124. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen
9. Juni 1989
Information Nr. 287/89 über die 124. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) in der DDR vom 2. bis 3. Juni 1989 in der Hauptstadt der DDR, Berlin
An der Tagung der KKL nahmen mit Ausnahme von Bischof Forck1 (Berlin), Präsident Domsch2 (Dresden) und Präses Gaebler3 (Leipzig) alle anderen Bischöfe, die Leiter der kirchlichen Verwaltungseinrichtungen der Landeskirchen sowie die synodalen Mitglieder der KKL teil.
Im Mittelpunkt der Tagung standen
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Bericht zur Lage durch den Vorstand der KKL
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Berichte aus den Landeskirchen
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Gesichtspunkte und Leitlinien für den Konferenzbericht 1989 der KKL
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innerkirchliche und theologische Fragen.
In dem vom stellvertretenden Vorsitzenden der KKL, Bischof Demke4 (Magdeburg), vorgetragenen Bericht des Vorstandes der KKL zur Lage wurde vordergründig über in Kirchengemeinden und kirchlichen Gremien zur Sprache gekommene Beschwerden und Eingaben informiert.5
Bischof Demke führte u. a. aus, es gebe »zahllose Gerüchte und Fälle« über die Ausfüllung der Wahlunterlagen mit Bleistift und Nichtgewährleistung der Öffentlichkeit bei der Auszählung der Stimmen in den Sonderwahllokalen.6 Gruppen, welche am Wahltag die öffentliche Stimmenauszählung in Wahllokalen »überprüft« haben, hätten in vielen Fällen die Zahl der Nein-Stimmen wesentlich höher veranschlagt (zwischen 8–10 %) als im offiziellen Wahlergebnis gemeldet.7
Demke informierte in diesem Zusammenhang, es gingen immer häufiger Berichte ein, wonach man Gruppen oder Mitglieder von Gruppen »bedrohe«, indem sie zur Staatsanwaltschaft vorgeladen werden, wo ihnen mitgeteilt wird, sie würden strafrechtlich belangt, falls sie ihre Zahlen weitergeben.8
Im zweiten Teil des Berichtes des Vorstandes der KKL wurde durch Bischof Demke hervorgehoben, gegenwärtig würde »eine Reihe von Dingen« laufen, die staatlicherseits großzügig gehandhabt werden. In diesem Zusammenhang nannte er die kurzfristige Zustimmung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker9 zu der im Brief10 von Altbischof Schönherr11 geäußerten Bitte hinsichtlich der Teilnahme von weiteren 300 Christen aus der DDR am Kirchentag12 der EKD in Westberlin sowie dem vorgesehenen Besuch des Vorsitzenden des Staatsrates in Greifswald anlässlich der Wiedereinweihung des Greifswalder Doms.13
Im weiteren Verlauf der KKL-Sitzung führte Bischof Demke bezogen auf die Kommunalwahlen aus, die Kirche stehe wieder einmal an der Stelle, wo sie sich entscheiden müsste, »ob und wie man Druck ausüben solle oder nicht«. Die Auswirkung von Druck auf den Staat könne man im Moment nicht einschätzen, und Druck sei deshalb nicht zu verantworten.14
Er verwies dabei auf den Wortlaut des Entwurfs »Meinungsbildung zu Anfragen im Zusammenhang mit der Kommunalwahl«, welcher der KKL-Sitzung zur Diskussion und Beschlussfassung vorlag.15 (Internen Hinweisen zufolge wurde dieser Entwurf durch Konsistorialpräsident Stolpe16 (Berlin) nach Absprache mit Bischöfen und Chefjuristen der Landeskirchen erarbeitet. Dieser Entwurf enthielt u. a. die direkte Forderung, »im Rahmen des Erneuerungsprozesses unserer Gesellschaft ein demokratisiertes Wahlsystem zu entwickeln«.)17
Bischof Gienke18 (Greifswald) versuchte in der Diskussion, Formulierungen im Textentwurf zu entschärfen bzw. eine Beschlussfassung zu verhindern. Er argumentierte u. a. dahingehend, ihm sei durch staatliche Gesprächspartner mitgeteilt worden, falls man den Staat als »Lügner« bezeichne, stünden staatliche Vertreter für Gespräche nicht mehr zur Verfügung. Gienke konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Ihm wurde mehrheitlich entgegengehalten, es sei notwendig, die Wahrheitsfrage zu stellen, und derjenige, der Korrekturen an den Wahlergebnissen vorgenommen hätte, könne nun nicht auch noch der Beleidigte sein.19
Im Ergebnis der Diskussion wurden einige Formulierungen verändert, ohne damit wesentliche Abstriche an den politischen Grundaussagen vorzunehmen. Dieser überarbeitete Entwurf »Meinungsbildung zu Anfragen im Zusammenhang mit der Kommunalwahl« wurde von der KKL bei 17 Ja-Stimmen, einer Nein-Stimme (Bischof Gienke, Greifswald) und drei Stimmenthaltungen (soweit bisher bekannt Oberkonsistorialrat Schulze20 (Dessau) und Oberkirchenrat Kirchner,21 Eisenach) zum Beschluss erhoben. (Wortlaut siehe Anlage)22
Von der KKL war für die Veröffentlichung eine Sperrfrist bis 6. Juni 1989, 14.00 Uhr, festgelegt worden. Nach streng intern vorliegenden Hinweisen hatte sich die KKL für diese Sperrfrist entschieden, um Vorabmeldungen westlicher Medien darüber noch vor Abschluss der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 6. Juni 1989 zu verhindern.
Die Vertreter der Gliedkirchen erhielten Exemplare zur Übermittlung an alle Pfarrämter der evangelischen Kirchen in der DDR mit der Festlegung, darüber keine Kanzelabkündigungen durchzuführen. (Dem MfS wurde intern bekannt, dass Exemplare der »Meinungsbildung« in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg als innerkirchliches Material unmittelbar nach Abschluss der KKL-Tagung im Umlauf waren.)
Im Verlaufe der KKL-Tagung wurde von Konsistorialpräsident Stolpe über die geplant gewesene öffentlichkeitswirksame Demonstration feindlicher, oppositioneller Kräfte am 7. Juni 1989 in Berlin informiert.23 Als Zielstellung dieser Aktion nannte er, damit den Protest gegen »die Wahlfälschung« zum Ausdruck bringen zu wollen.
Streng internen Hinweisen zufolge habe Stolpe am Rande der 124. KKL-Tagung in individuellen Gesprächen mit Vertretern anderer Landeskirchen versucht, deren Meinung zu der geplanten Demonstration am 7. Juni 1989 zu erkunden und sich mit ihnen über praktische Vorgehensweisen zu beraten. Dabei seien differenzierte Standpunkte deutlich geworden, und es wäre Unmut über die Haltung der Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg geäußert worden, diese Aktion zu unterstützen.
(Der Vorsitzende des Kirchentagsausschusses der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Cieslak24 (Dresden), äußerte Unbehagen über die »ständigen politischen Stänkereien« in Berlin. Der Staat sei darüber mit Recht verärgert, und die Landeskirchen müssten es ausbaden. Daraus seien auch Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Abstimmung mit staatlichen Stellen in Vorbereitung des Kirchentages in Leipzig entstanden. Die durch staatliche Stellen erfolgte Ablehnung des Gesuchs der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens zur Nutzung des Zentralstadions in Leipzig im Rahmen des Kirchentages gehe auf das Konto der Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg.)25
Zum Tagungsordnungspunkt – Berichte aus den Landeskirchen – wurde ausschließlich der Bericht der Landeskirche Greifswald zur Wiedereinweihung des Doms St. Nikolai in Greifswald behandelt. Es wurde bestätigt, dass der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Genosse Erich Honecker, an den Feierlichkeiten teilnimmt. Dabei kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen, und Bischof Gienke wurde – wie in der Information des MfS Nr. 283/89 vom 8. Juni 1989 dargestellt – durch mehrere Mitglieder der KKL massiv angegriffen, insbesondere dahingehend, er habe die Einladung an den Vorsitzenden des Staatsrates im Alleingang ausgesprochen.26
Im Rahmen der Behandlung des Tagesordnungspunktes – Gesichtspunkte und Leitlinien für den Konferenzbericht 1989 der KKL – wurde eine erste Konzeption zu Problemkreisen, die in diesem Bericht aufgearbeitet werden sollen, bestätigt. Bischof Leich,27 der als Vorsitzender der KKL diesen Bericht zu verantworten hat und ihn auf der Tagung der Synode des BEK (September 1989) vortragen wird, zeigte keine Bereitschaft, über diese Konzeption hinausgehend ausführlichere inhaltliche Thesen zu erarbeiten und diese der KKL vorab zur Kenntnis zu geben. Er wurde von der KKL beauftragt, zu der Thematik »Kirche im Sozialismus« im Bericht »nicht mehr als einen Sachstandsbericht« vorzutragen. Damit solle verhindert werden, dass die Formel »Kirche im Sozialismus« offiziell während der Bundessynode zur Diskussion gestellt oder gar verworfen wird.28
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Stellungnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 287/89
[Abschrift einer Erklärung der KKL zu den Kommunalwahlen]
Sperrfrist: 6. Juni 1989, 14.00 Uhr
124. Tagung der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen in der DDR | 2./3. Juni 1989 in Berlin | Vorlage Nr. 3/2
Meinungsbildung zu Anfragen im Zusammenhang mit der Kommunalwahl
Der Konferenz sind aus den Gliedkirchen besorgte Anfragen zu einzelnen Ergebnissen der Kommunalwahlen am 7.5.1989 vorgetragen worden. Viele Eingaben sind an staatliche Stellen und an Kirchenleitungen gerichtet worden. Die Besorgnis wird durch Antworten staatlicher Organe, es sei alles korrekt verlaufen, und durch die gelegentliche Ankündigung, die Eingeber müssten sich für ihr Verhalten verantworten, noch verstärkt.
Wir sind erschrocken über die beobachteten Unstimmigkeiten bei der Auswertung der Wahl. Wir sind beunruhigt über das Übergehen von Eingaben und Einsprüchen. Wir verstehen die Empörung, die manche ergriffen hat. Wir sind besorgt darüber, dass Resignation erneut bestätigt werden könnte. Diesen Weg dürfen wir nicht weitergehen. Denn es geht um das gerechte und friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Autorität und Stabilität des Staates brauchen Durchschaubarkeit und Wahrhaftigkeit.
Wir bitten deshalb die Staatsführung dringend, eine konkrete und schnelle Beantwortung der im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen eingereichten Eingaben und Anträge zu veranlassen. Wir brauchen für unser Land Ermutigung zur Wahrhaftigkeit für den einzelnen Bürger, auch durch die Weiterentwicklung gesellschaftlicher Strukturen. Wir brauchen um des Friedens willen eine weitere Stärkung des Rechtes.
Dazu gehört auch eine Weiterentwicklung des Wahlverfahrens, damit jeder Bürger aktiv Auswahlentscheidungen treffen kann und eindeutig über die Wertung der Stimmen unterrichtet ist. Wir würden es begrüßen, wenn bald ein Auftrag zur Auswertung der bisherigen Durchführung der Wahlen und der vorgelegten Eingaben und Einsprüche mit dem Ziel der Neugestaltung künftiger Wahlen erteilt würde.
Wir gehen davon aus, dass niemand wegen der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte Nachteile erfährt. Auch unser Land braucht kritische Rückfragen, und es ist nur eine scheinbare Entlastung, unbequeme Fragesteller als Gegner abzustempeln.
Wir bitten Gemeindeglieder und Mitarbeiter unserer Kirchen, ihre Anfragen sachlich vorzubringen, damit immer deutlich bleibt, dass wir aus der Mitverantwortung für das Ganze, in die uns unser Glaube stellt, reden und handeln. Dazu gehört Entschiedenheit ebenso wie Umsicht. Übertriebene Aktionen oder Demonstrationen sind kein Mittel der Kirche. Auch der Einsatz für Wahrheit und Wahrhaftigkeit muss in der Liebe geschehen.29