Weitere Meinungen zum Treff Honeckers mit den 1. SED-Kreissekretären
14. März 1988
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED am 12. Februar 1988 [Bericht O/200b]
(2. Zusammenfassung)
Vorliegenden weiteren Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge halten Meinungsäußerungen von Bürgern aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen zu inhaltlichen Problemen des Referates des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Honecker, auf der Beratung mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED1 unverändert an.
Die bekannten Grundtendenzen der Reaktion der Bevölkerung dazu (vgl. Hinweise der ZAIG vom 23. Februar 1988 [O/200a]) prägen dabei auch weiterhin das Stimmungsbild.
Der auf die Erhaltung und Festigung des Friedens gerichtete außenpolitische Kurs der sozialistischen Staatengemeinschaft und die darin eingeordnete Dialogpolitik der Partei- und Staatsführung der DDR finden bei der Bevölkerung große Anerkennung und Zustimmung. Die erreichten Ergebnisse im Entspannungsprozess – besonders hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang der Abschluss des Vertrages zwischen der UdSSR und den USA über die Beseitigung der Mittelstreckenraketen – werden dabei mehrheitlich als Ergebnis und Erfolg dieser abgestimmten Politik der sozialistischen Staatengemeinschaft bewertet. Vor allem politisch interessierte Bürger verweisen aber z. T. auch mit Besorgnis auf erkennbare Bestrebungen der USA u. a. NATO-Staaten, die getroffenen Vereinbarungen und sich abzeichnende Fortschritte im Entspannungsprozess zu unterlaufen. Sie unterstreichen die Notwendigkeit erhöhter Wachsamkeit der sozialistischen Staatengemeinschaft.
Es dürfen – so äußern sich diese Personen – keine Abstriche an der militärischen Sicherheit der sozialistischen Staaten zugelassen werden.
Nach wie vor findet das kritische Herangehen der Parteiführung an die Einschätzung innenpolitischer Probleme Zustimmung. Mehrfach wird in diesem Zusammenhang – so u. a. von Arbeitern und Genossenschaftsbauern, Angehörigen der Intelligenz, Angestellten staatlicher Organe sowie in Lehre und Forschung tätigen Wissenschaftlern – zum Ausdruck gebracht, diese Herangehensweise sei offensichtlich eine Auswirkung des neuen politischen Kurses in der UdSSR, dem sich auch die DDR nicht entziehen könne.
Es wird die Auffassung vertreten, die sachliche Darstellung des Erreichten in Durchsetzung des Kurses der Hauptaufgabe sowie das kritische Aufzeigen von Problemen und Schwachstellen seien Beweis für die Lagekenntnis der Partei- und Staatsführung und ermutige dazu, sich kritischer und nachdrücklicher mit aufgetretenen Hemmnissen auseinanderzusetzen.
Die in weiterer Auswertung der Rede des Genossen Honecker geführten Diskussionen, insbesondere über seine Aussagen zu Entwicklungsprozessen in der Volkswirtschaft, lassen zwei Grundrichtungen erkennen.
In zunehmendem Maße wird eine stark ausgeprägte Erwartungshaltung, verbunden mit einer gewissen Zuversicht, dass die gegebenen Orientierungen kurzfristig und spürbar wirksam umgesetzt werden, deutlich.
In beachtlichem Umfang werden demgegenüber aber auch immer wieder Skepsis und Zweifel hinsichtlich einer konsequenten Verwirklichung der gegebenen Orientierungen und Aufgabenstellungen zum Ausdruck gebracht. So argumentieren u. a. Angehörige der medizinischen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Werktätige aus Zentren der Arbeiterklasse sowie Angestellte staatlicher Organe, dass Mängel und Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung, im Dienstleistungsbereich sowie in der Ersatzteilversorgung durch die Parteiführung permanent kritisch angesprochen und zu deren Überwindung Aufgaben gestellt wurden, ohne dass eine für die Werktätigen spürbare Verbesserung der Situation erreicht worden sei. Im Gegenteil, auf vielen Gebieten habe sich die Lage weiter zugespitzt.
Ihrer Meinung nach seien die kritischen Bemerkungen auf der Beratung auch noch zu allgemein, zu unverbindlich gewesen und berechtigten deshalb nicht zu Hoffnungen auf eine baldige Überwindung der Mängel. Eine Analyse der Ursachen entstandener Schwierigkeiten und eine namentliche Benennung der dafür Verantwortung Tragenden fehle fast völlig.
Unter Bezugnahme auf Hemmnisse und Unzulänglichkeiten im eigenen Arbeits- und Freizeitbereich äußern z. B. Arbeiter und Angestellte aus industriellen Großbetrieben, Mitarbeiter von Handelseinrichtungen und im Dienstleistungsbereich sowie Werktätige aus dem Bereich Verkehrswesen Besorgnis, dass kurzfristig Veränderungen nicht möglich seien. Dabei verweisen sie u. a. besonders auf solche Erscheinungen wie veraltete Maschinen und Anlagen, diskontinuierliche Zulieferungen von Materialien und Rohstoffen sowie auf fehlende Ersatzteile.
Immer nachdrücklicher wird von Werktätigen die Forderung erhoben, aufgetretene Probleme in der Volkswirtschaft offener anzusprechen. Nur so könnten Verständnis geweckt und Leistungen motiviert werden.
Leiter und Funktionäre, die ihre Aufgaben nicht erfüllen, sollten – so wird argumentiert – in Zukunft energischer zur Verantwortung gezogen werden. Mitglieder der SED verwiesen dabei vielfach auf die Notwendigkeit, das Statut der Partei konsequenter anzuwenden und Kritik und Selbstkritik in das richtige Verhältnis zu setzen.
In diesem Zusammenhang wird wiederholt – u. a. von Wissenschaftlern in Lehre und Forschung, Angehörigen der pädagogischen Intelligenz, journalistisch tätigen Personen sowie Angestellten staatlicher Organe zentraler und territorialer Ebene – die Frage gestellt, ob die Lage in der Volkswirtschaft nicht noch bedeutend angespannter sei, als das auf der Beratung eingeschätzt worden ist. Wesentliche Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten seien ihrer Meinung nach nicht deutlich genug angesprochen oder überhaupt nicht aufgeworfen worden. Das beziehe sich u. a. auf Probleme in der Planwirtschaft und bei der Sicherung der proportionalen Entwicklung in der Volkswirtschaft, in der Subventions- und Preispolitik, im Reproduktionsprozess sowie auf den Weltstandsvergleich, z. B. auf dem Gebiet der Elektrotechnik/Elektronik. Vorgenannte Personenkreise vermissen auch Aussagen zu den Auswirkungen der krisenhaften Entwicklung in den imperialistischen Staaten auf die Außenwirtschaftsbeziehungen der DDR und zu Fragen des Umweltschutzes.
In einer Vielzahl von Meinungsäußerungen in Arbeitskollektiven der Industrie und Landwirtschaft sowie von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen und medizinischen Intelligenz, von Angestellten staatlicher Organe und Werktätigen aus dem Bereich Verkehrswesen werden Standpunkte zur Plandisziplin in der Volkswirtschaft zum Ausdruck gebracht. Wiederholt wird von diesen Personenkreisen Unverständnis geäußert, dass Korrekturen am Plan zugelassen werden. Es sei ihrer Meinung nach auch »Augenauswischerei«, von Planpräzisierungen zu sprechen, da es sich doch hierbei ausschließlich um Reduzierungen der Planaufgaben handele. So lange solche Praktiken in der DDR möglich seien – so wird argumentiert – werde sich das Warenangebot auch nicht verbessern.
Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Genossen Honecker zu eingetretenen Planrückständen werden erneut massive kritische Diskussionen über die publizierten statistischen Werte zur Planerfüllung in der Volkswirtschaft geführt. Für das Jahr 1987 sei der Plan laut Mitteilung der Zentralverwaltung für Statistik erfüllt worden. Unter Hinweis auf diesen Widerspruch wird wiederholt mit Nachdruck die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieser Angaben gestellt, da jeden Monat über die Ergebnisse der volkswirtschaftlichen Entwicklung ausführlich informiert werde. Kriterium sei aber das zur Verfügung stehende Warenangebot, und da gebe es zurzeit bedeutende Widersprüche.
In erheblichem Umfang werden kritische Diskussionen über die in den Briefen an den Generalsekretär des ZK der SED eingegangenen Verpflichtungen zur Steigerung der Konsumgüterproduktion geführt, wobei deren Realisierbarkeit angezweifelt wird. Leitungs- und mittlere leitende Kader in Kombinaten und Betrieben sowie Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz äußern ihr Unverständnis, wie diese außerplanmäßige Warenproduktion bilanziert werden soll. Mehrfach wird dazu die Auffassung vertreten, der Plan könne nicht real sein, wenn außerplanmäßige Leistungen in diesen Größenordnungen möglich wären. Es seien – so argumentieren diese Personenkreise – auch für das Planjahr 1987 diesbezügliche Verpflichtungen übernommen worden, die nicht erfüllt werden konnten.
Werktätige aus solchen Kombinaten und Betrieben, die entsprechend der eingegangenen Verpflichtungen zusätzliche Produktionsleistungen erbringen sollen – z. B. verantwortliche Kader des VEB Kombinat Haushaltgeräte Karl-Marx-Stadt –, verweisen auf ungeklärte Probleme in den Material- und Rohstoffzulieferungen für die Zusatzproduktion.
Vorliegenden Hinweisen zufolge nehmen kritische Meinungsäußerungen aus allen Bevölkerungskreisen zur Medien- und Informationspolitik der DDR zu. Auch unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Genossen Honecker in seinem Referat über die Verantwortung der Medien für eine umfassende innen- und außenpolitische Information, die Auseinandersetzung mit sozialismusfremden und feindlichen Auffassungen wird insbesondere von politisch interessierten Bürgern nachdrücklich die Forderung nach einem offensiveren Wirksamwerden der Medien erhoben.
Mitglieder der SED, Funktionäre von anderen Parteien und Massenorganisationen sowie weitere gesellschaftlich aktive Bürger äußerten wiederholt, dass sie die Unterstützung der Medien in ihrer gesellschaftlichen Arbeit sehr vermissen. Es sei ihrer Meinung nach unverständlich, warum sich die Alltagsprobleme der Bürger, sie bewegende Fragen zu innenpolitischen und volkswirtschaftlichen Problemen bis hin zu Mängeln und Missständen in der Versorgung der Bevölkerung in der Medienarbeit unzureichend widerspiegeln. Vielfach entstehe der Eindruck, alles werde »rund gemacht«, und echte Probleme würden gänzlich verschwiegen.
Journalistisch tätige Personen äußerten, die Umsetzung von Kritik im Medienbereich sei nur schwer möglich, da es in zentralen Stellen eine »eigene Interpretation dafür gebe, was in der Presse erscheinen dürfe«. Sie forderten in diesem Zusammenhang mehr Wirklichkeitsnähe und Offenheit in der journalistischen Arbeit.
Der gleiche Personenkreis, aber auch Mitarbeiter wissenschaftlicher Einrichtungen sowie Angehörige der pädagogischen Intelligenz brachten Verwunderung darüber zum Ausdruck, in den Ausführungen des Genossen Honecker teilweise wörtliche Wiederholungen der auf der Beratung im vergangenen Jahr gehaltenen Rede wiedergefunden zu haben. Sie beziehen das insbesondere auf seine Darlegungen zu den Anforderungen an die ideologische Arbeit und leiten daraus die Frage ab, ob sich diese Probleme heute noch genauso darstellen wie im Vorjahr.
Auf massive Kritik und Ablehnung in einer Vielzahl von Arbeitskollektiven stößt – nach weiter vorliegenden Reaktionen – das von den Werktätigen als »übliche Praxis der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre« bezeichnete kurzzeitige Abverlangen von Stellungnahmen einzelner Werktätiger zum Referat des Genossen Honecker. Wiederholt wird die Frage nach dem Nutzen solcher »formalen« Erklärungen gestellt. In der Regel seien – so äußern sich vor allem Arbeiter und Angestellte von Großbetrieben – die abgegebenen Stellungnahmen Wiederholungen der Ausführungen bzw. ausschließlich zustimmende Meinungsäußerungen. Wiederholt wird diese Praxis als »lästige Pflicht« bezeichnet, die von der Arbeit ablenke und zur Unehrlichkeit ermuntere.
Mitglieder des Landeskirchenrates und weitere kirchlich gebundene Personen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen schätzen den Beitrag der DDR zur Friedenssicherung als positiv ein. Ihrer Meinung nach bestünde aber ein Widerspruch zwischen dem auf die Erhaltung und Sicherung des Friedens gerichteten Kurs und der fehlenden Bereitschaft zur Schaffung eines »Friedens nach innen«. Den Erfordernissen zur Schaffung eines »inneren Friedens« würde von zentralen Stellen zu wenig Beachtung geschenkt. Die Kirchenleitung habe im Referat des Genossen Honecker z. B. deutlichere Aussagen über eine offensivere Pressearbeit und bessere Informierung der Bürger zu den Reisemöglichkeiten sowie zur Übersiedlungsproblematik erwartet.
Einzelne kirchliche Amtsträger äußerten, sie sehen einen Widerspruch zwischen der Gesamtbilanz der Volkswirtschaft und dem Warenangebot im Handel. Der »spürbare Drang breitester Teile der Bevölkerung nach innenpolitischen Reformen« habe im Referat zu wenig Beachtung gefunden.
Weiter vorliegende beachtenswerte Reaktionen beinhalten Meinungsäußerungen von Lesern und Abonnenten der sowjetischen Wochenzeitschrift »Neue Zeit«. So sei von ihnen sehr ungehalten über die Nichtauslieferung mehrerer Ausgaben dieser Zeitschrift reagiert worden. Nach ihrer Auffassung ist es unbefriedigend, vom Postzeitungsvertrieb lediglich eine lakonische Mitteilung über die Rückerstattung des Kaufpreises und keine Information über die Ursachen der Nichtauslieferung zu erhalten. Wiederholt wird dazu argumentiert, dass mit dieser Maßnahme die DDR-Bürger politisch entmündigt werden.