22. Landessynode Ev.-Lutherische Landeskirche Sachsen
13. April 1989
Information Nr. 180/89 über wesentliche Inhalte der Tagung der 22. Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens (31. März bis 4. April 1989 in Dresden)
An der genannten Tagung nahmen ca. 80 Synodalen sowie vier ökumenische Gäste aus der BRD und ein Gast aus der ČSSR teil. Ihre Grußworte hatten theologischen Charakter.
Zeitweilig war der in der DDR akkreditierte Korrespondent Röder1 (epd) anwesend.
Entsprechend der Tagesordnung der Synode wurde eine Vielzahl innerkirchlicher Probleme behandelt (Berichte der charismatischen Bewegung2 und der Inneren Mission3 u. a.), die keine wesentlichen politischen Aussagen enthielten. Eine Berichterstattung der Kirchenleitung erfolgte nicht. Die im Rahmen der Synode von Bischof Hempel4 gehaltene Predigt war theologisch ausgerichtet.
Lediglich der Bericht der Inneren Mission enthielt einige beachtenswerte Aussagen über »die zugespitzte personelle und bauliche Situation« in den einzelnen Bereichen der Diakonie. Beklagt werden darin u. a. fehlende und mangelnde staatliche Unterstützung bei der Einhaltung bilanzierter Termine für Bau- und Reparaturkapazitäten sowie »die immer komplizierter werdende Situation beim Einkauf der zum Leben notwendigen Dinge«. So werde die zentral geplante Rekonstruktion im Katharinenhof Großhennersdorf5 durch den zuständigen Rat des Kreises nicht realisiert. In der Aussprache zu diesem Bericht wurde in einem Beitrag dem Staat vorgeworfen, die Betreuung alter Menschen nicht ausreichend zu unterstützen. Deshalb müsse dies als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet werden.
Auf der Grundlage zahlreicher der Synode vorliegender Anträge und Eingaben von Synodalen und aus den Kirchengemeinden wurden in den Ausschüssen, in der Plenardebatte der Synode, in der öffentlichen »Fragestunde« am 1. April 1989 und in der im Rahmen der Synodaltagung stattgefundenen Gemeindeversammlung in der Auferstehungskirche in Dresden in zum Teil langwierigen Debatten gesellschaftspolitische Themen erörtert, wobei es teilweise zu offenen bzw. verdeckt vorgetragenen Angriffen gegen Teilbereiche der sozialistischen Gesellschaft in der DDR kam.
Die aufgegriffenen Problemkreise betrafen insbesondere die Kommunalwahlen in der DDR,6 die Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland,7 Fragen der Volksbildung sowie der Umweltpolitik der DDR.
Vielfältige Diskussionen gab es zu Anträgen und Eingaben im Hinblick auf die Kommunalwahlen 1989, darunter zu einem Antrag des sozialethischen Ausschusses. Darin heißt es u. a.: »Beschwernis bereitet die fehlende Möglichkeit der Auswahl von Kandidaten bei der Wahlhandlung. Der Charakter der geheimen Wahl ist erst dann gewährleistet, wenn die Wähler verpflichtet sind, die Kabine zu benutzen. Befürchtungen bestehen hinsichtlich Fehlentscheidungen bei der Auszählung und Zusammenfassung der Wahlergebnisse. Es fehlt die Festlegung und öffentliche Information über eine einheitliche Bewertung der Stimmzettel.«8 (Wortlaut siehe Anlage)
Obwohl einige auf politisch realistischen Positionen stehende Synodalen (Pfarrer Engemann,9 Pfarrer Schlegel,10 beide Karl-Marx-Stadt) versuchten, die negativen Aussagen in diesem Antrag zu entkräften, wurde er von der Synode mit nur vier Gegenstimmen zum Beschluss erhoben mit der Maßgabe, ihn den Kirchengemeinden der Landeskirche für Gespräche mit Gemeindemitgliedern zur Verfügung zu stellen.
In der Diskussion wurde ferner zum Ausdruck gebracht, der Staat sehe den Wahlen offensichtlich mit »gewisser Sorge« entgegen; leider »fehle ihm die Einsicht, dass eigentlich weniger Prozente mehr bedeuten als eine Wahlbeteiligung von 99,9 %« (Superintendent Kreß,11 Dresden).
Während der »Fragestunde« wurde die Forderung gestellt, in kirchlichen Zeitungen Informationen zum Wahlmodus zu veröffentlichen. U. a. sollte die Frage beantwortet werden, wann eine Stimme gültig ist und wann nicht. Durch einen namentlich bekannten Teilnehmer wurde daraufhin empfohlen, den Wahlschein zu zerreißen.
Landesjugendpfarrer Bretschneider,12 Dresden, legte dar, der Pfarrkonvent Dresden-Mitte habe bereits vor zwei Monaten in einem Schreiben an den Vorsitzenden der Wahlkommission der DDR um Auskünfte über wahlrechtliche und -organisatorische Grundsätze ersucht, deren Beantwortung bisher noch ausstehe.
(Bischof Hempel äußerte dazu, in Vorbereitung der Wahlen fänden gegenwärtig Gespräche mit staatlichen Stellen statt, und er sei bereit, diesbezüglich eine Anfrage an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Löffler,13 zu richten.)
Eine Reihe Diskussionsredner nahm zur Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland und zu der am 1. April 1989 in Kraft getretenen 1. Durchführungsbestimmung Stellung.
Generell wurden die »verbesserte Rechtssicherheit« für Bürger und das Bemühen des Staates anerkannt. Es wurde aber mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass im Interesse der Bürger der DDR weitergehende Erleichterungen zu schaffen seien. Auf Antrag des sozial-ethischen Ausschusses (Vorsitzender Superintendent Pilz,14 Flöha) wurde ein Beschluss verabschiedet, in dem die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) gebeten wird, bei den staatlichen Stellen darauf hinzuwirken, die jetzt bestehenden Regelungen weiter auszudehnen. Es solle erreicht werden, dass auch Besuchsreisen zu Bekannten möglich sind und eine »angemessene Summe von Reisezahlungsmitteln erworben« werden könne.15
Kritisch wurde in den Aussprachen von mehreren Synodalen vermerkt, dass das seit Langem angestrebte Gespräch mit verantwortlichen Vertretern des Ministeriums für Volksbildung noch immer nicht stattgefunden habe, obwohl sich eine Vielzahl von Fragen angestaut hätte, die eine Befragung erforderlich machten.
In einem von der Synode gefassten Beschluss wurde die Forderung an das Landeskirchenamt erhoben, dieses Anliegen der Synode an den Staatssekretär für Kirchenfragen weiterzuleiten. Darüber hinaus solle der Staatssekretär gebeten werden, an den IX. Pädagogischen Kongress16 rechtzeitig folgende kirchlicherseits formulierten »Erziehungsziele« weiterzuleiten:
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»Gezielte Erziehung der Jugendlichen zur eigenen Urteilsbildung und zu differenzierter Einstellung zu den Grundwerten unseres Landes;
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Erziehung zur Dialogfähigkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft zwischen Weltanschauungen und Ideologien;
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zur besseren Vorbereitung u. a. auf das gesellschaftliche Leben müsste die Schule zum Trainingsfeld für Kreativität, Schöpfertum, Phantasie und Kommunikationsfähigkeit werden.«
Durch Pfarrer Steinbach17 (Rötha) wurden die Synodalen aufgefordert, darauf Einfluss zu nehmen, dass sich auch Gemeindemitglieder in Vorbereitung des IX. Pädagogischen Kongresses schriftlich an die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften mit der Forderung wenden, den Wehrunterricht abzuschaffen,18 Möglichkeiten eines sozialen Friedensdienstes statt des Wehrdienstes zu schaffen und in die neu zu erarbeitenden Lehrpläne für allgemeinbildende Schulen religiöse Themen aufzunehmen.
Der gesamte Verlauf der Synodaltagung wurde bestimmt von massiven kritischen Diskussionen und Meinungsäußerungen zum Bau des Reinstsiliziumwerkes in Dresden-Gittersee.19 Ausgangspunkt hierfür waren sechs der Synode vorliegende Eingaben, in denen generelle Ablehnungen bekundet und »begründet« wurden. (Die Eingaben waren von den Superintendenten Scheibner20 und Ziemer21 sowie von Vertretern des Arbeitskreises Ökologie der drei Dresdener Kirchenbezirke22 initiiert worden.)
Der Vorsitzende des sozial-ethischen Ausschusses, Superintendent Pilz, der die Tagung über diese Eingaben informierte, betonte, aus den Zuschriften würden Sorge und Ängste von Betroffenen sprechen, und es werde die Bitte formuliert, dieses Werk an einem anderen Standort zu errichten.
In den Diskussionen wurden folgende Aussagen getroffen:
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Der Dank an christliche Bürger und Gemeindemitglieder für ihr Engagement gegen den Bau des Werkes (Synodale Dr. Kinze,23 Dresden);
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die Forderung, dass sich die Synode konkret mit diesem Problem beschäftigen und die weiteren staatlichen Maßnahmen dazu verfolgen müsse, da die Stimmung der betroffenen Bürger »immer kritischer« werde (Superintendent Scheibner, Dresden);
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Behauptungen hinsichtlich mangelnder Informationen staatlicherseits im Zusammenhang mit dem Vorhaben; die Nichteinbeziehung der Bevölkerung in die Diskussion würde eine »Entmündigung« der Bürger darstellen (Pfarrer Albani,24 Frauenstein); in Einwohnerversammlungen habe man den Eindruck gewonnen, dass ein Mitdenken der Bevölkerung gar nicht gefragt sei (Superintendent Pilz);
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die Forderung, von allen Kandidaten für die Kommunalwahlen eine persönliche Stellungnahme zum Bau des Werkes abzufordern und davon ihre Wahl oder Nichtwahl abhängig zu machen (Wortmeldung in der öffentlichen »Fragestunde«);
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Forderung, durch die Synode einen Beschluss im Sinne der zu dieser Thematik an die Synode eingereichten Eingaben zu formulieren (Pfarrer Scheibner, Pfarrer Albani);
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Aufruf, am 16. April 1989, 17.00 Uhr, in der Kreuzkirche Dresden einen Bittgottesdienst »mit den Betroffenen« durchzuführen (Superintendenten Bergmann,25 Scheibner und Ziemer).
Obwohl der Vorsitzende des sozial-ethischen Ausschusses, Superintendent Pilz, insbesondere während der letzten beiden Beratungstage aufgrund der kontrovers verlaufenden Diskussion mehrfach versuchte, die Anfragen zu relativieren und auf ökonomische Zusammenhänge hin-zuweisen, und Bischof Hempel im Verlauf der Tagung in drei grundsätzlichen Beiträgen dazu sachlich Stellung nahm, wurden die Diskussionen im gesamten Verlauf der Tagung weitergeführt.
Bischof Hempel führte im Wesentlichen aus, er habe gemeinsam mit Oberlandeskirchenrat Schlichter26 in einem Gespräch beim 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, Genossen Modrow,27 die Bitte geäußert, von dem derzeitigen Standort abzusehen. Aus dem Gespräch habe er – Hempel – entnommen, dass der Entscheidungsprozess auf zentraler Ebene weit vorangeschritten sei. In diesem Zusammenhang beklagte er »die seit 40 Jahren bestehenden Probleme« in der Informationspolitik. Er informierte, dass die Gespräche mit staatlichen Stellen weitergeführt würden.
Bischof Hempel solidarisierte sich mit einem Beschluss der Synode, das Landeskirchenamt zu beauftragen, unverzüglich den Staatssekretär für Kirchenfragen zu bitten, die in der Synode vertretenen Positionen und die ihr zu dieser Problematik zugesandten Eingaben zur Kenntnis zu nehmen und an zuständige staatliche Organe weiterzuleiten.
Im weiteren Verlauf der Tagung verlas Pfarrer Steinbach, Leipzig, einen Bericht des sozial-ethischen Ausschusses der Synode zur Situation in Espenhain und zum Stand der Aktion »Eine Mark für Espenhain«.28
Es wurde eingeschätzt, dass der zuständige Rat des Kreises die Aktion akzeptieren würde, jedoch offen sei, ob er das Geld annimmt. Von der zugesagten Rekonstruktion der zwölf Öfen seien bisher lediglich sieben rekonstruiert. Auch für 1989 sei nur eine Rekonstruktion von weiteren zwei Öfen vorgesehen, sodass die mit der Aktion angestrebte Umweltverbesserung nicht zu erwarten sei.
Als Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens wurden zwölf namentlich bekannte Personen als Mitglieder zur VI. Synode des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR gewählt.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 180/89
[Abschrift] Nr. 256 – Antrag des sozialethischen Ausschusses | Kommunalwahlen 1989
Die Synode wolle beschließen:
Das Landeskirchenamt wird gebeten, den Pfarrern und Pastorinnen für Gespräche mit Gemeindegliedern folgende Stellungnahme der Landessynode zur Verfügung zu stellen. Eingaben aus Gemeinden, Gespräche mit uns während der Synodaltagung und unsere eigene Betroffenheit in Bezug auf die Kommunalwahl 1989 veranlassen uns zu folgender Stellungnahme:
Unter den Kandidaten für die Kreistage, Stadtverordnetenversammlungen und Gemeinderäte kennen wir viele Männer und Frauen, deren Einsatz und Erfahrung unseren Respekt verdienen. Es geht uns nicht um Personen, sondern um das Verfahren, wenn wir im Folgenden Beschwernisse zum Ausdruck bringen. Beschwernis bereitet die fehlende Möglichkeit der Auswahl von Kandidaten bei der Wahlhandlung. Der Charakter der geheimen Wahl ist erst dann gewährleistet, wenn die Wähler verpflichtet sind, die Kabine zu benutzen. Befürchtungen bestehen hinsichtlich Fehlentscheidungen bei der Auszählung und Zusammenfassung der Wahlergebnisse.
Es fehlt die Festlegung und öffentliche Information über eine einheitliche Bewertung der Stimmzettel.
Für uns als Christen wird es darauf ankommen, wahrhaftig zu sein und verantwortlich zu entscheiden. Das kann darin bestehen, an der Wahl teilzunehmen und die Kabine aufzusuchen oder von der Wahl fernzubleiben.
Jede verantwortlich getroffene Entscheidung muss unter uns respektiert werden. Das Wahlgesetz gibt jedem das Recht, an der Auszählung der Stimmen teilzunehmen.29 Wir wollen im Gebet und in der Fürbitte zusammenstehen und auch derer gedenken, die die politische Verantwortung in unserem Land tragen.