der DDR, Roland Jahn, profiliert.)
Die auf der gleichen Veranstaltung aufgetretene Schauspielerin Heidemarie Wenzel/Berlin (Übersiedlungsersuchende seit März 1986; es ist beabsichtigt, ihrem Ersuchen am 10.2.1988 stattzugeben) erklärte sich ebenfalls solidarisch mit den zu diesem Zeitpunkt noch inhaftierten Stephan Krawczyk und Freya Klier.
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Auf der am 4. Februar 1988 in der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg stattgefundenen »Solidaritätsandacht« (ca. 2 000 Besucher) verlas der Lyriker Uwe Kolbe eine »persönliche Erklärung«, die massive, verleumderische Angriffe gegen die Innen- und Außenpolitik der DDR und gegen führende Repräsentanten der Partei und des Staates enthält (Wortlaut siehe Anlage 2).
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In einem innerhalb der Sendung »GLASNOST« des Westberliner Senders 103,4 am 25. Januar 1988 veröffentlichten Interview lehnte der freiberufliche Autor Hans-Eckhardt Wenzel/Berlin (Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR) die Inhaftierung »Andersdenkender« mit der Begründung ab, die DDR schaffe sich damit erst ihre »Märtyrer«.
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In einem von der BRD-Wochenzeitung »DIE ZEIT« (5. Februar 1988) veröffentlichten »Appell« unter dem Motto »Toleranz muss wachsen« fordert der freiberufliche DDR-Schriftsteller Günter de Bruyn (Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR) unter Bezugnahme auf die staatlichen Maßnahmen vom Staat »Frieden mit den Andersdenkenden« und den politischen Dialog mit derartigen Personen.
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Der Liedermacher Karl-Heinz Bomberg/Berlin verfasste einen an den Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, gerichteten »Protestbrief«, in dem er die Freilassung Stephan Krawczyks und die Aufhebung seiner Auftrittsverbote forderte.
(Bomberg solidarisierte sich außerdem während eines Auftrittes am 29. Januar 1988 in der Gethsemanekirche mit den Inhaftierten.)
Nach streng internen Hinweisen unternahm die freiberufliche Autorin Monika Tappe-Maron mehrfach Versuche, namhafte DDR-Autoren, darunter Christa Wolf und Stefan Heym, für »Solidaritätsaktionen« zugunsten der Inhaftierten zu gewinnen.
Wie weiter intern bekannt wurde, verfassten mehrere feindlich-negative Personen, darunter die als Hilfspflegerin in einer kirchlichen Einrichtung in der Hauptstadt der DDR tätige Katharina Harich, einen »offenen Brief«, gerichtet an namhafte DDR-Rockgruppen und an die Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR (Wortlaut siehe Anlage 3). Darin werden die Genannten aufgerufen, sich mit den Inhaftierten zu solidarisieren und an »Solidaritätsveranstaltungen« in Kirchen mitzuwirken. (Bisher liegen keine Hinweise über den Versand dieses »offenen Briefes« vor.)
Es ist beabsichtigt,
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Die Personen Bomberg, Kolbe und Rathenow durch das zuständige Untersuchungsorgan des MfS vorzuladen und sie dahingehend zu belehren, künftig die Rechtsvorschriften der DDR strikt einzuhalten. Bei Nichtbefolgen haben sie mit entsprechenden Sanktionen zu rechnen.1
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Zu der Person Wenzel, Hans-Eckardt ist seitens des Bezirksschriftstellerverbandes Berlin entsprechend zentraler Festlegungen eine Auseinandersetzung vorgesehen.
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Mit dem de Bruyn sollte durch den Schriftstellerverband der DDR eine analoge Auseinandersetzung erfolgen.
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Die Harich wird durch die zuständige Abteilung für Inneres vorgeladen und aktenkundig belehrt, künftig die Rechtsvorschriften der DDR strikt einzuhalten.
In Abhängigkeit von Inhalt und Verlauf vorgenannter Aussprachen bzw. Auseinandersetzungen werden Vorschläge zum Vorgehen gegenüber der Person Tappe-Maron unterbreitet.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage 1 zur Information Nr. 72/88
[Abschrift]
Text der Erklärung, der von Rathenow am 29. Januar 1988 in der Erlöserkirche verlesen wurde
»Zum ersten Mal seit 1980 stehen wieder künstlerische Arbeiten im Zentrum eines Ermittlungsverfahrens. Die Beschlagnahme von Büchern und Manuskripten stellt eine gezielte Einmischung der Staatssicherheit in das literarische Leben der DDR dar.
Wir fordern die Freilassung der Inhaftierten, Einstellung des E-Verfahrens und Rückgabe des beschlagnahmten Materials.
Wir hoffen, dass es nicht der Staatsanwaltschaft allein überlassen bleibt, was der literarischen Entwicklung der DDR nützt und was sie schädigt. Der letzte Schriftstellerkongress hat die Forderung nach mehr Offenheit und Abschaffung der Zensur erhoben.
Stützt solche Hoffnungen! Wir bitten alle Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffende sich öffentlich in ihren Berufsverbänden in diesem Sinne einzusetzen.«
Anlage 2 zur Information Nr. 72/88
[Abschrift]2
[Uwe Kolbe:] Persönliche Erklärung
Die Regierung der DDR gestattet sich Toleranz. Sie gestattet sich Toleranz gegenüber Franz Josef Strauß. Sie gestattet sich Toleranz gegenüber dem Deutschen Industrie- und Handelstag, d. h. gegenüber Flick.
Die Regierung gestattet sich Toleranz gegenüber antipolnischen Stimmungen. Die Regierung gestattet sich gegenüber dem Exitus Zehntausender tolerant zu sein. Sie erlaubte sich Toleranz gegenüber sich selbst und ihren Geschäftspartnern im Westen bei dem Verkauf von Staatsbürgern.
Sie ist tolerant gegenüber dem Zustand unserer Flüsse, gegenüber tschechischem Smog im Erzgebirge und dem DDR-Smog im Riesengebirge und dem westdeutschen Dreck auf DDR-Mülldeponien. Die tolerante Regierung der DDR möchte den Weg ihrer Entscheidungsfindung allerdings auf ewig im Dunkeln halten.
Sie verdammt uns zur Astrologie. Wer Toleranz gegenüber dem Wunsch nach freier Information fordert, stößt auf Zollgesetze. Wer Toleranz gegenüber freier Meinungsäußerung fordert, stößt an die Grenzen der Zensur. Wer Toleranz gegenüber dem Wunsch nach Freizügigkeit der Person fordert, der erfährt, dass ein Staatseigentum an der Person besteht.
Wer Toleranz fordert für den Wunsch nach neuen Modellen und neuen Definitionen für Fortschritt, Zukunft und Überleben, wird staatsfeindlicher Umtriebe verdächtigt. Wer Toleranz fordert gegenüber einer Friedenspolitik von Unten, wer sich mit den alternativen Kräften der westlichen Welt darin zusammentut, mit den Frauen von … oder der AL, mit END und CND, mit unabhängigen Aktiven in aller Welt, der scheitert an einem Strafrecht, das 1979 grundlegend verschärft wurde, das solche Aktivitäten bezeichnet als »Zusammenrottung« und »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«.
Wer dann noch Toleranz erwartet gegenüber dem Wunsch, dies weiterhin in der DDR tun zu können, den heißt das »ND« Konsorte westlicher Geheimdienste. Es gibt unter diesen Umständen keine Bittschrift zu verfassen. Zu gut wissen die Verantwortlichen, was sie verantworten.
Sie tragen und tragen ganz ohne Scham den Namen der Zukunft vor sich her. Nur projizieren sie als Zukunft einen Idealstaat ohne Widersprüche, eine Art preußisches Idyll, in dem Ordnung und Sicherheit flächendeckend sein sollen. Sie betrügen uns um die Gegenwart, und damit töten sie die Zukunft. Wenn nicht jetzt der produktive Konflikt anstelle von Rufmord und Staatssicherheitskampagne tritt, hat diese sozialistische Gesellschaft den Rubikon überschritten.
Sie wird ihre behaupteten und vorhandenen Vorteile gegenüber anderen Systemen nicht beweisen oder nutzen können, wenn sie sich in einen Friedhof des selbstständigen Denkens verwandelt.
Die KPdSU hat ihre Schlüsse gezogen. Die regierende Partei in der DDR offensichtlich noch nicht. Was bringt es, wenn sich SED und SPD über eine Kultur des Streitens verständigen, wenn zugleich Apartheid geübt wird, wenn der Ausschluss all jener stillschweigend inbegriffen ist, die unabhängig von irgendwelcher Parteizugehörigkeit die Kultur des Streites anstreben.
Die Politik der Verständigung einer bestimmten Elite mit einer anderen wird missbraucht, das unabhängige Engagement auszugrenzen. Dass daraus nichts wird, beweist sich in diesen Tagen, und die Art des Beweises ist ungewöhnlich genug für DDR-Verhältnisse.
Unabhängig von Listen großer Namen, die früher unter gewissen Petitionen standen und stehen mussten, entfaltet sich jetzt und hier Solidarität. Für die Zeit der Inhaftierung von Bärbel Bohley, Werner Fischer, Ralf Hirsch, das Ehepaar Templin und der anderen, erkläre ich mich zum Mitglied der Gruppe »Frieden und Menschenrechte«.
Anlage 3 zur Information Nr. 72/88
[Abschrift]
Offener Brief
An die Rockgruppen City, Elektra, Engerling, Karat, Karussell, Lift, Mona Lise, NO 55, Pankow, Puhdys, Silly, Stern Meissen, Modern Soul Band und alle anderen, die sich angesprochen fühlen.
An die Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR
In den letzten Wochen ist viel von den Verhaftungen einiger Mitglieder unabhängiger und kirchlicher Gruppen und den unglaublichen Beschuldigungen gegen sie die Rede. Jene Gruppen, die gesellschaftliche Probleme in unserem Land öffentlich benennen und sich für Lösungen engagieren, werden in diesem Zusammenhang von den DDR-Massenmedien politisch diffamiert, als antisozialistisch denunziert, und sie sollen ganz offensichtlich gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Das ist der eigentliche Kern dessen, was jetzt vor sich geht.
Diese Gruppen stehen mit ihrem Engagement für ein Ziel, das von jeher eine Maxime sozialistischer gesellschaftlicher Emanzipation war: »Die Erziehung der Massen und jedes Einzelnen zur geistigen und moralischen Selbstständigkeit, zur Autoritätsungläubigkeit, zur entschlossenen Eigeninitiative, zur freien Aktionsbereitschaft und -fähigkeit, bildet … so die wesentliche Voraussetzung für die Austilgung der bürokratischen Gefahren.« (K. Liebknecht, Ges. Schriften, Bd. 9, Seite 302)
Es geht darum, neue Formen und Wege zu erproben, Türen zu öffnen, um eine solche Erziehung zu fördern. Wir gehen davon aus, dass immer mehr Menschen ihre freie Aktionsbereitschaft und -fähigkeit unter Beweis stellen werden und zur entschlossenen Eigeninitiative übergehen.
Gerade die Erfahrungen der letzten Wochen bestätigen, dass sich schon jetzt viele Menschen zur geistigen und moralischen Selbstständigkeit und zur Autoritätsungläubigkeit bekennen und danach handeln. Einige von diesen Freundinnen und Freunden sind unter absurden Beschuldigungen verhaftet worden. Im Zuge von notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen in vielen sozialistischen Staaten werden ausgerechnet in der DDR Menschen wegen ihres politischen Engagements unter der massiven Beschuldigung der Zusammenrottung und des Landesverrates kriminalisiert, verhaftet, eingesperrt und verurteilt!
Wir müssen uns dagegen wehren, genau so, wie wir uns gegen jeglichen Versuch wehren müssen, die geistige und moralische Selbstständigkeit zu brechen oder diese Form der sozialistischen Erziehung zu kriminalisieren.
Es wird sehr viel von uns abhängen, ob wir den Dingen ihren Lauf lassen, ob wir ständig nur Reagieren, oder ob wir uns Aktiv/Agierend den Problemen stellen, die unsere Zeit mit sich bringt. Durch die Initiativen zur Freilassung der Inhaftierten wurden in den letzten Tagen eine Vielzahl von Solidaritätsgottesdiensten u. a. ins Leben gerufen.
Auftakt einer Reihe von Solidaritätsveranstaltungen war am 29. Januar 1988 in Berlin, in der Erlöserkirche.
Wir sind alle zur Anteilnahme und zu einer klaren Stellungnahme aufgerufen; auch durch Zusagen zu solchen Veranstaltungen, denn hier stehen unser aller Probleme auf der Tagesordnung. Wir meinen, neben den Solidaritätsbeweisen engagierter Künstler der BRD, wie etwa Peter Maffay, Herbert Grönemeyer, Margarethe von Trotta, Hanns Dieter Hüsch, Udo Lindenberg, Barbara Sukowa, Dieter Hildebrandt gegenüber den von dieser Situation Betroffenen, sind vor allem Künstler aus unserem Land in die Verantwortung gerufen!
Bitte denken Sie und Ihre Freunde über unser Anliegen nach. Stellen Sie sich Ihrer politischen Verantwortung als Künstler und bekunden Sie Ihre Solidarität durch Ihre Teilnahme an Solidaritätsveranstaltungen. Wir suchen den Dialog, nicht die Konfrontation! Seien Sie bereit, sich sofort für diese klare Stellungnahme einzusetzen!
Stimmen Sie Zeit, Ort und Mitwirkung einer Solidaritätsveranstaltung in einer Berliner Kirche unter einer Kontaktadresse.