Aspekte zur Bildung des »Neues Forums«
26. September 1989
Information Nr. 427/89 über beachtenswerte Aspekte im Zusammenhang mit der beabsichtigten Bildung der oppositionellen Sammlungsbewegung »Neues Forum«
Das in der Information Nr. 416/89 vom 19. September 1989 angeführte Seminar zu »Fragen der Gründung von Vereinigungen und Organisationen mit oppositionellem Charakter in der DDR« fand wie geplant am 24. September 1989 in der Markuskirchengemeinde in Leipzig statt.1 Bei den damit verfolgten Bestrebungen, sich über das weitere Vorgehen zu verständigen, nahm die Reaktion auf die Veröffentlichung der Mitteilung des Ministers des Innern vom 22. September 1989 über die Ablehnung des Antrages zur Bildung des »Neuen Forums« einen wesentlichen Platz ein.2 Unter den ca. 80 Teilnehmern des Seminars, vorwiegend Vertreter verschiedener personeller Zusammenschlüsse aus fast allen Bezirken der DDR, befand sich demzufolge eine Reihe der Erstunterzeichner der »Gründungserklärung« des »Neuen Forums«3 wie Bärbel Bohley4 (Berlin), Frank Eigenfeld5 (Halle) und der Organisator des Leipziger Seminars, Michael Arnold.6
Das »Seminar« befasste sich nach streng intern vorliegenden Hinweisen mit folgenden wesentlichen Inhalten:
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Notwendigkeit oppositioneller Sammlungsbewegungen;
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Wirksamwerden oppositioneller Kräfte;
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Einflussnahme zur Erzielung einer gesetzlichen Regelung für die Bildung einer »oppositionellen Gesamtvereinigung«.
Dazu gaben Vertreter verschiedenster personeller Zusammenschlüsse und sogenannter Sammlungsbewegungen Selbstdarstellungen ab und verbanden dies mit der Orientierung, das »Neue Forum« zur Vernetzung existierender personeller Zusammenschlüsse und als Plattform des künftigen Wirkens zu nutzen.
Die Bohley erklärte zur Zielstellung des »Neuen Forums«, eine »Breitenwirkung auf alle Schichten der Bevölkerung der DDR, ungeachtet der Berufstätigkeit und Bindung an Parteien« anstreben zu wollen. Unterschriftsleistungen zur »Gründungserklärung« verstehe man als Bereitschaftserklärung, das »Neue Forum« unterstützen zu wollen und nicht unbedingt als Mitgliedschaft, da man für alle »offen« sein wolle (auch für Kriminelle und »Republikaner«7). Als Organisationsform sehe man ein dezentralisiertes Wirken von regionalen Gruppen vor. Die Bohley verstehe sich – ihren Aussagen zufolge – als Vermittlerin diesbezüglich interessierter Personen. Hinsichtlich der Entscheidung des Ministers des Innern erklärte die Bohley, dass es sich dabei um keine juristische, sondern um eine politische Entscheidung handele.
In der geführten Diskussion wurde das »Neue Forum« von Vertretern anderer personeller Zusammenschlüsse wiederholt als »akzeptable Plattform« anerkannt, auf deren Grundlage die »Zusammenführung von Menschen sowie die Diskussion und das Suchen von Wegen zur Lösung anstehender Probleme« möglich seien.
Erarbeitet wurde eine Protestresolution gegen die Entscheidung des Ministers des Innern, die von Teilnehmern unterzeichnet wurde und an zentrale Organe versandt werden soll.8 Damit wird die Absicht der Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« deutlich, ihre Aktivitäten fortzusetzen.
Die Teilnehmer des »Seminars« einigten sich auf die Durchführung von Folgetreffen am gleichen Ort in Abständen von vier Wochen, um die begonnene Diskussion fortzusetzen.
Im Zusammenhang mit den Versuchen, das »Neue Forum« anzumelden, die bekannten Erklärungen konzeptionellen Charakters »Aufbruch 89 – Neues Forum«9 zu verbreiten und Gleichgesinnte zu sammeln bzw. Sympathisanten zu gewinnen, wurde dem MfS u. a. bekannt:
Anträge zur Anmeldung der Tätigkeit des »Neuen Forums« – datiert zwischen dem 18. und 20. September 1989 – wurden auf postalischem Wege an das Ministerium des Innern der DDR, den Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie an die Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke für Inneres Cottbus, Dresden, Frankfurt/O., Halle, Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Potsdam, Rostock und Schwerin versandt. Die gleichlautenden Schreiben sind jeweils von zwei bis drei Personen unterzeichnet; dem Schreiben an das MdI ist die Liste der Erstunterzeichner beigefügt. Einreicher dieser Anträge sind überwiegend Erstunterzeichner der sogenannten Gründungserklärung bzw. weitere Mitglieder personeller Zusammenschlüsse, die sich sofort dem »Neuen Forum« zuwandten, darunter auch Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter.
Nach vorliegenden Hinweisen wurden in den vorgenannten Territorien bereits sogenannte Initiativgruppen zur organisatorischen Profilierung des »Neuen Forums« gebildet, deren Mitglieder durchweg bekannte feindliche, oppositionelle und andere negative Kräfte sind.
Besonders durch diese, aber auch eine Reihe reaktionärer kirchlicher Kräfte wird eine intensive Propaganda der Ziele und Inhalte des »Neuen Forums« betrieben bzw. dazu Unterstützung geleistet. So wird die Erklärung »Aufbruch 89 – Neues Forum« DDR-weit im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen verlesen, kommentiert und zum Lesen ausgelegt, verbunden mit geplantem bzw. spontan initiiertem Sammeln von Unterschriften (während einer Veranstaltung der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte wurden z. B. ca. 500 Exemplare dieses Papiers verteilt). Aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen liegen Hinweise darüber vor, dass Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« und Sympathisanten diese Erklärung verbreiten, daraus zitieren bzw. darüber Diskussionen entfachen, so z. B. der Erstunterzeichner Professor Reich10 in seinem Arbeitsbereich, dem Zentralinstitut für Molekularbiologie bei der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die Sängerin Tamara Danz11 (Rock-Gruppe »Silly«) las während Veranstaltungen am 19. und 20. September 1989 im Bezirk Potsdam bzw. in Leipzig (dort vor ca. 1 200 meist jugendlichen Zuhörern, die mehrheitlich Beifall bekundeten) aus der bekannten »Resolution« der Unterhaltungskünstler,12 in der sie sich mit den Erstunterzeichnern des »Neuen Forums« solidarisierten.
Während einer Zusammenkunft der Mitglieder des Bezirksverbandes Potsdam des Schriftstellerverbandes der DDR versuchte die Schriftstellerin Helga Schütz,13 die Anwesenden zur Unterzeichnung der »Erklärung« zu veranlassen. Im Ergebnis einer politischen Auseinandersetzung und Abstimmung (acht Stimmen für Unterzeichnung, 21 Gegenstimmen, zwei Enthaltungen) wurde dieses Ansinnen zurückgewiesen.
Beachtenswert sind ferner Einzelhinweise über die missbräuchliche Nutzung betrieblicher Computer- und Drucktechnik für die Vervielfältigung der »Erklärung« bzw. das Aufsuchen von Bürgern in ihren Wohnungen zum Zwecke der Unterschriftensammlung. (Über bisher insgesamt gesammelte Unterschriften liegen noch keine gesicherten Hinweise vor. In westlichen Medien veröffentlichte Zahlenangaben tragen offensichtlich spekulativen Charakter.)
Insgesamt ist einzuschätzen, dass sich die Propagierung der Ziele und Absichten des »Neuen Forums« sowie die Sammlung von Unterschriften nicht auf feindliche, oppositionelle Kräfte aus den hinlänglich bekannten personellen Zusammenschlüssen beschränkt, sondern alle Möglichkeiten genutzt werden, auch bisher nicht mit politisch negativen Verhaltensweisen in Erscheinung getretene Personen zu beeinflussen und zu aktiven Handlungen im Sinne des »Neuen Forums« zu initiieren. Andererseits liegen zahlreiche Hinweise darüber vor, dass Bürger unterschiedlichster Bevölkerungskreise, darunter freiberuflich Tätige, Kulturschaffende und Angehörige der Intelligenz, Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« aus eigener Initiative ihre Zustimmung mitteilten, verbunden mit der Ankündigung, zu einem späteren Zeitpunkt den Gründungsaufruf unterzeichnen zu wollen.
Aktivitäten zur Bildung des »Neuen Forums« werden durch eine größere Anzahl von kirchlichen Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR und im kirchlichen Dienst stehenden Personen unterstützt, auch durch solche, die bisher loyale Positionen gegenüber dem Staat eingenommen haben. Nach bisher vorliegenden Hinweisen sind auch die evangelischen Bischöfe nicht gewillt, gegen das Tätigwerden des »Neuen Forums« aufzutreten.
In Reaktionen der Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« auf die Ablehnung ihres Antrages durch den Minister des Innern der DDR wird ihr Nichteinverständnis mit dieser Entscheidung und ihre Absicht deutlich, ihre Vorhaben auch weiterhin zu verwirklichen. So kündigten die Bohley und Prof. Reich die Absicht einer gerichtlichen Nachprüfung dieser Entscheidung an. Mit dem Ziel der Druckausübung auf staatliche Organe – auch bezogen auf das Ergebnis der gerichtlichen Nachprüfung – wolle man verstärkt mit westlichen Medien zusammenwirken. Gleichzeitig werde darauf orientiert, bis zur »Zulassung« des »Neuen Forums« im Rahmen der Gesetze der DDR zu agieren.
Dem MfS liegen Hinweise darüber vor, dass die Teilnehmer eines vom 22. bis 24. September 1989 in Erfurt stattgefundenen »Ökumenischen Luftseminars kirchlicher Umweltgruppen« eine Protestresolution an das MdI verabschiedet haben sollen, in der die Zulassung des »Neuen Forums« gefordert wird.14
Im Zusammenhang mit der umfangreichen Kampagne westlicher Medien um die Schaffung des »Neuen Forums« und zur Entscheidung des Ministers des Innern kam es darüber hinaus im Zeitraum vom 18. bis 24. September 1989 zu insgesamt 16 Vorkommnissen des Anbringens von Losungen und des Verbreitens von Hetzzetteln mit direkter Bezugnahme auf das »Neue Forum«.
Sie beinhalteten im Wesentlichen eine »Solidarisierung« mit dem »Neuen Forum«, teilweise verbunden mit Forderungen nach Durchführung von Reformen in der DDR sowie nach Aufhebung des Verbots und nach Anerkennung als »legale politische Kraft«.
Einige zur Verbreitung gelangte Hetzzettel waren Abschriften des »Gründungsaufrufes« des »Neuen Forums«.
Den territorialen Schwerpunkt bildet der Bezirk Karl-Marx-Stadt mit acht Vorkommnissen dieser Art.
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