Weitere Reaktionen der Bevölkerung auf den Pkw »Wartburg 1.3«
27. Oktober 1988
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Pkw »Wartburg 1.3« [Bericht O/208–1]
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge halten die äußerst kritischen Diskussionen unter breiten Kreisen der Bevölkerung, vor allem aber von Werktätigen in volkswirtschaftlichen Schwerpunktbetrieben der Industrie, des Verkehrs- und Nachrichtenwesens, der Landwirtschaft, von Angehörigen der pädagogischen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz sowie von Mitarbeitern staatlicher Organe, zur Preisgestaltung des Pkw »Wartburg 1.3«1 unverändert an. Die dazu bekannten Grundtendenzen der Reaktion der Bevölkerung (Hinweise der ZAIG vom 23. September 1988 [Bericht O/208]) prägen auch weiterhin das Stimmungsbild zu diesem Problem.
In beachtlichem Umfang wenden sich nach wie vor Werktätige aus den verschiedensten Bereichen der Volkswirtschaft, darunter auch Mitglieder und Funktionäre der SED, Volksvertreter sowie andere politisch progressive und gesellschaftlich engagierte Bürger, z. T. auch Arbeits- bzw. Gewerkschaftskollektive, an zentrale staatliche und Parteiorgane, um ihrer ablehnenden Haltung besonderen Nachdruck zu verleihen.
Laut Einschätzung des Amtes für Preise stieg die Anzahl der Eingaben an zentrale staatliche Organe zu Problemen der Preisgestaltung seit den Veröffentlichungen in den Medien der DDR am 27. August 1988 zum Pkw »Wartburg 1.3«2 auf das Achtfache zum Vergleichszeitraum des Vorjahres an. Mehr als die Hälfte der Eingaben wurden von Einwohnern des Bezirkes Dresden und der Hauptstadt der DDR, Berlin, verfasst.
In z. T. emotional stark geprägten Meinungsäußerungen werden von den Werktätigen in vielfältigen Gesprächen bzw. auf Versammlungen sowie in Eingaben solche Auffassungen vertreten wie z. B., mit dieser Preisfestlegung habe man den Bogen überspannt, das sei keine Politik zum Wohle des Volkes, die Entscheidung richte sich vor allem gegen die Arbeiter; der Staat habe sich bei der Preisfestlegung offensichtlich nur davon leiten lassen die Kaufkraft abzuschöpfen.
Häufig berufen sich in diesem Sinne äußernde Personen auf ihre Einkünfte, um damit zu begründen, dass ihnen der Kauf dieses Pkw unmöglich geworden sei. Breite Bevölkerungsschichten, für die ein Pkw kein Luxusartikel, sondern – häufig auch bedingt durch unzureichende Möglichkeiten im Nahverkehr – ein Gebrauchsgegenstand ist, werden – so wird dazu argumentiert – von der Erwerbsmöglichkeit eines Pkw ausgeschlossen. Es treffe vor allem die Werktätigen, die die materiellen Werte produzieren, also jene Menschen, denen entsprechend der Linie der SED die Hauptsorge in unserem Staat gelte. Mit einer gewissen Verbitterung wird auch die Frage gestellt, für wen dieses Auto eigentlich produziert werde.
Besonders im Hinblick auf einen störungsfreien Verlauf der Kommunalwahlen im Mai 1989 ist bedeutsam, dass u. a. Werktätige aus Konzentrationspunkten der Arbeiterklasse in diesem Zusammenhang wiederholt die Meinung vertraten, man habe bei den letzten Wahlen offensichtlich die »falschen« Volksvertreter gewählt.
Feststellungen zufolge stießen zentrale Argumentationen zum Pkw »Wartburg 1.3« vielfach auf Ablehnung. Selbst zahlreiche Mitglieder und Funktionäre der SED sowie befreundeter Parteien u. a. progressive Kräfte argumentieren, die Autoren wüssten offenbar nicht mehr, wie es an der Basis aussieht, was die Werktätigen denken. In der Information des ZK der SED »Zum neuen Wartburg« würden die von den Bürgern mit großem Nachdruck gestellten kritischen Fragen und Argumente nicht beantwortet. Häufig war sie Anlass für weitergehende kritische Diskussionen zu Problemen der Preispolitik in ihrer Gesamtheit und für das Aufwerfen von Fragestellungen nach der Effektivität der Volkswirtschaft der DDR.
Vielfach wird von den sich dazu äußernden Personen, u. a. Angehörige der wissenschaftlich-technischen und medizinischen Intelligenz sowie Arbeiter und Angestellte aus Großbetrieben, die Meinung vertreten, die bisher veröffentlichten Argumente zur Rechtfertigung des Preises offenbarten grundlegende ökonomische und technologische Schwächen in unserer Volkswirtschaft. Es sei unverantwortlich, für die Produktion eines nach wie vor technisch veralteten Modells 9 Milliarden Mark zu investieren. Die dafür Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Für den Käufer sei es letztlich uninteressant, welche Betriebe oder Taktstraßen errichtet bzw. rekonstruiert werden mussten; diese Probleme müssten auch von kapitalistischen Firmen gemeistert werden. Völlig unverständlich sei, dass die DDR trotz hochleistungsfähiger technischer Ausrüstungen und Technologien einen Pkw produziert, der keinem internationalen Vergleich standhält.
Besonders heftige kritische Diskussionen lösten die Ausführungen des Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK sowie 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED Berlin, Genossen Schabowski, auf der Berliner Bestarbeiterkonferenz zum »Wartburg« aus. Die Bemerkungen werden offen als Verdummung und Verhöhnung der Arbeiter bezeichnet. Seine Argumentation zeuge, so wird behauptet, von mangelndem Interesse für die Belange und Erwartungen der Bevölkerung.
Weiter vertieft hat sich dabei in solchen Diskussionen unter den genannten Personenkreisen die Tendenz, diese Preisfestlegung zum Anlass für äußerst kritische bis offen ablehnende Meinungsäußerungen zur Preispolitik in ihrer Gesamtheit, vor allem aber zur Entwicklung des Lohn-Preis-Gefüges, der Preisstrukturen und zum Umfang staatlicher Subventionen, zu nehmen. In beachtlicher Breite wird dabei die Auffassung vertreten, in der DDR vollziehe sich eine inflationäre Preisentwicklung, mit der eine grundlegende Verschiebung der Preisstrukturen und -relationen einhergehe. Das Festhalten der Partei- und Staatsführung an der gegenwärtigen Preispolitik – stabile Preise für Grundnahrungsmittel, Tarife, Dienstleistungen einerseits und eine »Preisexplosion« bei Konsumgütern andererseits – findet nicht mehr die ungeteilte Zustimmung der Bevölkerung.
Zunehmend werden auch von progressiven Bürgern Auffassungen vertreten, dass
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der Umfang staatlicher Subventionen nicht mehr zeitgemäß sei und reduziert werden müsse,
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durch die unterschiedliche Entwicklung von Einkommen und Preisen, vor allem für Konsumgüter, das erreichte Lebensniveau nicht gehalten werden könne,
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sich ein ungesundes Verhältnis zwischen den Preisen für Waren des täglichen Bedarfs und für Konsumgüter entwickelt habe.
In diesem Zusammenhang wird verstärkt argumentiert, in der DDR werde offenbar versucht, die Folgen des Nichtbeherrschens ökonomischer Prozesse auf die Werktätigen, vor allem aber auf die Arbeiter, abzuwälzen. Besonders progressive und gesellschaftlich engagierte Bürger verweisen mit Besorgnis in Diskussionen über die Preispolitik auf die ihrer Meinung nach zunehmend negativen Auswirkungen im Zusammenhang mit den erweiterten Möglichkeiten der Erlangung westlicher Währung durch große Teile der Bevölkerung der DDR.
Mit Enttäuschung und Verbitterung verweisen sie darauf, dass es DDR-Bürgern, die im Besitz westlicher Währung sind, zunehmend besser und unkomplizierter gelänge, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dafür äquivalente Leistungen erbringen zu müssen.
Vor allem im Zusammenhang mit den Neuregelungen im Zahlungsverkehr mit der BRD wurde von diesem Personenkreis argumentiert, dass damit Personen, die häufig nicht hinter der Politik von Partei und Regierung stehen, deutlich bevorteilt werden. Das »Westgeld« sei zur zweiten Währung in der DDR geworden. Es wird befürchtet, dass künftig der Niveauunterschied zwischen dem Warenangebot in normalen Läden und den Intershop- bzw. Genex-Einrichtungen noch deutlicher sichtbar wird, sodass sich dadurch auch die sozialen Unterschiede in der DDR-Bevölkerung spürbar verschärfen werden. Dabei wird immer offener von der Herausbildung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in der DDR gesprochen – Bürger mit bzw. ohne »Westgeld«.
Vorliegende Hinweise verdeutlichen, dass auch progressive Kräfte, darunter Mitglieder und Funktionäre der SED, immer weniger bereit sind, solche zentralen Entscheidungen mitzutragen und zu unterstützen, die – aus ihrer Sicht gesehen – zu einer Einschränkung ihres Lebensniveaus bzw. zu einer einseitigen Bevorteilung solcher Kreise der Bevölkerung führen, die sich wenig für den Staat engagieren. Diese Haltung findet ihren Ausdruck u. a. darin, dass
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entsprechende zentrale Orientierungen/Argumentationen überhaupt nicht oder nur formal ausgewertet bzw. angezweifelt und als unglaubwürdig zurückgewiesen werden,
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in Meinungsäußerungen in einzelnen Gesprächen bzw. auf Versammlungen offen eine von den zentralen Orientierungen abweichende Haltung zum Ausdruck gebracht wird,
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zunehmend auch solche Personenkreise mit Eingaben in Erscheinung treten, in denen Kritik an entsprechenden Entscheidungen geübt bzw. diese abgelehnt werden und die Erwartung ausgesprochen wird sie zurückzunehmen.