Veranstaltung zur Ausreise in der Paul-Gerhardt-Gemeinde/Berlin
18. Mai 1988
Information Nr. 260/88 über beachtenswerte Aspekte im Zusammenhang mit dem am 10. Mai 1988 in der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg durchgeführten Gottesdienst
Am 10. Mai 1988 fand in der Zeit von 19.30 bis 21.40 Uhr in der Paul-Gerhardt-Kirchgemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg ein Gottesdienst mit anschließendem Gespräch zum Thema: »Unzufriedenheit in diesem Lande« statt.
Die überwiegende Mehrheit der ca. 400 Teilnehmer waren Übersiedlungsersuchende aus verschiedenen Bezirken der DDR, darunter aus Gera, Karl-Marx-Stadt, Erfurt und Rostock.
Anwesend waren die kirchlichen Amtsträger Superintendent Görig, Pfarrer Düsterdick, Pfarrer Mangliers und Pfarrer Passauer (alle Berlin), Mitglieder des Gemeindekirchenrates der Paul-Gerhardt-Gemeinde und Rechtsanwalt Schnur/Rostock.
Die Predigt des für die Veranstaltung verantwortlichen Pfarrer Mangliers war nur in Ansätzen theologisch geprägt. Sie enthielt z. T. massive Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR. Das widerspiegelte sich u. a. in solchen Aussagen wie: In der DDR könne man nicht verwirklichen, was Gott wolle, da dieses System starr und überholungsbedürftig sei. Es fehle an öffentlicher Meinungsäußerung; dafür gäbe es genügend bezahlte Meinungsmacher, welche die Probleme der Gesellschaft »kleiner machen« würden.
Abschließend betonte Mangliers, er könne aufgrund eines Gesprächs, das der Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres in Vorbereitung dieses Gottesdienstes mit ihm geführt habe, auf keine weiteren Probleme eingehen.
(In diesem von Pfarrer Mangliers erwähnten und am 3. Mai 1988 durchgeführten Gespräch war ihm unmissverständlich die staatliche Erwartungshaltung zur Unterbindung jeglicher politischer Missbrauchshandlungen dargelegt worden. Bereits in diesem Gespräch zeigte er sich uneinsichtig gegenüber den Argumenten des Vertreters des Staates.)
Der Predigt folgten drei Fürbitten, in denen sich die Teilnehmer für die »unschuldig Verurteilten« aussprachen sowie die Ansicht vertraten, es käme für die Regierung der DDR darauf an, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, einen offenen Meinungsaustausch zu garantieren sowie den Anliegen der Übersiedlungsersuchenden entgegenzukommen.
Gegen 20.35 Uhr wurden die Teilnehmer durch die verantwortlichen kirchlichen Amtsträger in sechs Gruppen aufgeteilt, in denen Diskussionen zu folgenden Themen stattfanden:
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Unter welchen Bedingungen ist ein Leben von Übersiedlungsersuchenden in der DDR weiterhin möglich?
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Verhältnis von Übersiedlungsersuchenden zu anderen Bürgern und Möglichkeiten, mit diesen einen sachlichen Dialog zu führen.
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Demonstrativhandlungen – ein möglicher Ausweg für Übersiedlungsersuchende?
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Widersprüche zwischen der Innen- und Außenpolitik der DDR.
Im Mittelpunkt der Diskussionsgruppen standen kritische Äußerungen an der Arbeit der zuständigen staatlichen Organe mit den Übersiedlungsersuchenden (schleppende Bearbeitung der Ersuchen, »Hinhaltetaktik«, ungenügende oder fehlende Auskunftserteilung bei laufenden Ersuchen bzw. Ablehnung, Nichtanhörung »wichtiger und humanitärer Begründungen« u. a.). Es wurde die Schaffung legaler Möglichkeiten zur Darlegung der Übersiedlungsproblematik, darunter von Einzelfällen und Selbstdarstellungen, z. B. unter Ausnutzung von Veranstaltungen der »URANIA« und des »Kulturbundes«, gefordert.
In den Diskussionsgruppen wurde weiter u. a. zum Ausdruck gebracht, für die Übersiedlungsersuchenden bleibe als einziges Kommunikationszentrum die Kirche. Deshalb stehe für die Übersiedlungsersuchenden die vorrangige Aufgabe, durch mehr öffentlichkeitswirksame Maßnahmen auf die »Verletzungen der primitivsten Menschenrechte« in der DDR aufmerksam zu machen. So sollten sie sich öffentlich – so wurde weiter argumentiert – gegen »Diskriminierungen durch die Staatssicherheit« (am 1. Mai 1988 und früher) sowie gegen die verschiedensten »Schikanen« auf ihren Arbeitsstellen wenden.
Mehrere Teilnehmer von Diskussionsgruppen forderten, dass ab sofort jeden Sonntag, 10.00 Uhr, thematische Gottesdienste mit anschließender Gesprächsrunde für Übersiedlungsersuchende vorwiegend in der Sophien-, Bekenntnis-, Gethsemane- und Samariterkirche sowie in der Paul-Gerhardt-Gemeinde stattfinden und die Übersiedlungsersuchenden rechtzeitig über die nächsten Veranstaltungen informiert werden.
Von den anwesenden kirchlichen Amtsträgern, die nichts zur Zurückweisung der feindlich-negativen Diskussionen unternahmen, wurde bekanntgegeben, dass der nächste inhaltlich gleich gelagerte Gottesdienst am 15. Mai 1988, 10.00 Uhr, in der Bekenntniskirche und am 27. Mai 1988 als Fortsetzungsveranstaltung des Gottesdienstes in der Paul-Gerhardt-Gemeinde in einer anderen Kirche, die während der Pfingstgottesdienste in Berlin noch benannt werden soll, stattfindet.
(Der Gottesdienst in der Bekenntniskirche Berlin-Treptow fand am 15. Mai 1988, in der Zeit von 10.00 bis 11.15 Uhr in Anwesenheit von ca. 300 Personen, darunter etwa 150 Übersiedlungsersuchende, statt. Da die dort von Pfarrer Kruse gehaltene Predigt neben theologischen Inhalten ausschließlich Aussagen zum Umweltschutz in der DDR, jedoch nichts zur Übersiedlungsproblematik enthielt, verließen einzelne Gruppen von Übersiedlungsersuchenden enttäuscht vorzeitig die Kirche.)
Während des Gottesdienstes in der Paul-Gerhardt-Gemeinde anwesende Vertreter des Gemeindekirchenrates wurden von Teilnehmern einer Diskussionsrunde aufgefordert, anlässlich des »Internationalen Treffens für kernwaffenfreie Zonen« vom 20. bis 22. Juni 1988 in der Hauptstadt der DDR einreisende Delegationen westlicher Staaten in die Kirchen einzuladen mit dem Ziel, zumindest einige Delegationsmitglieder für die Übersiedlungsproblematik zu interessieren und mit deren Hilfe eine internationale Solidaritätskampagne für ihr Anliegen auszulösen.
Die von Superintendent Görig geleitete Gesprächsgruppe befasste sich vordergründig mit dem Problem der Stellung der Kirche gegenüber den Übersiedlungsersuchenden und kam dabei zu folgendem Ergebnis: Die Kirche müsse sich für alle verantwortlich fühlen; sie soll zur Übersiedlungsproblematik mit zuständigen zentralen staatlichen Stellen ins Gespräch kommen, und sie müsse vom Staat als ernsthafter Gesprächspartner akzeptiert werden.
Pfarrer Düsterdick bemerkte in einer anderen Gesprächsrunde, er kümmere sich ständig um ca. 30 Übersiedlungsersuchende und wolle seine Amtsbrüder in der DDR aufrufen, ebenfalls derartige Gruppen zu bilden:
In der Nähe der Paul-Gerhardt-Gemeinde wurden Pkw von ZDF, epd, Saarbrücker Zeitung und ARD festgestellt. Der Vertreter vom ZDF, Börner, befand sich während der Zeit der Veranstaltung in den Räumen der Paul-Gerhardt-Gemeinde, ohne aktiv in Erscheinung zu treten.
Es wird vorgeschlagen:
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Durch den Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Berlin für Inneres, Genossen Hoffmann, sind in einem Grundsatzgespräch mit Bischof Forck und Oberkirchenrat Pettelkau (Jurist) Ziel und Inhalt der Zusammenkunft mit Übersiedlungsersuchenden am 10. Mai 1988 in der Paul-Gerhardt-Gemeinde entschieden zurückzuweisen. Von Bischof Forck ist mit aller Konsequenz zu fordern, dass die fortgesetzte Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten seitens kirchlicher Amtsträger bzw. die Duldung von Aktivitäten Übersiedlungsersuchender unter Missbrauch kirchlicher Einrichtungen und Veranstaltungen endgültig unterbunden wird.
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Dieses Gespräch sollte gleichzeitig genutzt werden, um die von Bischof Forck in Interviews mit Vertretern westlicher Medien gegen die DDR gerichteten Angriffe während seines jüngsten Aufenthaltes in der BRD entschieden zurückzuweisen.
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Analoge Gespräche zur Verhinderung von weiteren Zusammenkünften Übersiedlungsersuchender in kirchlichen Objekten sind durch die Stellvertreter für Inneres der Räte der Stadtbezirke Prenzlauer Berg mit Pfarrer Mangliers (Paul-Gerhardt-Gemeinde), Mitte mit Pfarrer Passauer (Sophienkirche) und Treptow mit Pfarrer Hilse (Bekenntniskirche) zu führen.
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