Außerordentliche Tagung der KKL
7. November 1989
Information Nr. 497/89 über die außerordentliche Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) am 1. November 1989 in Berlin
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen trat am 1. November 1989, 14.00 Uhr, im Gebäude des Sekretariates des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR die KKL zu einer außerordentlichen Tagung zusammen.
An der Tagung der KKL nahmen alle Bischöfe, die Leiter der kirchlichen Verwaltungseinrichtungen und die synodalen Mitglieder der Konferenz teil.
Auf der außerordentlichen Tagung wurden u. a. behandelt
- 1.
Bericht des Vorstandes der KKL über das Gespräch des Genossen Krenz1 mit Landesbischof Leich2 und weiteren kirchlichen Vertretern am 19. Oktober 1989,3
- 2.
Berichte aus den Landeskirchen sowie
- 3.
Diskussionen und Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation in der DDR.
Die Durchführung dieser außerordentlichen Tagung war beschlossen worden, um alle KKL-Mitglieder über das Gespräch des Genossen Krenz mit Landesbischof Leich zu informieren und sich unmittelbar vor der Durchführung der Synodaltagungen von vier evangelischen Landeskirchen (Thüringen, Greifswald, Kirchenprovinz Sachsen, Anhalt – alle im Zeitraum 2.–5.11.1989) über die aktuell-politische Situation in der DDR zu verständigen.
Im Auftrag des Vorstandes der KKL erstattete Landesbischof Leich (Eisenach) den Bericht über das Gespräch des Genossen Krenz mit Landesbischof Leich und weiteren Mitgliedern des Vorstandes der Konferenz (Bischof Demke4 (Magdeburg), Konsistorialpräsident Stolpe5 (Berlin), Oberkirchenrat Ziegler6 (Berlin)).
Landesbischof Leich hat nochmals den nach seiner persönlichen Einschätzung sehr guten Verlauf des Gespräches und die Einschätzung des Vorstandes hervorgehoben, dass die Durchführung dieser Unterredung als Zeichen dafür zu sehen sei, dass Staat und Parteiführung gewillt seien, Veränderungen vorzunehmen.
Innerhalb des Tagesordnungspunktes »Berichte aus den Landeskirchen« wurden durch die Teilnehmer aus allen Landeskirchen Berichte über stattgefundene Demonstrationen, Großveranstaltungen und Gespräche mit der Parteiführung auf den Bezirksebenen gegeben.
Unter Bezugnahme auf diese Gespräche seien jedoch die unterschiedlichsten Erfahrungen festgestellt worden. So wurde z. B. durch Kirchenpräsident Natho7 (Dessau) und Bischof Demke (Magdeburg) dargelegt, dass in ihren Landeskirchen Negativerfahrungen insbesondere in den Bezirken Halle und Erfurt gemacht wurden. Dort würde seitens der 1. Sekretäre der Bezirksleitungen, Genossen Müller8 und Genossen Böhme,9 weiter an »alten Klischees« festgehalten, und es seien keine Veränderungen festzustellen. Demgegenüber gebe es in den Bezirken Dresden, Magdeburg, Leipzig, Berlin konstruktive und offene Gespräche, wo bereits spürbare Veränderungen im Verhalten des Partei- und Staatsapparates zu sehen seien.10
In der Diskussion zur »Einschätzung der aktuellen politischen Situation« in der DDR wurde zum Ausdruck gebracht, man habe den Eindruck, dass die Demonstrationen, Podiumsveranstaltungen usw. sich bereits soweit entwickelt hätten, dass sich die Kirche hier zurückziehen könne und müsse und der Staat selbst die Verantwortung übernehmen müsse.
Kontroversen Verlauf nahm die Diskussion während der Tagung zur Problematik »Sachgespräche«11 mit dem Staat. In den gemachten Angeboten für die zu führenden Sachgespräche seien die Anforderungen der Kirche durch den Staat nicht in vollem Umfang aufgenommen worden.
Zu den bereits terminlich vereinbarten Gesprächen am 6. November 1989 (Minister für Gesundheitswesen mit der Diakonie) und am 15. November 1989 (mit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften) wurde bemängelt, dass das Ministerium für Volksbildung nicht einbezogen worden sei und dass die Problematik »Ziviler Wehrersatzdienst«12 ohne das Ministerium für Nationale Verteidigung lediglich im Gespräch mit dem Minister für Gesundheitswesen abgehandelt werden solle.
Durch den Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Oberkirchenrat Petzold13 (Berlin), wurde in Ergänzung zum Gespräch am 6. November 1989 mitgeteilt, dass der Minister für Gesundheitswesen ihm zur Zielstellung des Gespräches gesagt habe, er wolle »Nägel mit Köpfen machen«. Teilnehmen werden staatlicherseits Experten aus dem Ministerium für Gesundheitswesen und aus dem Staatssekretariat für Kirchenfragen. Petzold teilte mit, dass er gleichfalls ein Arbeitsteam zum Gespräch mitnehmen werde (Direktoren und Oberinnen der kirchlichen Krankenhäuser), um gleich verbindliche Ergebnisse festmachen zu können.
Während der weiteren Diskussion sei auch deutlich bemängelt worden, dass die KSZE-Problematik und Fragen der Mündigkeit des Bürgers für die zu führenden Sachgespräche überhaupt nicht erwähnt werden.14
Im Ergebnis dieser Diskussion wurde in einer Abstimmung darüber entschieden, ob aufgrund der dargestellten Sachlage die Gesprächsangebote durch die Kirche überhaupt wahrgenommen werden sollten.
Pfarrer Passauer15 (Berlin) und Landesbischof Stier16 (Schwerin) plädierten dafür, die Gespräche nicht wahrzunehmen. Jetzt sei die Chance da, den Staat generell zu ändern. Die Kräfte dafür seien jetzt vorhanden.
Gespräche mit dem Staat und mit Genossen Krenz bedeuteten nur eine Stärkung des Staates.
Mit einer knappen Mehrheit entschied sich die KKL dafür, die Gesprächsführung fortzusetzen, um Zeichen zu setzen.
Die Gemeinden würden eine Ablehnung nicht verstehen und nur solange man im Dialog sei, könne man auch verändern. Mit der Gesprächsführung müsse jedoch die Forderung nach weiteren Gesprächen verbunden werden.
Über den Teilnehmerkreis für das Gespräch am 15. November 1989 werde erst auf der nächsten planmäßigen Tagung der KKL (10.11./11.11.1989) in Berlin entschieden.
Als staatlicherseits und durch die SED zu ziehende Schlussfolgerungen wurden durch die KKL »Markierungspunkte« genannt, an denen zukünftig die Glaubwürdigkeit des Staates und der Partei gegenüber der Bevölkerung zu messen sei:
1. Restlose und öffentliche Aufklärung der Übergriffe in den Haftanstalten während der Vernehmungen. Die Vorgänge während der Auseinandersetzungen auf der Straße stünden nicht mehr zur Debatte. Hier habe es Übergriffe auf beiden Seiten gegeben.
2. Ziehen weiterer personeller Konsequenzen auf allen Ebenen in Partei, Staat und Gewerkschaft, wenn man Reformen wirklich durchsetzen wolle. Erwartet würden der Rücktritt bzw. die Entbindung von der Funktion als Politbüromitglied und von der jeweiligen staatlichen Verantwortung des Genossen Jarowinsky,17 Hager,18 Axen,19 Stoph,20 Mückenberger21 und Mielke22 sowie der Minister für Kultur, Volksbildung, Bauwesen und Handel und Versorgung. Insbesondere zu Genossen Jarowinsky wurde hervorgehoben, dass er als verantwortliches Politbüromitglied für Kirchenfragen Schuld an der Verschlechterung des Verhältnisses Staat – Kirche in der DDR trage und die Durchführung der Sachgespräche lange Zeit blockiert habe. Durch Bischof Demke wurde in diesem Zusammenhang auf sein Gespräch mit Genossen Jarowinsky am Rande des Gespräches am 19. Oktober 1989 mit dem Genossen Krenz zur Problematik der Rede des Genossen Krenz im Fernsehen hingewiesen.23 Genosse Jarowinsky habe ihm auf seine Aussage hin bestätigt, dass die Rede des Genossen Krenz bei großen Bevölkerungsschichten mehr Enttäuschung als Hoffnung hervorgerufen hätte. Weiter habe ihm Genosse Jarowinsky gesagt, dass man »auch im ZK nicht ganz glücklich über diese Rede« gewesen sei.
3. Durchführung dringend notwendiger ökonomischer Reformen. Hier sei es notwendig, den Staat zu unterstützen, auch wenn es am Anfang ein schmerzhafter Prozess sei, der sich doch letztlich für die gesamte Bevölkerung positiv auswirken werde. Genannt wurde hier der differenzierte Abbau unnötiger Subventionen (Mieten, Energie, Nahverkehrstarife, Lebensmittel – Brot, Wasser etc.), die Durchsetzung des Leistungsprinzips, die Einsetzung von Experten in Leitungsfunktionen unabhängig von Parteizugehörigkeit und politischer Einstellung sowie ein verbessertes Ersatzteilangebot.
4. Freie Wahl der Staatsmacht.
Man erwarte hier, dass die Bürger der DDR 1991 frei wählen könnten, praktische Schlussfolgerungen aus den Kommunalwahlen 198924 gezogen werden und Wahlen nach Parteien und nicht nach Personen erfolgten.25
Zu der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin erfolgte während der Beratung der Konferenz keine Debatte.26
Das Gespräch des Genossen Jarowinsky mit Landesbischof Leich und Oberkirchenrat Ziegler am 1. November 1989 vor der KKL Tagung wurde während der Tagung der Konferenz nicht ausgewertet.
An einem internen Gespräch im kleinen Kreis am Rande der Tagung der KKL wurden streng vertrauliche Äußerungen von Bischof Demke (Stellvertretender Vorsitzender der KKL) zur gegenwärtigen Situation bekannt. Seiner Auffassung nach sei zwar einiges in der politischen Landschaft der DDR nach der ZK-Tagung vom 18. Oktober 1989 in Gang gekommen,27 der Durchbruch für einen konstruktiven, sachlichen Dialog, der auch den Meinungsstreit beinhalte, sei jedoch noch nicht erreicht. Gerade an den Demonstrationen merke man das. Auch die Versuche von Podiumsgesprächen mit dem Charakter einer Großveranstaltung seien ungewiss in ihrer Wirkung. Sie seien ein Zwischenschritt, aber keine Lösung. Nach seiner Auffassung sei es notwendig, eine Entwicklung der Demonstrationen zu einer Dauer-Institution zu verhindern, da eine solche Entwicklung für die DDR gefährlich sei. Mit der Organisation von Gegendemonstrationen bzw. dem Entsenden von Mitgliedern der SED, um »unterwegs« alle Fragen zu diskutieren, würden die Argumentation bzw. der Dialog jedoch auch bloß auf die Ebene der Straße verlagert, und »unterwegs« könne man auch nicht alle Fragen diskutieren. Die Straße halte er zwar nicht für den geeigneten Ort, um den Dialog zu führen, trotzdem könnten »Demonstrationen einen sinnvollen Schub für den Dialog bringen«.
Solange wie »Demonstrationen zur politischen Kultur der DDR« gehörten, sei es also wichtig, keine Staus entstehen zu lassen, aus denen unkontrollierbare Bewegungen hervorgehen könnten, bzw. da das »Laufen entspanne«, diese Demonstrationen nicht zu kurz zu machen.
In Magdeburg sei mittlerweile ein »halblegaler Status« der Demonstrationen entstanden. Die Dompfarrer gingen mittlerweile vor den Montagsveranstaltungen im Dom zum Staatsapparat und stimmten dort ab, wo die zu erwartende Demonstration entlang geführt werden solle. Letztendlich sei also nötig, staatlicherseits die Demonstrationen zu genehmigen, Veranstalter festzumachen und diese in die Pflicht für die Durchführung und Absicherung zu nehmen.
Zur Bewältigung der Situation sehe Demke die Notwendigkeit, neue Vereinigungen entstehen und wirken zu lassen. Eine Möglichkeit sei dafür die Gründung von »Politischen Klubs«, wo es zum Programm gehöre, dass sich ganz unterschiedliche Leute darstellten. Gegründet werden müssten diese »Klubs« durch Mitglieder der SED gemeinsam mit Leuten aus den Gruppierungen.
Sicher seien auch hier am Anfang große Säle nicht zu vermeiden, aber hauptsächlich müsste sich die Arbeit in die Richtung »Politische Klubs in kleiner Form« entwickeln.
Es sei auch notwendig, so Demke weiter, im DDR-Fernsehen eine Art »DDR-Talk-Show« zu machen. Dabei gehe es nicht darum, Übereinstimmungen der Gesprächspartner vorzuführen, sondern darum, sachlich von konträren Positionen aus zu streiten. Dabei könne nicht das gesamte Spektrum an Fragen erörtert werden, sondern immer nur ein begrenzter Themenkomplex und immer wieder mit dem Verweis darauf, was als nächstes und übernächstes behandelt werde. Eines der ersten Themen dabei müsste die »Führungsrolle der Partei« sein. Je eher diese Führungsrolle diskutiert werde, würde der Eindruck vermieden, dass auch die Behandlung dieses Themas als Zugeständnis abgerungen werden musste.
Aufgabe der Kirche sei es, die gegenwärtigen Veranstaltungen in den Kirchen nicht zu »vergeistlichen«, um sie nicht als Bestandteil kirchlichen Lebens zu integrieren, sondern davon deutlich zu unterscheiden. Das, was nicht zur Kirche gehöre, zeige sich schon im Drang auf die Straße zu gehen. Man gewinne jedoch den Eindruck, dass Zugeständnisse und »Öffnung« immer nur stückchenweise und aufgrund von »Druck und Bewegung« erreicht würden. Das verführe gerade zu der Haltung, »lasst uns weiterdrücken«, und Partei und Staat geraten in den Verdacht, es mit der »Wende« nicht ehrlich zu meinen.
Unter Bezugnahme auf den ihm durch die Evangelische Landeskirche Berlin-Brandenburg bekannt gemachten Brief vom 23. Oktober 1989 von Bischof Forck28 an Genossen Krenz zum »Eingreifen der Sicherheitskräfte« erklärte er, dass er im Gegensatz zu Bischof Forck die Auffassung habe, dass eine Eskalation durch den Staatssicherheitsdienst keine politische Logik hätte.29 Die Frage sei also so zu stellen, wo die undurchsichtigen Stellen, wo die Quellen von Unruhen und Misstrauen seien, die die Dinger immer wieder verkomplizieren und verschärften.
Nach Einschätzung von Demke betreffe das die Partei selbst. So beinhalte beispielsweise die parteiinterne Information Nr. 261 über das »Neue Forum« ganz anderes,30 als momentan von leitenden Funktionären der SED gesprochen werde. In der Parteiinformation spreche man beim »Neuen Forum« von Staatsfeinden, andererseits rede man aber jetzt mit Staatsfeinden. So etwas untergrabe das Vertrauen.
Als weitere Beispiele führte Demke an, dass bei der Bereitschaftspolizei offiziell ausgewertet wurde, dass Genosse Eberlein31 bereit gewesen sei, zum Montagsgebet in den Dom zu kommen. Die Domgemeinde habe das aber abgelehnt, weil seine Sicherheit nicht gewährleistet wäre. Das zeige, so habe man den Bereitschaftspolizisten gegenüber argumentiert, das wahre Bild der Dialogbereitschaft dieser Leute. In Wirklichkeit habe Genosse Eberlein als Antwort gegeben, dass sein Auftreten im Dom nicht der Trennung Staat – Kirche in der DDR entsprechen würde. Verbreitet wurde aber etwas ganz anderes.
Im Bezirk Halle sei durch eine Kreisschulrätin verbreitet worden, dass es Morddrohungen durch Pfarrer Schorlemmer32 (Wittenberg) gegenüber dem Bezirkssekretär der Partei gegeben habe. Dies sei über die Lehrer dann an die Schüler verbreitet worden. Daraufhin habe er allerdings auch einen Brief an den 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle der SED, Genossen Böhme,33 geschrieben. Letztendlich habe sich herausgestellt, dass die Nachrichten, aus denen die Kreisschulrätin ihr Wissen bezogen habe, Informationen der Abteilung Agitation und Propaganda gewesen seien. Vielfach seien die Kreisebenen der Partei verantwortlich für viele solcher und ähnlicher Informationen, die im Endeffekt immer dem Staatssicherheitsdienst zugeschoben würden. Die Konsequenz aus all diesen Dingen sei jedoch, dass man sagen müsse, man kann der Partei nicht trauen.
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