125. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen
8. Juli 1989
Information Nr. 331/89 über die 125. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL) vom 30. Juni bis 1. Juli 1989 in Berlin
An der KKL-Tagung nahmen mit Ausnahme von Bischof Leich1 (Eisenach) und Kirchenpräsident Natho2 (Dessau) (beide Urlaub) alle anderen Bischöfe und Leiter der zentralen kirchlichen Verwaltungseinrichtungen der Landeskirchen teil.
Behandelt wurden der Entwurf des Berichtes der KKL zur BEK-Synode im September 1989, ein Brief an den Kirchenrat in China,3 Berichte aus den Landeskirchen und dem Diakonischen Werk und weitere innerkirchliche und theologische Probleme.
Über den Stand der Erarbeitung des Berichtes der KKL zur Bundessynode informierte Oberkirchenrat Ziegler,4 Berlin. Aus dieser Berichterstattung ist als wesentlich hervorzuheben, dass zum Themenbereich »konziliarer Prozess« ein eigenständiger Berichtsteil erarbeitet werden soll (nicht wie vorgesehen innerhalb des Komplexes »zwischenkirchliche Beziehungen«). Festgelegt wurde weiter, in Verantwortung von Bischof Leich einen eigenständigen Berichtsteil zu erarbeiten, der – nach vierjähriger Arbeitsperiode – ein Konzentrat des Erreichten und künftige Aufgabenstellungen enthalten soll. Die Aufgabenstellungen sollen Impulse für die Weiterarbeit im »konziliaren Prozess« einschließen.
Die KKL legte ferner fest, vor der Tagung der Bundessynode keine konkreten Richtlinien zur Weiterarbeit an den Ergebnissen und Beschlüssen der 3. Vollversammlung der »Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« (26. bis 30. April 1989 in Dresden)5 an die Landeskirchen zu erlassen. Eine noch zu bildende ad-hoc-Gruppe soll mit der Umsetzung der vorliegenden Ergebnisse der 3. Vollversammlung und mit der »Koordinierung der Rezeption« für die Landeskirchen beginnen. (Beschlüsse, Vorlagen und Texte der »Ökumenischen Versammlung«, die gesellschaftspolitische Fragen in den Mittelpunkt stellen und ihrem Wesen nach dem aktuellsten politischen Forderungskatalog der Kirchen und der kirchlichen Gruppen in der DDR gegenüber dem Staat entsprechen, befinden sich bereits seit Abschluss der »Ökumenischen Versammlung« in den Leitungsorganen der Landeskirchen als Diskussionsgrundlage.)
Die Mitglieder der KKL äußerten übereinstimmend, dass der Bericht der KKL an die Bundessynode eine Konkretisierung des Begriffes »Kirche im Sozialismus«,6 verbunden mit Aufgabenstellungen für die Kirche, enthalten müsse. In diesem Zusammenhang befürwortete die Konferenz eine Diskussion im Verlauf der nächsten KKL-Tagung (1./2. September 1989) auf der Grundlage einer Ausarbeitung von Bischof Demke7 (Magdeburg) »Kirche im Sozialismus«, die allen KKL-Mitgliedern ausgehändigt wurde. (Der Wortlaut ist als Anlage 1 beigefügt.) Das Ergebnis der Diskussion soll anschließend formuliert werden und in den Bericht an die Bundessynode mit einfließen.
Bischof Gienke8 (Greifswald) berichtete über die Einweihung des Greifswalder Doms9 (11. Juni 1989) und würdigte insbesondere die Teilnahme des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker.10 Gienke führte aus, er bzw. das Konsistorium der Landeskirche Greifswald hätten viele Briefe und Anrufe aus allen Teilen der DDR erhalten, in denen Genugtuung über diese feierliche Domeinweihung zum Ausdruck gekommen sei. Er bedauerte, dass außer OKR Ziegler (Berlin) kein weiterer Vertreter des Vorstandes der KKL das anschließende Gespräch des Vorsitzenden des Staatsrates beim Oberbürgermeister von Greifswald, das er als sachlich und konstruktiv bewertete, genutzt habe; der Vorstand habe damit eine Chance für Gespräche vergeben.
Bischof Gienke wurde in dieser Position von den Oberkirchenräten Petzold11 und Ziegler unterstützt. Petzold wies besonders die »unqualifizierten und entstellenden Artikel« zur Domweihe in den kirchlichen Wochenzeitungen »Die Kirche«/Berlin12 und »Mecklenburger Kirchenzeitung«/Schwerin13 zurück. Ziegler ergänzte, vom Vorsitzenden des Staatsrates der DDR seien Gespräche Staat – Kirche auf den verschiedensten Ebenen zugesagt worden.
Kritisch zu den Zusammenhängen und zum Verlauf der Domweihe äußerten sich die Bischöfe Stier14 (Schwerin), Forck15 (Berlin), Hempel16 (Dresden) sowie Oberkirchenrat Kirchner17 (Eisenach) und Oberkirchenratspräsident Müller18 (Schwerin). Bischof Gienke und der Leitung der Evangelischen Landeskirche Greifswald wurde ein Alleingang, der zur Spaltung des BEK führen könne, vorgeworfen und erklärt, man hätte sich für die Anwesenheit von Bischof Forck beim Empfang im Rathaus verwenden müssen. Die Kirche sei – so wurde argumentiert – durch den Staat vereinnahmt worden. Die Genannten zweifelten die Verwirklichung der staatlicherseits zugesagten Gespräche an, da derartige Versprechen bereits in der Vergangenheit nicht eingelöst worden wären.
Bischof Forck brachte zum Ausdruck, er sei »im Nachhinein froh« über die Nichteinladung; ihm sei damit »eine große Peinlichkeit« erspart geblieben, da er ansonsten innerhalb kurzer Zeit von den jeweiligen Repräsentanten der beiden deutschen Staaten empfangen worden wäre. (Forck hatte am Nachmittag des 11. Juli 1989 im Rahmen des evangelischen Kirchentages in Westberlin19 eine Begegnung mit dem Bundespräsidenten der BRD, von Weizsäcker.20)
Bischof Hempel (Dresden) berichtete über den Stand der Vorbereitungen des Kirchentagskongresses und Kirchentages in Leipzig21 und betonte das Engagement der Kirchenleitung für deren ordnungsgemäße Vorbereitung. Er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass es zu keinen Auseinandersetzungen zwischen sogenannten alternativen Gruppen,22 Antragstellern auf ständige Ausreise23 sowie anderen oppositionellen Kräften und den Sicherheitsorganen kommen würde und »dass der Staat sich nicht provozieren lässt und sehr großzügig über einiges hinwegsieht«.
Bischof Demke und Oberkirchenrat Zeddies24 (Berlin) berichteten über den Verlauf des »Thomas-Müntzer-Kongresses« des BEK in Mühlhausen.25 Beide hoben insbesondere den sachlichen und konstruktiven Dialog zwischen den anwesenden marxistischen Historikern und kirchlichen Experten der Luther-/Müntzer-Forschung hervor, der weitergehenden Gesprächen Impulse verliehen hätte. Es wurde festgelegt, die Materialien des Kongresses durch die Studienabteilung des BEK aufzuarbeiten und den Kirchengemeinden zur Verfügung zu stellen.
Oberkirchenrat Petzold informierte über die geplanten Feierlichkeiten im Oktober 1989 anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg.26 Es sei vorgesehen, eine offizielle Einladung an die Regierung der DDR zu richten, und man erwarte, dass außer dem Staatssekretär für Kirchenfragen der Minister für Gesundheitswesen der DDR an diesen Veranstaltungen teilnehme.
In einer Diskussion zur Gründung des Freidenkerverbandes in der DDR27 wurde von mehreren KKL-Mitgliedern (Bischof Rogge,28 Bischof Hempel, Kirchenpräsident Kramer29) zum Ausdruck gebracht, dies sei eine Herausforderung für die Kirchen, insbesondere bezogen auf eine gewissenhaftere und gründlichere Arbeit und Dienstdurchführung der Pfarrer in ländlichen Territorien. Es sei jedoch darauf zu achten, ob sich das Wirken des Verbandes gegen die Kirche richte. Dies könnte dann geschehen, »wenn der Staat durch administrative Maßnahmen in die Tätigkeit des Verbandes eingreift«.
Konsistorialpräsident Stolpe30 setzte die KKL in Kenntnis über eine am 7. Juli 1989 auf dem Alexanderplatz im Stadtbezirk Berlin-Mitte geplante »Sitzdemonstration«, mit der bestimmte Kräfte aus sogenannten kirchlichen Basisgruppen »ihre Proteste im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen im Mai« fortführen wollten.31 In diesem Zusammenhang informierte der Direktor der Inneren Mission und des Evangelischen Hilfswerkes, Oberkirchenrat Petzold, über das staatlicherseits mit ihm und dem Leiter der Stephanus-Stiftung Berlin, Pfarrer Braune,32 geführte Gespräch, in dem ihnen nahegelegt worden sei, ihrer Verantwortung gegenüber in kirchlicher Ausbildung stehenden Personen künftig besser gerecht zu werden.
In der weiteren Diskussion waren Bemühungen erkennbar, »Lösungsmöglichkeiten« in dieser Angelegenheit zu finden. Neben Stolpe vertraten Konsistorialpräsident Kramer und Oberkirchenrat Ziegler die Auffassung, dass kirchlicherseits alles zur Verhinderung dieser provokatorisch-demonstrativen öffentlichkeitswirksamen Aktion unternommen werden müsse, da der Staat keinesfalls eine derartige Provokation im Zentrum der Hauptstadt zulassen könnte und demzufolge gezwungen wäre, einzugreifen. Es wurde die Frage erörtert, wo »Gewaltanwendung« gerechtfertigt sei und welche diesbezüglich vertretbaren Grenzen es gebe und darauf hingewiesen, dass Mitglieder aus sogenannten kirchlichen Basisgruppen, darunter die Organisatoren der geplanten Provokation, in ihrem Vorgehen die »Gewaltanwendung« einschließen.
Befremden wurde darüber zum Ausdruck gebracht, dass bei derartigen spektakulären Aktionen immer wieder »zufällig« akkreditierte Korrespondenten aus nichtsozialistischen Staaten anwesend seien. Die KKL forderte die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg auf, ihren Einfluss auf derartige Gruppen zu verstärken und insbesondere zur vorbeugenden Verhinderung der geplanten Provokation am 7. Juli 1989 mit deren Mitgliedern entsprechende Gespräche zu führen.
Oberkirchenrat Ziegler verlas im Verlaufe der Tagung mehrere an Kirchenleitungen der Landeskirchen gerichtete »Anfragen« aus kirchlichen Gemeinden zu den Vorgängen in der VR China.33 Sie beinhalteten – zum Teil in aggressiver Form abgefasst – Aussagen gegen »unzulängliche Veröffentlichungen« in den Massenmedien der DDR und forderten von der KKL eine offizielle Stellungnahme.34 Die KKL erarbeitete einen an den chinesischen Christenrat gerichteten Brief, in dem u. a. Fürbitten für die »Opfer der Gewalt« und ein Weg für die chinesische Gesellschaft ohne Blutvergießen, Gewalt und Hinrichtungen erhoben werden. (Der Wortlaut ist als Anlage 2 beigefügt.)
(In der Presseinformation des BEK zur 125. KKL-Tagung wurde in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht: … »kritisch wurde die Verarbeitung der Vorgänge in unseren Medien besprochen. Die Konferenz hat vorgesehen, dies auch gegenüber zuständigen Stellen zur Sprache zu bringen.«)35
Diese Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage 1 zur Information Nr. 331/89
[Abschrift einer Ausarbeitung von Bischof Christoph Demke zur Formel] »Kirche im Sozialismus«
In den letzten beiden Jahren hat sich eine inzwischen umfängliche Diskussion über diese seit 1971 häufig gebrauchte, ja mitunter als Beschwörungsformel verwendete Redewendung »Kirche im Sozialismus« entwickelt. Dabei ging es dieser Redewendung wie ähnlichen Slogans. Wurde sie lange Jahre hindurch, wofür die Berichte der Konferenz der Kirchenleitungen und die Beschlüsse der Bundessynode deutliche Dokumente liefern, als formelhafte Anzeige einer Aufgabe angesehen, die immer neu konkretisiert werden muss, so wurde sie nun in der Diskussion als Begriff verhandelt, der geklärt werden bzw. dessen Inhalt gefüllt werden muss. Die verdienstvolle Dokumentation der Theologischen Studienabteilung »Zum Gebrauch des Begriffes Kirche im Sozialismus« hat in ihrer 1. Auflage zu diesem Missverständnis kräftig beigetragen.36 Manfred Punge37 sagt zu Recht in seinem Kommentar zur 2. Auflage, dass der Ausdruck »überstrapaziert« wurde.38 Die Dokumentation der Theologischen Studienabteilung vermittelt grafisch zudem den Eindruck, dass der »Begriff« zuerst im staatlichen Bereich gebraucht worden und von dort in die kirchliche Sprache eingewandert sei. Eine genaue Lektüre der fraglichen Texte zeigt, dass dies eine Fehlinterpretation ist, von der Richard Schröder39 und Propst Furian40 freilich ausgehen.
Die Stimmen in der gegenwärtigen Diskussion sind recht unterschiedlich, ja erscheinen zum Teil gegensätzlich. Aber dies ist mitunter nur Schein, weil die Betrachtungsebenen oft recht unterschiedlich sind. In sprachwissenschaftlichen Kategorien gesprochen, könnte man die »pragmatische« und die »semantische« Ebene voneinander unterscheiden. In den verschiedenen Diskussionsbeiträgen überkreuzen sich freilich diese Ebenen immer wieder.
Aber es gibt doch auch einen klar erkennbaren unterschiedlichen Vorrang der Interessen. Während die Beiträge von Richard Schröder und Werner Leich41 mehr von der semantischen Ebene ausgehen, umso etwas zur Klärung der Verständigung beizutragen, halten sich die Beiträge von Manfred Stolpe42 und Götz Planer-Friedrich43 mit ihrem Interesse und ihren Beobachtungen ganz auf dem Felde der Pragmatik, der Sprachverwendung. Erkennt man dieses semantische Interesse bei den Beiträgen von R. Schröder und W. Leich nicht, so können sie leicht als Signale für einen grundsätzlichen politischen Kurswechsel der evangelischen Kirchen in der DDR verstanden oder benutzt werden.
1. Zur pragmatischen Ebene (geschichtliche Dimension):
Welche Funktion erfüllte der Ausdruck in der innerkirchlichen Kommunikation und in der Kommunikation zwischen Staat und evangelischen Kirchen im Zeitraum seiner Entstehung (1970/71). Ich denke, Manfred Punge hat die Funktion des Ausdruckes für die innerkirchliche Kommunikation richtig beschrieben, wenn er diese Redewendung eine Integrationsformel nennt, in der sich verschiedene Strömungen und Anliegen verbinden konnten. Anliegen aus der Provenienz religiöser Sozialisten, Anliegen von Pragmatikern, Anliegen derer, die die Freiheit der Kirche in jeder Gesellschaftsformation betont wissen wollen. Dies zeigt die Formulierung der Eisenacher Bundessynode vom Juli 197144 deutlich: »Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bedenken haben: in dieser so geprägten Gesellschaft nicht neben ihr, nicht gegen sie. Sie wird die Freiheit ihres Zeugnisses und Dienstes bewahren müssen.« Einerseits ist also das »für« den Sozialismus nicht nur umgangen, sondern indirekt ausgeschlossen, andererseits wird die so geprägte Gesellschaft nicht als Gegenüber beschrieben, an das Zeugnis und Dienst auszurichten sind, sondern als Ort, in dem die Kirche lebt mit Menschen zusammen, die den christlichen Glauben nicht teilen oder marxistischer Weltanschauung folgen. Der Nachsatz, in dem von der Freiheit des Zeugnisses und Dienstes der Kirche die Rede ist, soll sicherstellen, dass die Ortsangabe weder bedeutet »unter der Herrschaft des Sozialismus« noch »in seinem Geiste«.
Punge stellt fest, dass die Integrationskraft dieser Redewendung erschöpft erscheint. In der Tat: eine andere Generation ist herangewachsen; die Problematik der Menschen, die in gesellschaftlich-engagierten Gruppen zusammenkommen, ist nicht mehr die Frage vom Ende der 60er Jahre, wie man endlich in diese neu sich gestaltende Gesellschaft einwandern könne; außerdem treiben die globalen Krisen immer mehr zu einem Denken in radikalen Alternativen.
Neben der Integrationsfunktion hatte die Redewendung auch einen programmatischen Charakter. Sie machte die konkrete Wahrnehmung dieser Gesellschaft nicht nur als Bezugshorizont für den kirchlichen Auftrag, sondern als Lebenshorizont der Menschen, denen das Evangelium auszurichten ist, zur Aufgabe. Die Möglichkeiten des Dienstes der Kirche sollten nicht mehr aus dem Vergleich mit der Situation in vergangenen oder anderen gesellschaftlichen Verhältnissen beurteilt werden, sondern Christen sollten sich gegenseitig ermutigen, in der Freiheit und Bindung des Glaubens zu entdecken, wie der auferstandene Herr auch über und in dieser Gesellschaft der Herr ist, der seinem Wort den Weg bahnt. Konkretes Einlassen auf diese Gesellschaft, die Erkenntnis ihrer Stärken und ihrer Schwächen – eines nicht ohne das andere 0150, wie Menschen davon geprägt und getragen sind, das alles wurde mit dieser Formel zur Aufgabe für eine Generation gemacht, die zu einem großen Teil lediglich in der Distanz zu dieser Gesellschaft gelebt hatte. Konkret differenzierende Mitarbeit in der Gesellschaft war damit auch ein Inhalt kirchlichen Dienstes.
Unter ganz veränderten Verhältnissen besteht diese Aufgabe heute fort. Aber die Redewendung erweist sich als zu abgenutzt, als dass sie noch für diese Aufgabe Gemeindeglieder gewinnen könnte. Dies ist gemeint, wenn z. B. Werner Leich feststellt, die Formel sei »ziemlich abgenutzt«. Sie leistet in der Kommunikation nicht mehr, was sie leisten sollte und auch einmal geleistet hat. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Die Hauptursache sehe ich darin, dass bis zum Auftreten von Gorbatschow45 die Führungen der sozialistischen Staaten nicht in der Lage waren, die globalen Probleme, die einer Bewältigung bedürfen (Kluft zwischen arm und reich, Umweltkrise, Klimakatastrophe), wahrzunehmen und konstruktiv zu bearbeiten. In der jüngeren Generation entwickelte sich ein neues Gefühl der Verbundenheit über Staatsgrenzen und Systeme hinweg angesichts der gemeinsamen Bedrohtheit. Das Wahrnehmungsdefizit aufseiten der sozialistischen Staaten (erst seit ca. zwei Jahren wird von Waldschäden gesprochen) und erst recht das Lösungsdefizit führen erneut dazu, dass Problemsicht und Problemanalyse nicht in dieser Gesellschaft entwickelt werden, sondern als Import erscheinen. Die mit der Redewendung bezeichnete Aufgabe besteht also fort, aber die Redewendung selbst kann dazu nicht mehr ermutigen.
In der Kommunikation zwischen Staat und den evangelischen Kirchen hatte die Redewendung die Bedeutung einer Formel für Anerkennung. Dieser Gesellschaft wurde ihre Selbstbezeichnung nicht mehr vorenthalten. Sie wurde selbst nicht als widergöttlich oder als Raum, in dem christlicher Glaube nicht leben kann, etikettiert. Auf der staatlichen Seite ist die Redewendung aber meistens auf dem Hintergrund des Schreibens der Bischöfe vom 15.2.1968 aus Lehnin46 gelesen worden: »Als Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik und als Christen gehen wir davon aus, dass nach dem durch deutsche Schuld begonnenen Krieg nun auf dem Boden der deutschen Nation zwei deutsche Staaten bestehen … Als Bürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen …« Weil Mitarbeiter des Staates die Redewendung auf dem Hintergrund dieser Formulierung sehen, verstehen sie sie häufig als vornehme Umschreibung einer Position »Kirche für den Sozialismus«, obwohl die Kundigen sehr wohl wissen, dass es so nicht gemeint ist und als kirchliche Erklärung nicht gemeint sein kann. In der Kommunikation zwischen Staat und Kirche hat die Redewendung deswegen nicht nur verbindend, sondern immer auch irritierend gewirkt. Freilich hat sie sich dabei als Ausgangspunkt für konkretes und konstruktives Zusammenwirken bewährt (nicht nur beim Lutherjubiläum47). Für die staatliche Seite scheint sich dieser Wert der Redewendung noch nicht verbraucht zu haben.
In der ökumenischen Kommunikation hatte die Redewendung die Funktion eines aufreizenden Signals. Wie soll das überhaupt zusammengehen, schließt sich beides nicht aus? Die Redewendung erfüllte diese Funktion gerade wegen ihrer semantischen »Unverträglichkeit«.
2. Die semantische Ebene (Begriffsbestimmung):
Betrachtet man die Redewendung als einen Begriff, der aus Begriffen zusammengesetzt ist, so erweist sich sehr schnell die Unsinnigkeit, die Irreführung des Ausdrucks. Natürlich kann Kirche nicht durch die Bezeichnung »im Sozialismus« näher definiert und das heißt begrenzt werden. Natürlich ist ein Theorie- und Programmbegriff zur Angabe eines Ortes ganz und gar ungeeignet. Richard Schröder hat zu Recht die Frage aufgeworfen, ob mit der Aufnahme des Programmbegriffes Sozialismus anstelle der Bezeichnung der konkreten historischen und geographischen Ortsangabe nicht auch eine Verzerrung im Verständnis von Politik und Gesellschaft sich einschleiche. Werner Leich hat mit Recht daran erinnert, dass aus dem Ausdruck Auftrag und Wesen der Kirche gar nicht begriffen werden können. Damit wird überhaupt nicht bestritten, dass die in der Redewendung zum Ausdruck gekommene Anerkennungsfunktion und Sachanliegen richtig, notwendig und nicht zu revidieren sind. Diese Sachanliegen immer neu zur Sprache zu bringen und darüber Verständigung in der Kirche zu erreichen, bleibt eine notwendige Aufgabe. Mit der Wiederholung der Redewendung ist diese Aufgabe innerhalb der Kirche nicht mehr zu bewältigen. Hier wird sie die Rolle der Kennzeichnung einer geschichtlichen Etappe erhalten. In der Kommunikation zwischen Staat und Kirche und also im öffentlichen Gebrauch gibt es aber bisher keinen einleuchtenden Ersatz. Im Bewusstsein all dessen, was die Redewendung nicht leisten will und nicht leisten kann, sollte sie daher nicht aus dem Gebrauch gezogen werden.
3. Aufgabe heute
Vor welche Aufgabe stellt die Redewendung heute? Dazu haben sich Kirchenleitungen und Synoden immer wieder geäußert. Für den Bund hat die formal umfassendste Interpretation die Bundessynode 1973 in Schwerin gegeben.48 Die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg hat mit den »vier Sätzen zu Zeugnis und Dienst evangelischer Kirche in der DDR« einen Teilaspekt der Redewendung interpretiert. Angesichts der Gesamtsituation stehen die Kirchen vor der Frage, ob sie sich zur Frage von Legitimität und Legalität unseres Staates einschließlich der Frage nach dem Sozialismus äußern müssen. Das ist eine aktuelle Aufgabe der Friedensverantwortung
Ich nenne einige Gesichtspunkte:
- 1.
Die Legitimität unseres Staates begründet sich im antifaschistischen Widerstandskampf der Staatsführung. Deswegen müssen alle Schritte der Stalinismuskritik, die den antifaschistischen Widerstandskampf ins Zwielicht bringen, schroff zurückgewiesen werden (siehe Prof. Hanna Wolf »Zur Geschichte der Komintern«, ND 6.5.198949). Die Legitimierung ergibt sich weiter aus der am Programm zu messenden Leistung.
- 2.
Die Berechtigung beider Legitimierungszusammenhänge sollte für die Staatsgründungsphase nicht bestritten werden. Nach 40 Jahren ist aber die Bestätigung der Legitimität des Staates durch die Bestätigung der Legalität der Staatsführung erforderlich (Funktion von Wahlen).
- 3.
So etwas wie DDR-Identität ist eher bei gesellschaftlich engagierten Gruppen als bei unauffällig Angepassten (aus diesem Umfeld kommen die meisten Ausreiser50) zu finden.
- 4.
DDR-Identität kann ohne System-Alternative zur Bundesrepublik nicht Bestand haben. Insofern muss gerade für die DDR ein Interesse an einem positiven Gelingen des Experimentes »Sozialismus« bestehen. Dies ist für Polen, Ungarn, Tschechen usw. nicht in gleicher Weise erforderlich, weil sie über nationale Identität oder Teilidentität verfügen.
- 5.
Notwendig ist also die Stärkung des Rechtes (Legalität) und Mut zur Wahrheit (Identität) und zwar sowohl im Verhalten jedes Einzelnen als auch in den strukturellen Fragen des Staates. Die Forderung dieser beiden Entwicklungsrichtungen muss verbunden werden mit der Anerkennung der erreichten (Verteilungs-)Gerechtigkeit.
gez. Demke
Anlage 2 zur Information Nr. 331/89
[Abschrift eines Schreibens des Vorsitzenden der KKL an den Chinesischen Christenrat]
Der Vorsitzende der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen | 1040 Berlin, 1. Juli 1989
An den Chinesischen Christenrat z. Hd. Herrn Bischof Din Guan-Xun51
Liebe Geschwister in dem Herrn Jesus Christus!
Seit Ihrem Besuch bei uns im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR und dem Gegenbesuch unserer Delegation unter Leitung von Landesbischof Dr. Hempel ist in unseren Gemeinden die ökumenische Verbundenheit zu Ihnen gewachsen und durch Fürbitte begleitet worden.
Dankbar haben wir gehört, wie die Möglichkeiten des christlichen Zeugnisses in Ihrem Land gewachsen sind. Umso mehr sind wir in Sorge durch die jüngsten Ereignisse in Ihrem Land.
Mit tiefer Betroffenheit haben wir in den letzten Wochen Nachrichten über die Ereignisse verfolgt, die mit der Demonstration der Studenten auf dem Tiananmen-Platz52 begannen und ein blutiges Ende gefunden haben.
Wir haben gut in Erinnerung, dass Sie uns Ihre Drei-Selbst-Bewegung geschildert haben und keine Einmischung der Christen von außen wünschen.53 Aber Sie sollen doch wissen: Wir denken an Sie in unseren Gebeten. Wir denken an den Weg Ihres Volkes und die Entwicklung Ihres Landes. Wir bitten Gott für die Opfer der Gewalt. Er möge bei denen sein, die die Getöteten liebten, dass sie an ihrem Leid nicht zerbrechen. Wir bitten Gott für die chinesische Gesellschaft, dass sie auch nach dem 4. Juni 1989 einen Weg beschreiten kann in Frieden mit Gerechtigkeit, damit Blutvergießen, Gewalt und Hinrichtungen ein Ende haben und alle Gaben, die Gott schenkt, sich entfalten können.
Wir grüßen Euch mit den Worten des Apostels Paulus:
»Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.« (2. Korinther 1. 3–4)
gez. Dr. Leich | Landesbischof