128. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen
22. November 1989
Information Nr. 505/89 über die 128. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) in der DDR am 10. und 11. November 1989 in Berlin
Diese nichtöffentliche Tagung fand unter Teilnahme der evangelischen Bischöfe der DDR (mit Ausnahme der Bischöfe Demke1 (Magdeburg) – Dienstreise – und Gienke2 (Greifswald) – Vertrauensentzug zur weiteren Amtsführung durch die Synode der Evangelischen Landeskirche Greifswald3) sowie der Leiter der kirchlichen Verwaltungseinrichtungen der Landeskirchen statt. Bischof Leich4 (Eisenach) und Konsistorialpräsident Stolpe5 (Berlin) waren wegen anderweitiger dienstlicher Verpflichtungen nur zeitweilig anwesend.
Behandelt wurden: Stellungnahme zur aktuellen politischen Situation, Berichte aus den Landeskirchen, Vorbereitung der 1. konstituierenden Tagung der VI. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR (Februar 1990),6 weitere innerkirchliche und theologische Fragen.
Die Diskussion zu aktuellen politischen Fragen widerspiegelte das besondere Interesse an der personellen Besetzung des Politbüros. Wert wurde auf die Feststellung gelegt, dass zu Beginn der 10. Tagung des ZK zwar ein neues Politbüro gewählt wurde,7 aufgrund des Basisdrucks in der Partei aber kurzfristig erneut personelle Veränderungen vorgenommen werden mussten. Aus der Sicht der Kirche sei auch bezogen auf personelle Konsequenzen die Durchführung eines außerordentlichen Parteitages noch in diesem Jahr richtig.8
Kontrovers verlief die Diskussion um die Erarbeitung einer kirchlichen Grundhaltung zur weiteren gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Einige Teilnehmer sprachen sich für eine Unterstützung von Egon Krenz9 und die Erhaltung des Sozialismus aus, andere dagegen forderten die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien, verbunden mit einer Änderung der Machtverhältnisse. Einheitliche Auffassungen bestanden hinsichtlich der Notwendigkeit des Mittragens wirtschaftlicher Reformen in der DDR durch die Kirche auch auf die Gefahr des Entstehens von Rückschlägen und Härtefällen bei zukünftigem Wegfall von Subventionen.
Hervorgehoben wurde, in der DDR habe es in jüngster Zeit mehrere Suizid-Fälle durch Partei- und Wirtschaftsfunktionäre gegeben. Die kirchliche Haltung dazu könne nur sein, man sei gegen Vergeltung; eine Bedrohung von Funktionären durch Basisgruppen10 wäre strikt abzulehnen.
Die Konferenz beschloss mit einer Gegenstimme und einer Stimmenthaltung eine Stellungnahme zur aktuellen Lage in der DDR, die als Anlage beigefügt wird.
In einer weiteren Stellungnahme wurde festgestellt, dass die Friedensgebete der vergangenen Wochen mit dem erklärten Willen zur Gewaltlosigkeit ihre Ausstrahlungskraft auch über den Raum der Kirche hinaus bewiesen hätten. Die Stellvertreterrolle der Kirche sei »in einer Notsituation vom Evangelium her geboten« und solange Teil des gesellschaftlichen Engagements der Kirche, bis politische Kräfte die sich daraus ergebenden Aufgaben übernommen hätten. Schließlich gelte es noch immer, konkrete Anliegen und Forderungen der Bürger zu unterstützen und zu vertreten.
In dieser Stellungnahme heißt es weiter, dass »Gebete und Fürbittgottesdienste der uns Christen zuerst gebotene gesellschaftliche Einsatz« sei.
Einhergehend mit der Feststellung von einer »tiefen Krise der Gesellschaft« wurden Forderungen nach freien und geheimen Wahlen, Herstellung verfassungsmäßiger Zustände und nach Wahrhaftigkeit in der Information erhoben.
Bezogen auf das durch die Volkskammer zu beschließende Reisegesetz und den vom Rat der Rechtsanwaltskollegien der DDR dazu vorgestellten Entwurf wurde übereinstimmend erklärt, man wäre für das Inkrafttreten der Reiseregelungen erst ab 18 Jahre.11
Festgelegt wurde, den vom Staat zur Diskussion vorgelegten Entwurf des Reisegesetzes schriftlich abzulehnen, da er »von bisherigen einschränkenden administrativen Denkvorstellungen bestimmt« sei.12
Beschlossen wurde die Erarbeitung eines weiteren Briefes an den Ministerrat mit der Forderung nach Überprüfung der gültigen Einreisepraxis in die DDR.
Im Rahmen der Berichte aus den Landeskirchen informierte Oberkonsistorialrat Harder13 (Greifswald) über die Tagung der Synode der Evangelischen Landeskirche Greifswald (2.–5.11.1989) und die dort erfolgte Abstimmung zur Vertrauensfrage zur weiteren Amtsführung durch Bischof Gienke. Im Ergebnis der Abstimmung habe Gienke vorfristig die Synodaltagung verlassen. In der ebenfalls erfolgten Abstimmung zur Vertrauensfrage zu den Oberkonsistorialräten Harder und Plath14 (beide Greifswald) habe die Synode mit deutlicher Mehrheit für das Verbleiben beider Personen im Amt plädiert.
Kirchenpräsident Natho15 (Dessau), Oberkirchenrat Kirchner16 (Eisenach) und Konsistorialpräsident Kramer17 (Magdeburg) informierten die KKL über die Synodaltagungen der Evangelischen Landeskirche Anhalts (3.–4.11.1989), der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen (2.–5.11.1989) und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (2.–5.11.1989).
Übereinstimmend wurde festgestellt, dass die auf allen Tagungen der Landessynoden auf der Grundlage der Bischofsberichte behandelten vielfältigen gesellschaftspolitischen Fragen zu konkreten Beschlussfassungen der Synoden geführt hätten.
Konsistorialpräsident Stolpe (Berlin) berichtete über eine an ihn und Bischof Leich gerichtete Anfrage des Staatssekretärs für Kirchenfragen hinsichtlich des kirchlichen Standpunktes zur Weiterexistenz des Staatssekretariates für Kirchenfragen der DDR. Stolpe legte dar, hierzu bestünden drei Varianten: Weiterbestehen, ersatzlose Streichung oder Modifikation des Staatssekretariats.
In diesem Zusammenhang legte Stolpe im Namen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg dar, dass ein aus der Kirche kommender »Beauftragter des BEK für Gesellschaftsfragen« dem Ministerpräsidenten zugeordnet werden könnte. Dieser Beauftragte solle ähnlich dem Bonner Modell der »EKD« Sachfragen der Kirche direkt an die Regierung geben und Direktgespräche vermitteln.18 Analoge Funktionen sollten durch die Landeskirchen bei den Vorsitzenden der Räte der Bezirke geschaffen werden. Innerkirchlich hätte das »den Effekt, dass die Gespräche mit den Generalsuperintendenten aufhörten und die Verbindungen der Superintendenten zu den Räten der Kreise ersatzlos gestrichen werden könnten«.
Bischof Hempel19 (Dresden) stimmte dieser Variante zu und ergänzte, mit der Durchführung einer staatlichen Verwaltungsreform in der DDR müssten seiner Meinung nach die Bezirksstrukturen abgeschafft und die Länderstrukturen wieder hergestellt werden.20
Entsprechend der Ordnung des BEK bestätigte die KKL die Tagesordnung für die 1. konstituierende Tagung der Synode des BEK (23.–25.2.1990) und berief zehn Synodalen für die VI. Legislaturperiode des BEK (1990–1994).
Dabei handelt es sich um Prof. Hertzsch21 (Jena – Theologische Sektion), Kähler22 (Leipzig – Theologisches Seminar), Kruse23 (Frankfurt/O.), Oberkirchenrat Sens24 (Berlin – Ökumenereferent beim BEK), Kantor Schoener25 (Leipzig – Kirchenmusiker), Diplom-Landwirt Haß26 (Prerow), Bienert27 (Görlitz), Hurtienne28 (Rügen), Katechet Domann29 (Waren).
Wie weiter intern bekannt wurde, äußerte sich Bischof Leich (Eisenach) auf mehreren innerkirchlichen Veranstaltungen (u. a. Sitzung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche), in Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern sowie in verschiedenen Kirchengemeinden seiner Landeskirche zur aktuellen Situation in der DDR. Im Vordergrund standen dabei Appelle zur Besonnenheit (u. a. Auftreten in Eisenach, Greiz, Gera, Friedrichroda), worin er von der Mehrzahl der Kirchenleitungsmitglieder unterstützt wird.
Er betonte, mehrfach in den letzten Jahren habe die Kirche Funktionen übernehmen müssen, die nicht zu ihrem eigentlichen Auftrag gehören. Sie müsse jetzt, wo der politische Dialog außerhalb der kirchlichen Räume geführt werden kann, wieder zum eigentlichen Auftrag zurückfinden. Intensiv solle sich die Kirche weiterhin darum bemühen, dass die von Kirchen ausgehenden Demos friedlich und ohne jegliche Gewalt verlaufen.
Er, Leich, hoffe, dass durch weitere klare und eindeutige Aussagen der Führung des Staates die jetzige Entwicklung beherrscht werde. Vor allem müsse der Flüchtlingsstrom gestoppt werden.
Entscheidend seien klare Formulierungen und Festlegungen hinsichtlich eines neuen Wahlgesetzes in der DDR, der Festschreibung von Rechtssicherheit und eines unbürokratischen Reisegesetzes sowie die Aufgabe des Führungsanspruches der SED zugunsten der Machtbeteiligung anderer. Die Führung der SED habe eine harte Arbeit zu leisten, um das verloren gegangene Vertrauen im Volk wiederzuerlangen.
Bischof Leich hob hervor, die gegenwärtige aktuelle politische Entwicklung in der DDR verlaufe rasant; es sei wesentlich, trotzdem sachlich und fair zu bleiben, was sich auch auf die Haltung gegenüber Erich Honecker beziehe.30 Man dürfe nicht vergessen, dass er jahrelang wesentlich zur Verbesserung des Verhältnisses Staat – Kirche beigetragen habe, vor der Amtsübernahme Gorbatschows31 als fortschrittlichster Politiker im Ostblock galt und besonders im außenpolitischen Bereich erfolgreich wirkte. Sein Fehler habe darin bestanden, dass er sich in den letzten Jahren notwendigen Reformen verschlossen habe.
In einem vertraulichen Gespräch äußerte Bischof Leich, er sei für ein weiteres Zusammenwirken mit dem Staat im Interesse der Stabilisierung der Lage, sehe derzeitig aber keine Möglichkeit, von sich aus auf den Staatsratsvorsitzenden zuzugehen.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 505/89
[Abschrift einer] Stellungnahme der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR vom 11. November 1989
Unsere Gesellschaft verändert sich von Stunde zu Stunde. Die Öffnung der Grenzen, auf die wir alle gewartet haben, hat plötzlich eine Lage geschaffen, auf die niemand vorbereitet war.32 Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen kann heute keine Einschätzung der Gegenwart geben und keine Voraussagen für die Zukunft machen. Aber Gebete und Fürbittgottesdienste sind der uns Christen zuerst gebotene gesellschaftliche Einsatz. Darin können wir uns nicht vertreten lassen. Wir wollen anhalten am Gebet für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Gott danken wir und allen, die dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen seit dem 9. Oktober [1989] gewaltlos abgelaufen sind.33 Die Konferenz bittet alle, dabeizubleiben und sich überall für Gewaltlosigkeit einzusetzen. Es gibt auch künftig dazu keine Alternative: Nur gewaltlos gewinnen wir Gerechtigkeit und Frieden, nur gewaltlos bewahren wir das uns anvertraute Leben.
Unsere Gebete gründen in der Verheißung, dass Gott die Beter erhört. Wir bitten, dass sein Wille geschehe. Daraus schöpfen wir die Kraft, in den rasch ablaufenden und unübersichtlichen Entwicklungen entschieden, ohne Überheblichkeit und ohne Feindseligkeit, die unmittelbar vor uns liegenden Aufgaben anzupacken.
Die Erwartungen und Forderungen der Bundessynode sind vielerorts aufgenommen und verstärkt worden. Manche beginnen sich zu erfüllen, andere müssen weiterhin entschlossen und besonnen vertreten werden. Trotzdem sind bisher viele Menschen in unserem Land voller Misstrauen und ohne Hoffnung. Die große Zahl derer, die weggehen, zeigt die tiefe Krise der Gesellschaft. Deshalb treten wir mit anderen vordringlich für freie und geheime Wahlen, für die Herstellung verfassungsmäßiger Zustände, für Wahrhaftigkeit in der Information ein.
Damit der Geist der Angst, Vergeltung und Gewalt weder unter uns noch in der sich erneuernden Gesellschaft Raum gewinnt, bitten wir Gott um den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.
Weil wir dem Ruf unseres Herrn Jesus Christus folgen wollen, erkennen wir, dass erfülltes und lohnendes Leben dort zu finden ist, wo andere uns zum Leben brauchen und auf uns angewiesen sind. Im Einsatz für sie finden wir das Leben: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Landesbischof Dr. Werner Leich | Vorsitzender