Äußerungen von Günter Grass
19. Juli 1989
Information Nr. 343/89 über beachtenswerte Äußerungen des Schriftstellers Günter Grass/BRD während seines Aufenthaltes in der DDR
Der Schriftsteller Günter Grass,1 BRD, (61, Mitglied der SPD, ehemaliges Vorstandsmitglied des Westberliner Schriftstellerverbandes, ehemaliger Präsident der Westberliner Akademie der Künste) hielt sich nach wiederholter persönlicher Interessenbekundung, insbesondere den Norden der DDR besuchen zu wollen (die mitreisende Ehefrau Ute2 ist in Hiddensee geboren), auf der Grundlage einer Einladung des Reclam-Verlages Leipzig und des Kulturbundes der DDR/Kreisleitung Rügen in der Zeit vom 23. bis 29. Juni 1989 im Bezirk Rostock auf, um ein touristisches Programm zu absolvieren (vorwiegend Rügen, Hiddensee, Greifswald) und von zuständigen staatlichen Stellen organisierte Lesungen durchzuführen. (Damit wurde einer Grass von bestimmten kirchlich gebundenen Kräften intern in Aussicht gestellten Einladung für Lesungen ausschließlich in kirchlichen Einrichtungen der DDR entgegengewirkt.)
Im Bezirk Rostock führte Grass insgesamt drei von zuständigen staatlichen Stellen organisierte Lesungen (zwei Lesungen mit ca. 80 Teilnehmern in der Gerhart-Hauptmann-Gedenkstätte Kloster ([Insel] Hiddensee), eine Lesung mit ca. 350 Teilnehmern im Stadttheater Putbus) aus seinen in der DDR veröffentlichten literarischen Arbeiten durch. Darüber hinaus fand in Putbus (Orangerie) in Anwesenheit von Grass die Eröffnung einer Ausstellung von 46 grafischen Blättern von Grass (Zeichnungen zu »Die Blechtrommel«, »Der Butt«, »Die Rättin«3 sowie zu seinem Indienaufenthalt) statt. Die Teilnehmer der Veranstaltungen – vornehmlich von den Organisatoren geladene Gäste, Mitglieder des Kulturbundes aus dem jeweiligen Territorium – zeigten sich interessiert. Die Veranstaltungen verliefen ohne Störungen und ohne Vorkommnisse.
Streng intern vorliegenden Hinweisen zufolge äußerte sich Grass während seines Aufenthaltes in der DDR in individuellen Gesprächen zu aktuellen politischen Fragen und zur Politik der SPD, wobei er mehrfach seine engen persönlichen Beziehungen zu den Führungsspitzen seiner Partei, der SPD, hervorhob.
Er bezeichnete sich als zum Beratergremium des SPD-Parteivorstandes gehörend und zählte insbesondere Willi Brandt,4 H.-J. Vogel,5 Oskar Lafontaine,6 Björn Engholm,7 Johannes Rau8 und die SPD-Vorsitzenden von Niedersachsen und Bremen zu seinen engsten Freunden. Seine Argumentationen basierten dabei auf Grundpositionen der SPD; vordergründig betonte er die Notwendigkeit des Zusammenführens von Gemeinsamkeiten beider deutscher Staaten und sprach sich insbesondere für Ausweitungen kultureller Beziehungen untereinander aus. In diesem Zusammenhang beanstandete er mehrfach das durch »engstirniges« Verhalten staatlicher Institutionen Nichtzustandekommen von Veranstaltungen, in denen er – Grass – in der DDR wirksam zu werden beabsichtigte.
Nach weiter intern vorliegenden Äußerungen sei Grass für die 1990 stattfindenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, aber möglicherweise auch in einigen anderen BRD-Ländern, als »Wahlredner« der SPD fest eingeplant. Er wolle 100 Veranstaltungen bestreiten und dabei alles für ihn Mögliche tun, um der SPD wieder zu mehr Ansehen und zu Wahlsiegen zu verhelfen. Innenpolitisch wolle die SPD die Zielstellung verdeutlichen, durch Schaffung neuer Arbeitsplätze die unzumutbar hohe Arbeitslosigkeit und durch Ausbau des sozialen Wohnungsbaues die Wohnungsnot in der BRD zu beseitigen. Mit diesem Programm sollten Erstwähler gewonnen werden, die jetzt aus Protest gegen die soziale Misere in der BRD bzw. Westberlin den Republikanern9 zugelaufen seien. Große Hoffnung setze die SPD-Führung auf Vereinbarungen zur dritten Null-Lösung,10 zu der intensive Gespräche mit den USA erfolgten. Das zu propagierende Programm der SPD sei Grundlage für einen angestrebten Sieg der SPD bei den nächsten Bundestagswahlen. Personell gebe es hinsichtlich eines möglichen Kanzlers aus den Reihen der SPD noch keine eindeutigen Entscheidungen. Rau sei in Nordrhein-Westfalen zur Sicherung der Stimmenmehrheit für die SPD unentbehrlich. Lafontaine könne man aufgrund bestimmter Charaktereigenschaften nicht in Personalunion den Vorsitz der Partei überantworten. Die augenblicklich denkbare Variante wäre H.J. Vogel als Parteivorsitzender und Lafontaine als Bundeskanzler.
Grass äußerte weiter, er habe in Vorbereitung auf seine Reise in die DDR Gespräche mit Vogel und Engholm geführt, in denen diese auch über ihre Aufenthalte in der DDR informiert hätten. So habe Vogel von »Antragstellern« berichtet, die von ihm Hilfe und Unterstützung für eine baldige Ausreise aus der DDR erhofft hätten.11 Vogel habe ihnen gegenüber erklärt, dieses Anliegen falle nicht in seine Kompetenz. Wenn sie Probleme mit ihrem Staat und ihren Behörden hätten, sollten sie diese dort klären und nicht mit Außenstehenden. Grass fand dieses Argument zweckmäßig und würde nach seinen Aussagen ebenso reagieren. Er sehe die Notwendigkeit, die Zahl der ständigen Ausreisen in die BRD aus den sozialistischen Staaten einschließlich der DDR einzuschränken.
Sie würden nicht zur Lösung innerer Probleme in den sozialistischen Ländern beitragen, andererseits jedoch zur Verschärfung der sozialen Konflikte und der Armut in der BRD führen.
Engholm habe Grass über seine Vorstellungen zur Aktivierung der kulturellen Beziehungen zwischen Schleswig-Holstein und den Nordbezirken der DDR, die er auch im Gespräch mit Genossen Erich Honecker12 vorgetragen habe, unterrichtet. Grass leitete daraus ab, dass die DDR und die BRD im Zusammenhang mit der Pflege des kulturellen Erbes und der Erhaltung kultureller Werte auch Wege finden müssten, in Umweltfragen enger zusammenzuarbeiten. Grass war der Auffassung, der DDR würde es nicht schaden, wenn sie für größere Restaurierungs- und Rekonstruktionsvorhaben finanzkräftige Partner – bis hin zu Monopolen – gewinnt (genannt wurde Daimler-Benz). Durch entsprechende Städtepartnerschaften – z. B. Putbus und Eßlingen – könnten diese Vorhaben beschleunigt werden. Durch »übergroße Unsicherheit« der DDR-Behörden würden aber »viele mögliche Aktivitäten« noch »blockiert«.
Grass habe sich – auch unter Hinweis auf Übereinstimmung mit maßgeblichen Funktionären des SPD-Führungsgremiums – dafür ausgesprochen, bestehende Städtepartnerschaften weitgehend für eine Aktivierung der kulturellen Beziehungen untereinander zu nutzen. Darin sehe er – Grass – Reserven. Haltungen von zuständigen Kommunalpolitikern für Städtepartnerschaften in der DDR, die sich in »bewusster Nichterfüllung bzw. Ignorierung« der Vereinbarungen zur Städtepartnerschaft ausdrückten, müssten abgebaut und demgegenüber eine inhaltliche Anreicherung erreicht werden.
In diesem Zusammenhang beklagte er sich über die von der Stadt Rostock vor Kurzem ausgesprochene Ablehnung gegenüber dem Angebot der Stadt Bremen, im Rahmen der Städtepartnerschaft eine Ausstellung von ihm gefertigter Grafiken in der Kunsthalle Rostock durchzuführen. Für die verantwortlichen Kommunalpolitiker der Stadt Bremen und für ihn sei diese Ablehnung unverständlich, zumal die Grafiken keinerlei Bezüge enthielten, die gegen die DDR ausgelegt werden könnten und zum Teil Ende 1988 in der im Luchterhand-Verlag erschienenen Publikation »Zunge zeigen«13 Aufnahme gefunden hätten. Grass forderte den Rostocker Bildhauer und das Mitglied der Akademie der Künste der DDR, Jo Jastram,14 bei einer Begegnung am 25.6.1989 in Putbus auf, seinen Einfluss in Rostock und bei der zentralen Leitung des VBK der DDR zu nutzen, um der »ängstlichen Zurückhaltung« der Verantwortlichen in Rostock ein Ende zu machen und die Durchführung der Grafik-Ausstellung durchzusetzen. Für die SPD-Stadtverwaltung von Bremen sei es nach den Darlegungen von Grass wichtig, dass die im Rahmen der Städtepartnerschaft geplanten oder möglichen Aktivitäten erfolgreich realisiert werden, da diese von Mitgliedern und SPD-Wählern als Erfolge oder Misserfolge genau registriert würden.
Als weiteres Beispiel ungenügender Bereitschaft zum Ausbau kultureller Beziehungen nannte Grass, dass ihm eine Veranstaltung im Rahmen der Ausstellung »Doppelbegabungen« während der Internationalen Buchkunstausstellung im Mai/Juni 1989 in Leipzig kurzfristig durch eine Absage vom Vorsteher des Börsenvereins und Direktor des Verlages Volk und Welt, Genossen Gruner,15 verwehrt wurde, obwohl durch längerfristige Verhandlungen ein Veranstaltungstermin für Anfang Juni 1989 als für beide Seiten machbar ins Auge gefasst war. Um einer Begründung für die Absage aus dem Weg zu gehen, wäre ihm als Ausweichtermin für eine Veranstaltung Mitte Mai vorgegeben worden, obwohl bekannt gewesen sei, dass er sich zu diesem Zeitpunkt in den USA aufhält. Grass sehe in dieser Absage einen Affront des Verlages Volk und Welt gegenüber seiner Person, der unter normalen Bedingungen zur Aufkündigung der Zusammenarbeit führe. Er überlege deshalb, ob er dem Verlag Volk und Welt die Rechte für seine dort erschienenen DDR-Veröffentlichungen (»Die Blechtrommel« und »Katz und Maus«16) entzieht und diese einem anderen DDR-Verlag anbietet.
Grass brachte wiederholt seinen Unmut über das bisherige Ausbleiben einer staatlichen Genehmigung seitens zuständiger DDR-Behörden für seine literarischen Veranstaltungen in Gemeinsamkeit mit dem Schlagzeugspieler Günter Sommer17 (Dresden), die in der BRD mit Erfolg durchgeführt würden, zum Ausdruck. Seine Vorstellungen für Auftritte in der DDR seien in individuellen Gesprächen mit verantwortlichen Mitarbeitern der Künstleragentur der DDR und des »Berliner Ensembles« (als möglicher Auftrittsort) auf Zustimmung gestoßen. Er stelle jedoch fest, dass seine Anwesenheit in der DDR einigen Persönlichkeiten unerwünscht sei. Derartige Haltungen wurden von Grass als politisch überholt bezeichnet. Demgegenüber hätte er während seines Aufenthaltes in der DDR den Eindruck gewonnen, dass die DDR-Bürger »offener und freier« ihre Meinung äußern, sich nicht scheuten, konträre Auffassungen zu diskutieren und unbequeme Fragen zu stellen. Er hätte erneut bestätigt gefunden, dass das Publikum in der DDR interessierter und sachkundiger sei als das Publikum in der BRD und bekräftigte sein Interesse an weiteren Veranstaltungen in der DDR.
In anderen individuellen Gesprächen äußerte sich Grass u. a. über die Entwicklung in der VR Polen, in die er enge Verbindungen unterhalte. Er begrüßte die Erfolge von »Solidarność18 als politische Kraft zur Durchsetzung einer breiten Demokratie« und zeigte sich besorgt über die »Spaltung«, die sich in dieser Bewegung bemerkbar mache. Grass stellte sich hinter die am »runden Tisch« von Solidarność-Vertretern ausgehandelten Kompromisse. Später, wenn eine gewisse Konsolidierung der Wirtschaft des Landes eingetreten sei und Solidarność ein abgestimmtes klares Programm besitze, könne Solidarność Führungsansprüche geltend machen. Ungeduld zur Übernahme der Macht schade gegenwärtig noch dieser Bewegung.
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