Beeinträchtigung der Ordnung an der Staatsgrenze
30. November 1989
Information Nr. 516/89 über die Ordnung und Gesetzlichkeit an der Staatsgrenze beeinträchtigende Erscheinungen durch fortwährende Forderungen zur Schaffung weiterer Grenzübergangsstellen an der Staatsgrenze der DDR zur BRD
Im Zusammenhang mit den durch die Regierung der DDR am 9. November 1989 getroffenen Regelungen zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR nach dem Ausland unternehmen die Grenztruppen der DDR sowie die Pass- und Zollkontrollorgane große Anstrengungen, um unter widrigen Witterungs- und erschwerten Arbeitsbedingungen den millionenfachen Reisestrom fließend zu gestalten und an den Grenzübergangsstellen der DDR eine schnelle und zügige Abfertigung zu gewährleisten.1
Ausgehend von den sich aus der Lageentwicklung ergebenden Erfordernissen wurden bis einschließlich 26. November 1989 an der Staatsgrenze der DDR zur BRD 42 Grenzübergangsstellen und an der Staatsgrenze zu Berlin (West) acht Grenzübergangsstellen neu eröffnet sowie weitere drei bereits vorhandene Grenzübergangsstellen hinsichtlich der Zulassungsbedingungen für den Personenverkehr erweitert.
Damit bestehen gegenwärtig an der Staatsgrenze der DDR zur BRD 62 Grenzübergangsstellen (an der Staatsgrenze zu Berlin-West 33 Grenzübergangsstellen), d. h. auf ca. 20 km Länge der Staatsgrenze der DDR zur BRD entfällt eine Grenzübergangsstelle.
Über diese Grenzübergangsstellen reisten seit dem 9. November 1989 insgesamt 34,3 Millionen DDR-Bürger, davon 18 Millionen in der Ausreise und 16,3 Millionen in der Wiedereinreise.
Obwohl einzuschätzen ist, dass sowohl an der Staatsgrenze der DDR zur BRD als auch zu Berlin (West) insgesamt angemessene Voraussetzungen für den grenzüberschreitenden Verkehr geschaffen wurden – an deren Vervollkommnung ebenso wie an dem Abbau von Staubildungen und Wartezeiten intensiv gearbeitet wird – häufen sich in den letzten Tagen erneut Erscheinungen, dass ungeachtet der relativ großen Zahl bestehender Grenzübergangsstellen insbesondere durch die Bevölkerung von Grenzgemeinden der DDR – sowie überwiegend auch mit demonstrativer Unterstützung durch Personenansammlung im Grenzvorfeld der BRD massive Forderungen zur Schaffung weiterer Grenzübergangsstellen erhoben werden. Dieses Vorgehen wird u. a. auch dadurch gefördert, dass über die Massenmedien der BRD permanent Meldungen über angeblich bevorstehende Eröffnungen neuer Grenzübergangsstellen verbreitet werden.
Festzustellen ist auch, dass den Bestrebungen zur Schaffung weiterer Grenzübergangsstellen häufig durch die örtlichen Staatsorgane nicht mit der nötigen Konsequenz entgegengetreten, teilweise solche Aktivitäten sogar durch Initiativen von Bürgermeistern und Volksvertretern maßgeblich beeinflusst bzw. gefördert werden.
Das führte u. a. dazu, dass die Grenztruppen der DDR unter dem Druck von öffentlichkeitswirksamen Demonstrativhandlungen regelrecht gezwungen werden, völlig unvorbereitet weitere »Grenzübergangsstellen« zu eröffnen (wozu keinerlei Voraussetzungen für eine auch nur annähernd normale Kontrolle und Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs gegeben sind), ohne dass dazu ein entsprechender Beschluss des Ministerrates der DDR vorliegt.
Derartige Situationen des massiven Drucks von Teilen der Grenzbevölkerung zur Eröffnung weiterer Grenzübergangsstellen, maßgeblich initiiert, gefördert und organisiert durch Vertreter örtlicher staatlicher Organe, entstanden beispielsweise am 25. November 1989 in
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Neu Bleckede (Elbe), getragen vom Bürgermeister der Gemeinde Teldau, Gaede2 (SED),
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Darchau (Elbe), durch Initiative des Bürgermeisters von Neuhaus, Lehmkuhl3 (CDU) und
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Oebisfelde, durch Initiative des Bürgermeisters Wetterling4 (SED) und des Direktors des Straßen- und Tiefbaukombinates Magdeburg, den Volkskammerabgeordneten Kuhnert5 (LDPD).
Eigenständige Aktivitäten zur Aufnahme einer grenzüberquerenden Fährverbindung von Lenzen, Kreis Hagenow, über die Elbe an das BRD-Ufer ab dem 2. Dezember 1989 entwickelte der Bürgermeister der Stadt Lenzen, Voß6 (SED), der zu diesem Zweck bereits mehrfache Absprachen mit den Bürgermeistern der gegenüberliegenden BRD-Gemeinden Höbeck, Peversdorf, Gartow und Lüchow geführt hatte.
Auf den Hinweis der Grenztruppen, dass – unter Bezugnahme auf ein Fernschreiben des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR vom 24. November 19897 sowie in Übereinstimmung mit dem Ministerium für Verkehrswesen – ein derartiger Fährbetrieb am 2. Dezember 1989 nicht aufgenommen werden kann, reagierte Genosse Voß sofort mit Protest und erneuerte die Forderung, um – wie er sich am 29. November 1989 in einer Beratung äußerte – ein Chaos zu verhindern. Er habe bereits mit Vertretern des Neuen Forums8 und der Gruppe Demokratie Jetzt9 Gespräche geführt, denen zufolge am 2. Dezember 1989 mit einem Ansturm von 2 000 bis 3 000 Personen zu rechnen sei.
Voß, der durch sein Handeln und Verhalten sowohl die Entscheidungen des Ministerrates der DDR, des Rates des Bezirkes Schwerin und des Rates des Kreises ignorierte, begab sich nach dieser Beratung demonstrativ in die BRD und »forderte« von einem BRD-Motorschiff aus von den Grenztruppen das Anlegen eines BRD-Pontons am DDR-Ufer als Anlegestelle für Fährschiffe zu gestatten. Das beabsichtigte Anlegemanöver konnte durch Einsatz von Grenzsicherungsbooten unterbunden werden.
Hinsichtlich der massiven Forderungen aus der Bevölkerung zur Einrichtung einer Fährverbindung von Dömitz über die Elbe nach Damnatz (BRD) ist festzustellen, dass gegenwärtig eine Unterschriftensammlung zur Abberufung des Bürgermeisters von Dömitz, Rudolf, Torsten10 durchgeführt wird, da dieser in der Vergangenheit bezüglich der Schaffung einer derartigen Grenzübergangsstelle Zurückhaltung geübt hatte. (In Übereinstimmung mit den Grenztruppen der DDR wird eingeschätzt, dass zumindest die zeitweilige Einrichtung von Grenzübergangsstellen in Dömitz und Lenzen für den Fährverkehr an den Wochenenden nicht zu verhindern sein wird.)
Zu welchen Gefährdungssituationen und Beeinträchtigungen der staatlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung an der Staatsgrenze derartige demonstrative Forderungen führen können, zeigte sich u. a. am 27. November 1989, als sich in den Abendstunden ca. 1 200 Personen an der Staatsgrenze im Kreis Bad Salzungen, Bezirk Suhl – ehemalige Ortsverbindungsstraße Andenhausen-Theobaldshof (BRD) – versammelten, die Eröffnung einer Grenzübergangsstelle forderten und versuchten, ein Tor des Grenzsignal- und -sperrzaunes II zu durchbrechen. Aufgrund des massiven demonstrativen Drucks und zur Verhinderung von Schäden erfolgte durch Angehörige der Grenztruppen der DDR die Öffnung des Grenztores. Danach durchbrachen ca. 300 bis 500 Personen den Grenzzaun I, infolgedessen es zu »Verbrüderungsszenen« mit ca. 70 Bürgern der BRD, darunter Angehörigen der Grenzüberwachungsorgane, kam.
Am gleichen Tag, gegen 18.10 Uhr, begaben sich in Lehesten, Kreis Lobenstein, Bezirk Gera, ca. 500 Personen in Richtung Staatsgrenze, befestigten mehrere Fackeln und Kerzen am Grenzzaun, in deren Folge es zu Signalauslösungen sowie zur Beschädigung von mehreren Isolatoren kam.
Auf BRD-Seite befanden sich ca. 150 Personen, unter ihnen der Bürgermeister von Ludwigsstadt, der in einer Ansprache verkündete, dass im April 1990 eine Grenzübergangsstelle für Nkw, Pkw und Fußgänger bei Lehesten in Absprache mit der DDR – eine Zustimmung läge bereits vor – eröffnet würde.
Zu einem weiteren Versuch der gewaltsamen Erzwingung der Schaffung einer neuen Grenzübergangsstelle kam es am 30. November 1989 in Großensee, Kreis Eisenach, Bezirk Erfurt.
Gegen 18.30 Uhr demonstrierten ca. 100 DDR-Bürger im Grenzabschnitt Großensee bis an den Grenzsignal- und -sperrzaun II, drückten gewaltsam ein Gassentor auf und drangen in den Handlungsraum der Grenztruppen der DDR ein. In der weiteren Folge entzündeten die Demonstranten 30 Meter Plastverkleidung des Grenzsignal- und -sperrzaunes, rissen Signaldrähte ab und forderten demonstrativ die Öffnung eines Grenzüberganges.
Gegen 19.45 Uhr verließen die Demonstranten, unter ihnen der Bürgermeister von Großensee, den Ereignisort. Auf BRD-Seite befanden sich ca. 80 Personen, darunter mehrere Rundfunk- und Fernsehreporter.
Nach Rückkehr der DDR-Bürger wurde die Sperrfähigkeit der Grenzsicherungsanlagen wieder hergestellt.
Weitere demonstrative Forderungen zur Schaffung neuer Grenzübergangsstellen wurden in den letzten Tagen u. a. erhoben in
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Breitenrode, Kreis Klötze, Bezirk Magdeburg, während einer Demonstration durch ca. 60 DDR-Bürger am 27. November 1989 und ca. 90 Bürger am 29. November 1989, wobei an diesem Tage ein Mitarbeiter der Abt. Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises die Teilnehmer aufforderte, bei Nichteröffnung einer Grenzübergangsstelle am 3. Dezember 1989 erneut zu demonstrieren;
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Pferdsdorf-Spichra, Kreis Eisenach, Bezirk Erfurt, durch 25 DDR-Bürger und 20 Personen auf BRD-Gebiet;
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Sallmannshausen, Kreis Eisenach, Bezirk Erfurt, durch 30 DDR-Bürger und 50 Personen auf BRD-Gebiet;
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Bockelnhagen, Kreis Worbis, Bezirk Erfurt, während einer Demonstration von ca. 100 Bürgern in Richtung Staatsgrenze. Auf BRD-Gebiet wurden die Forderungen durch ca. 600 bis 700 Personen unterstützt;
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Zwinge, Kreis Worbis, Bezirk Erfurt, während einer Demonstration in Richtung Staatsgrenze durch ca. 400 Einwohner.
Nach den Grenztruppen der DDR vorliegenden Informationen bestehen gegenwärtig Forderungen aus der Grenzbevölkerung für die Schaffung weiterer 22 Grenzübergangsstellen.
Ausgehend von der Entwicklung der Lage hinsichtlich der anhaltenden Forderungen aus Kreisen der Bevölkerung der Grenzgemeinden zur Schaffung ständig weiterer Grenzübergangsstellen wird es für zweckmäßig erachtet, in Übereinstimmung mit dem Beschluss des Ministerrates der DDR vom 30. November 1989 geeignete Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage auf diesem Gebiet sowie zur Gewährleistung von Ordnung und Gesetzlichkeit an der Staatsgrenze einzuleiten.11
In diesem Zusammenhang wird empfohlen, die Vorsitzenden der Räte der Bezirke und Kreise zu beauflagen, durch entsprechende Einflussnahme auf die örtlichen Staatsorgane die einheitliche und konsequente Durchsetzung der am 30. November 1989 getroffenen Festlegungen zu gewährleisten, wobei weitergehende Forderungen zur Schaffung neuer Grenzübergangsstellen sorgfältig geprüft und unter Beachtung der konkreten örtlichen Bedingungen sowie der möglichen Gefahren für die Ordnung und Sicherheit an der Staatsgrenze im engen Zusammenwirken mit den anderen zuständigen staatlichen Organen nur im Ausnahmefall entsprechende Vorschläge zur zentralen Entscheidung unterbreitet werden sollten.
Des Weiteren sollte geprüft werden, inwieweit es zweckmäßig wäre, in geeigneter Form zu dieser Problematik eine entsprechende offizielle Stellungnahme zu veröffentlichen, in der deutlich gemacht werden sollte, dass die Schaffung neuer Grenzübergangsstellen nur auf der Grundlage dazu getroffener zentraler Entscheidungen und entsprechender Vereinbarungen mit der BRD-Seite erfolgen kann.
In diesem Zusammenhang wäre auf die im Interesse der DDR und ihrer Bürger liegende Notwendigkeit zu verweisen, die Kontrolle und Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs in beiden Richtungen entsprechend dazu getroffenen Regelungen ordnungsgemäß zu gewährleisten und seinen Missbrauch – insbesondere zum Zwecke des Schmuggels und der Spekulation – zu unterbinden.
Empfohlen wird ferner, durch das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in geeigneter Form gegenüber der BRD-Seite die Erwartung auszusprechen, dass seitens der zuständigen Stellen der BRD, insbesondere auch auf kommunaler Ebene in den Grenzgemeinden der BRD, im Interesse der Gewährleistung von Ruhe und Ordnung an der Staatsgrenze und eines zügigen und reibungslosen grenzüberschreitenden Verkehrs über die zugelassenen Grenzübergangsstellen keine Forderungen erhoben werden bzw. öffentlichkeitswirksamer Druck auf die Schaffung weiterer Grenzübergangsstellen ausgeübt wird.
Die Einrichtung von Grenzübergangsstellen obliegt der souveränen Entscheidung der DDR und bedarf – im beiderseitigen Interesse – z. B. zur Vermeidung von Störungen der kooperativen Arbeit der staatlichen Stellen und Grenzorgane, der Wirkungen auf die Infrastruktur u. a. – einer notwendigen gegenseitigen Abstimmung.
Darüber hinaus wird empfohlen, diesen Standpunkt der DDR auch in der für den 5./6. Dezember 1989 vorgesehenen Sitzung der Grenzkommission12 an die BRD-Seite heranzutragen.