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Aspekte zur Formierung des »Neuen Forums«

5. Oktober 1989
Information Nr. 440/89 über weitere beachtenswerte Aspekte im Zusammenhang mit der Formierung der oppositionellen Sammlungsbewegung »Neues Forum«

Wie bereits in der Information des MfS Nr. 434/89 vom 2. Oktober 1989 hingewiesen, konzentrieren sich gegenwärtig die Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums«1 auf die Erarbeitung und Diskussion eines sogenannten Problemkatalogs für gesellschaftliche Veränderungen in der DDR.2

Zu diesem Zweck trafen sich nach streng internen Hinweisen in der Hauptstadt der DDR, Berlin, Führungskräfte des »Neuen Forums«, darunter Bärbel Bohley,3 der ehemalige Rechtsanwalt Henrich4 und der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Pflugbeil.5 Während dieser Zusammenkunft wurde ein bereits vorliegendes Positionspapier verlesen, beraten und geändert, wobei insbesondere auf eine stärkere Ausprägung des Forderungscharakters orientiert wurde.

Nach weiter vorliegenden Hinweisen wurde ein derartiger »Problemkatalog« des »Neuen Forums«, bei dem es sich offensichtlich um ein Entwurfspapier handelt, bereits am 2. Oktober 1989 während einer Zusammenkunft von über 300 Jugendlichen in der Paulskirche in Schwerin verbreitet, und es wurden dazu Diskussionen geführt. Der genannte »Problemkatalog« (Text als Anlage) beinhaltet die Fragen- und Problemkomplexe »Wirtschaft und Ökologie«, »Kultur- und Geistesleben« sowie »Rechts- und Staatsfragen«.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

Anlage zur Information Nr. 440/89

[Abschrift vom »Problemkatalog« des »Neuen Forums«]

»Problemkatalog«

Wir können Probleme nennen und Themen vorschlagen, aber noch keine Rezepte und Programme anbieten. Diese folgende Aufzählung ist unvollständig, mag auch nicht ausgewogen sein, aber sie soll Problemfelder benennen, zu denen ein Dialog in der Öffentlichkeit, aber auch unter Offenlegung von Daten, nötig ist.

Wirtschaft und Ökologie

Wir sind unzufrieden darüber, dass unsere Wirtschaft an vielen Stellen schlecht funktioniert. Deshalb droht unser berufliches Engagement mehr und mehr zu erlahmen. Natürlich verstärken sich diese beiden Aspekte gegenseitig.

Die Untauglichkeit der wirtschaftlichen Steuerungsmechanismen hat in der UdSSR und in anderen sozialistischen Ländern in eine schwere Krise geführt. Hoffnungsvoll stimmt jedoch, dass diese Krise dort öffentlich analysiert wird.

Noch scheint unsere Wirtschaftssituation günstiger dank äußerer Umstände und vielleicht geringeren Ausmaßes an Misswirtschaft, trotzdem stimmen der im Vergleich zu hochentwickelten Industriestaaten vorhandene Rückstand in der Arbeitsproduktivität, die charakteristische Überalterung der Produktionsmittel, der Mangel an Waren des Grundbedarfs und die Schwierigkeiten der DDR, auf dem Weltmarkt Fuß zu fassen, bedenklich. Strategische Veränderungen in der Wirtschaftsführung, deren Grundelemente zweifelslos umstritten sind und eine rationale Abwägung erfordern, können nur von Regierung, Fachleuten und der Bevölkerung gemeinsam herbeigeführt werden.

Zur Diskussion stehen u. a. die folgenden Fragen:

  • Welche Ziele wollen wir mit unserer Wirtschaft verfolgen und welche Werte sind uns dabei wichtig? Welche Prioritäten für die Entwicklung unseres Wirtschaftspotenzials leiten sich daraus ab?

  • Wie kann eine breitere gesellschaftliche Mitentscheidung von Grundsatzbeschlüssen (z. B. Energiepolitik, Großinvestitionen) einschließlich ihrer sozialen Auswirkungen (etwa Schichtarbeiten und Arbeitszeit), ökologische Folgen (z. B. Waldsterben) und Risiken (z. B. KKW-Unfälle) verwirklicht werden?

  • Welche Differenzierungen von Eigentums- und Steuerungsformen können persönliche Initiative und Verantwortungsbewusstsein anregen?

  • Genügen die vorhandenen Formen der Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung unseren Erwartungen? Welche Bereiche des FDGB sind Errungenschaften und welche Bereiche sind zu überdenken? Brauchen wir Streikrecht?

  • Wie können die wirtschaftlichen Steuermechanismen verbessert und die Plan/Markt-Wirkungen geschickter eingesetzt werden?

  • Wie können Reformen der Preis- und Subventionspolitik so gestaltet werden, dass Verschwendungen reduziert werden, ohne jedoch soziale Härten zu erzeugen?

  • Wie kann überflüssige und hinderliche Bürokratie im Produktions- und Beurteilungsprozess verringert werden?

  • Welche Möglichkeiten eröffneten die Fortschritte der Entspannungspolitik und die weitere Verwirklichung der Menschenrechte zur Verringerung des Verteidigungs- und Grenzsicherungsaufwandes?

  • Die Umweltbelastung (Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung) hat bedrohliche Formen für unsere Kinder, die benachbarten Staaten und für uns selbst angenommen.

  • Welche Wege können wir in der Energiepolitik beschreiten, die zu einer drastischen Senkung des spezifischen und des individuellen Energieverbrauchs führen (Normen, gezielte Subventionen)?

  • Wie können wir erreichen, dass ernsthaft nach Alternativen zu der problemreichen Kombination Braunkohle/Kernenergie gesucht wird?

  • Wie kann der zunehmenden Entfremdung zwischen Mensch und Natur auf dem Land entgegengewirkt werden? Können wir umweltfreundlichere Betriebsgrößen und Produktionsverfahren in der Landwirtschaft einführen?

  • Wie kann die Leistungsfähigkeit und Attraktivität des Güter- und Personenverkehrs verbessert werden? Können wir Lehren aus den Schwierigkeiten ziehen, die der autoorientierte Individualverkehr in vielen westlichen Staaten bereitet?

  • Wie können wir die Bevölkerung über den Umfang und die Konsequenzen der verschiedenen Umweltbelastungen sachlich informieren? Wie weit sind wir bereit, Einschränkungen unserer Konsumgewohnheiten zugunsten der kommenden Generation und einer intakten Umwelt mitzutragen?

Kultur- und Geistesleben

Notwendig ist die schrittweise Verselbstständigung des Kultur- und Geisteslebens, einschließlich des Erziehungs- und Bildungssystems, der Wissenschaft, der Presse und des Publikationswesens aus staatlicher Verwaltung.

Diese Bereiche gehen jeden Bürger unmittelbar an und sollten einer öffentlichen und kritischen Diskussion zugänglich sein.

Voraussetzungen dafür sind:

  • Abschaffung der Zensur (Genehmigungswesen von Publikationen);

  • unabhängige Druck- und Vervielfältigungsmöglichkeiten;

  • öffentliche Kontrolle und Verantwortung der Rundfunk- und Fernsehpolitik;

  • Veränderung der Kaderauswahlprinzipien in Erziehung und Wissenschaft;

  • Zulassung autonomer, kultureller Einrichtungen (z. B. Theater, Studios, Galerien, Versammlungsräume);

  • Wie können wir beitragen, dass die weißen Flecken und Entstellungen in der Geschichtsschreibung der vergangenen 50 Jahre aufgearbeitet und korrigiert werden? Welche unterschiedlichen Möglichkeiten könnten für die Schüler und die erwachsene Bevölkerung geschaffen werden, um das neue Geschichtsbild qualifiziert und schnell zu vermitteln?

Rechts- und Staatsfragen

Der Staat ist in letzter Instanz um der Menschen willen da, er darf nichts weiter sein als ein Zusammenschluss von Menschen unter Rechtsgesetzen.

Aus dieser Sicht stellen sich mehrere Probleme, die öffentlich zu behandeln wären:

  • Wie kann garantiert werden, dass es für keine Gruppe der Gesellschaft von Nachteil ist, wenn sie die Meinungs- und Versammlungs- sowie Vereinigungsfreiheit (Art. 27, 28 und 29 der Verfassung)6 praktisch in Anspruch nimmt?

  • Wie kann sichergestellt werden, dass kein Staatsorgan und keine Partei die Unabhängigkeit der Rechtspflege durch Einflussnahme auf die Auswahl und die Entscheidungen der Rechtsanwälte und Richter gefährden kann?

  • Welche Probleme sind auf dem Weg zur Gewährleistung von Freizügigkeit, einschließlich des Rechts für einen jeden Bürger, sein Land zu verlassen und in dieses zurückzukehren, zu überwinden?

  • Wie können wir erreichen, dass das Strafgesetzbuch überarbeitet wird? Wie können wir ausschließen, dass insbesondere die §§ 96–100 (Landesverrat), 106 (Staatsfeindliche Hetze), 107 (Verfassungsfeindlicher Zusammenschluss), 212 (Widerstand gegen staatliche Maßnahmen) und 214 (Beeinträchtigung staatlicher Maßnahmen) dazu missbraucht werden können, oppositionelles Handeln im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu unterbinden?7

  • Wie sollte die rechtliche Möglichkeit der Überprüfung aller Verwaltungsentscheidungen durch Gerichte auf ihre Übereinstimmung mit dem geltenden Recht aussehen? Wie könnte ein durchsichtiges und kontrollierbares Wahlverfahren für alle Ebenen des Staatsaufbaus aussehen?

  • Wie sollten Aufgaben und Kompetenzen der Sicherheitsorgane (insbesondere des MfS und seiner Gliederungen) festgelegt werden und wie könnte ihre Einhaltung durch die Gesellschaft kontrolliert werden?

    Wären gesetzliche Regelungen wünschenswert, die es dem MfS unmöglich machen, sich in die innenpolitischen Auseinandersetzungen einzumischen?

  1. Zum nächsten Dokument Besetzung der westdeutschen Botschaft in Prag

    5. Oktober 1989
    Information Nr. 441/89 über die Realisierung von Maßnahmen zur Ausweisung der Personen, die sich widerrechtlich in der Botschaft der BRD in Prag aufhielten am 4./5. Oktober 1989

  2. Zum vorherigen Dokument Eindringen von DDR-Bürgern in US-Botschaft in DDR

    5. Oktober 1989
    Information Nr. 439/89 über das Eindringen von DDR-Bürgern in die Botschaft der USA in der Hauptstadt der DDR, Berlin