Aktivitäten der Kirchen gegen Bau des Reinstsiliziumwerks
[ohne Datum]
Information Nr. 379/89 über fortgesetzte Aktivitäten der drei Kirchenbezirke Dresdens in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens gegen die geplante Errichtung des Reinstsiliziumwerkes Gittersee des VEB Spurenmetalle Freiberg
Das MfS informierte bereits in den Informationen Nr. 129/89 vom 21. März 1989 und Nr. 192/89 vom 16. April 1989 über ablehnende Haltungen, insbesondere kirchlich gebundener Kräfte sowie zur inspirierenden Rolle des »Ökologischen Arbeitskreises« der drei Kirchenbezirke in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens,1 zur geplanten Errichtung des Reinstsiliziumwerkes Gittersee.2
Entsprechend eines Beschlusses des vorgenannten »Ökologischen Arbeitskreises« war angekündigt, an jedem ersten Sonntag im Monat in der Paul-Gerhardt-Kirche in Dresden-Süd, Ortsteil Gittersee (Friedhof), sogenannte Fürbittgottesdienste gegen dieses Bauvorhaben durchzuführen.
Aufgrund dieser Ankündigung waren von verantwortlichen Mitarbeitern des Rates der Stadt Dresden mit kirchenleitenden Kräften Aussprachen geführt worden mit der Zielstellung, diese »Fürbittgottesdienste« zu unterbinden. Diesen staatlichen Erwartungshaltungen kamen die kirchlichen Amtsträger mit ihren bekannten Grundpositionen nicht nach.
Am 6. August 1989, in der Zeit von 18.00 bis gegen 18.50 Uhr, fand ein derartiger Gottesdienst unter Teilnahme von etwa 400 Personen statt. (Etwa 250 bis 300 Personen befanden sich in der überfüllten Kirche, der Rest hielt sich auf dem die Kirche umgebenden Friedhofsgelände auf.)
Die von Superintendent Scheibner3 gehaltene Predigt war inhaltlich darauf angelegt, die Teilnehmer zu beeinflussen, gegen die Errichtung des Reinstsiliziumwerkes Gittersee aufzutreten. In diesem Zusammenhang brachte er wörtlich zum Ausdruck: »Wir als Kirche wollen Unruhe verbreiten und den Menschen klarmachen, in welcher Gefahr sie leben.«
Die Mitarbeiterin des Stadtpfarramtes der drei Kirchenbezirke, Jacobi,4 die sich als Delegierte der »Europäischen Ökumenischen Versammlung«5 vom 15. bis 21. Mai 1989 in Basel/Schweiz vorstellte, hob in ihren Ausführungen besonders hervor, eine bedeutende Anzahl von Eingaben6 seien noch immer nicht ordnungsgemäß beantwortet, mit den Verfassern der Eingaben habe es noch keine Gespräche gegeben. Indirekt wiederholte sie die von kirchlichen Kreisen bereits mehrfach erhobene Forderung, das Gespräch über das Bauvorhaben Gittersee mit den Vertretern kirchlicher Gruppierungen sowie den Verfassern von Eingaben im Rahmen des Wohngebietsausschusses der Nationalen Front fortzusetzen.
Darüber hinaus bekräftigte sie nochmals die hinlänglich bekannten, gegen das Werk vorgetragenen Argumentationen (z. B. mögliche Gesundheitsgefährdungen für die Wohnbevölkerung, akute Havariesituation, Gefahren für die Standsicherheit des Werkes, da ehemaliges Bergbaugebiet).
Nach Beendigung der kirchlichen Veranstaltung entrollten Teilnehmer beim Verlassen des Kirchengeländes zwei Transparente mit den Aufschriften »Baustopp Silizium« und »Wir haben das Recht nein zu sagen zum RSW«. (Auf Einwirken des Scheibner rollten die Träger der Transparente diese nach kurzer Zeit wieder ein.)
Einer der Träger führte darüber hinaus noch weitere zwei Transparente bei sich (versehen mit den Aufschriften »Trichlorsilan? – knallhart« und »Weg mit Silizium in Gittersee, bringt uns nicht um – Silizium«).
Ebenfalls nach Beendigung des »Fürbittgottesdienstes« begaben sich etwa 20 Teilnehmer zum Eingang des Reinstsiliziumwerkes und setzten sich etwa 50 Meter seitlich vom Eingangstor auf dem Fußweg nieder.
Der Aufforderung gesellschaftlicher Kräfte, diese Örtlichkeit zu verlassen, wurde nicht Folge geleistet.
Den Weisungen daraufhin zum Einsatz gebrachter Kräfte der Deutschen Volkspolizei wurde ebenfalls nur insofern gefolgt, dass die Teilnehmer sich lediglich auf die andere Straßenseite begaben und in demonstrativer Weise stehenblieben.
Durch das Hinzukommen weiterer Teilnehmer des »Fürbittgottesdienstes« (etwa 60 Personen) und von Straßenpassanten, kam es zu einer größeren Personenansammlung.
Im Zusammenhang mit den von der Deutschen Volkspolizei vorgenommenen Zuführungen von ausschließlich den Weisungen der Deutschen Volkspolizei sich widersetzenden 20 Personen und dem taktisch geeigneten Mitwirken der gesellschaftlichen Kräfte konnte diese Personenansammlung gegen 19.30 Uhr aufgelöst werden.
Unter den Zugeführten befinden sich vier Personen, die bereits in der Vergangenheit wegen öffentlicher, demonstrativer Handlungen angefallen waren und gegen die daraufhin Ordnungsstrafen ausgesprochen wurden. Unter den zugeführten Personen befinden sich vier Antragsteller auf ständige Ausreise.7
Es sind – in differenzierter Form – strafrechtliche und ordnungsstrafrechtliche Maßnahmen gegen diesen Personenkreis vorgesehen.
Vertreter westlicher Massenmedien hielten sich während dieses Zeitraumes nicht am Ereignisort auf.
Der 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, Genosse Modrow,8 wurde über diesen Sachverhalt informiert.