Besetzung von MfS-Dienststellen
5. Dezember 1989
Information Nr. 519/89 über das Erzwingen des Zutritts von Kräften von Bürgerbewegungen zu den Dienstobjekten von Bezirks- und Kreisämtern des Amtes für Nationale Sicherheit am 4. Dezember 1989
Offenkundig im Zusammenhang stehend mit dem am 4. Dezember 1989 über die Massenmedien der DDR verbreiteten Aufruf, Akten vor der Vernichtung zu sichern,1 verschafften sich am 4. Dezember 1989 in mehreren Bezirken und Kreisen Kräfte von Bürgerbewegungen – unter Einbeziehung von Staatsanwälten – Zutritt zu Dienstobjekten der Bezirks- und Kreisämter [des AfNS],2 wobei Panzerschränke und Räumlichkeiten besichtigt und versiegelt, Angehörige und von ihnen mitgeführte Aktentaschen sowie Pkw kontrolliert und die geordnete Dienstdurchführung erheblich beeinträchtigt wurden.
Dazu im Einzelnen: Am 4. Dezember 1989, gegen 10.00 Uhr, wurden durch eine größere Gruppe von Bürgern alle drei Zugänge zum Dienstobjekt des Bezirksamtes Erfurt blockiert sowie durch den Einsatz eines Kranwagens der Erfurter Verkehrsbetriebe die Ein- und Ausfahrt des Hauptobjektes versperrt. Binnen kürzester Zeit hatten sich insgesamt ca. 500 Personen an den drei Zugängen angesammelt. Durch an der Blockade beteiligte Kräfte wurden Angehörige des Bezirksamtes, die die Absicht zum Betreten des Dienstobjektes hatten, einschließlich mitgeführter Taschen sowie der Pkw kontrolliert.
Mit der Zielstellung der Vermeidung einer nicht auszuschließenden weiteren Eskalation der Ereignisse entschloss sich der Leiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit, eine Abordnung von zehn Personen zu empfangen, um über das Anliegen dieser Kräfte informiert zu werden und beruhigend auf diese einzuwirken. Während des im Konferenzzimmer des Leiters geführten Gespräches verschafften sich weitere Personen – unter Führung einer Frau Dr. Schön, Kerstin,3 die sich als Sprecherin eines unabhängigen Untersuchungsausschusses ausgab – ebenfalls gewaltsam Zugang zum Dienstobjekt und begaben sich in das Konferenzzimmer.
Bekannt wurde in diesem Zusammenhang, dass Frau Dr. Schön vor dieser Aktion den Staatsanwalt des Bezirkes Erfurt über ihre Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, Archivmaterialien und andere Unterlagen im Bezirksamt Erfurt vor Vernichtung zu bewahren.
Die Forderungen der in das Bezirksamt eingedrungenen Personen bezogen sich insbesondere auf die Einsichtnahme in die Archive sowie angeblich vorhandene Unterlagen zu konkreten Personen, die sich zum Teil unter den eingedrungenen insgesamt ca. 150 Personen befanden, die Einsichtnahme in vorhandene Speicher sowie die Besichtigung der Verkollerungsanlage und der Haftanstalt. Nachdem sich der zwischenzeitlich herbeigerufene Leiter der Abteilung I A des Staatsanwaltes des Bezirkes Erfurt, Genosse Rudat,4 sowie sein beigeordneter Staatsanwalt, Genosse Illgen,5 für die Klärung der aufgeworfenen Fragen als nicht zuständig und kompetent erklärt hatten, wurden der Militärstaatsanwalt des Grenzbezirkskommandos, Oberstleutnant Weißmantel,6 und der Militärstaatsanwalt der 4. MSD, Oberstleutnant Lippold,7 in das Bezirksamt Erfurt angefordert.
Aufgrund der massiven Forderungen der eingedrungenen Personen wurde im Beisein der beiden Staatsanwälte sowie von Journalisten der »Neuen Erfurter Zeitung«, »Thüringer Neuesten Nachrichten« und der Zeitung »Das Volk« eine Objektbegehung realisiert, wobei u. a. die Datenendstelle, das Archiv und die Verkollerungsanlage besichtigt wurden.
Eine geforderte Abfragung gespeicherter Daten sowie eine Einsichtnahme in schriftliche Unterlagen konnten verhindert werden. Fragen zur konkreten Personalstärke sowie zu Details der Struktur wurden nicht beantwortet.
Während der Besichtigung wurden durch die anwesenden Journalisten Fotoaufnahmen gefertigt.
Erst nach längeren Diskussionen erklärten sich die eingedrungenen Personen damit einverstanden, dass die anwesenden Staatsanwälte die betreffenden Räume und die darin befindlichen Panzerschränke versiegeln und sie das Bezirksamt wieder verlassen.
Da von den eingedrungenen Kräften auch den Maßnahmen der Staatsanwälte großes Misstrauen entgegengebracht wurde, bestanden sie darauf, an neuralgischen Punkten des Bezirksamtes sogenannte Bürgerwachen einzusetzen, so u. a. an den drei Zugängen des Dienstobjektes, der Datenendstelle und dem Archiv.
Seitens des sogenannten unabhängigen Untersuchungsausschusses besteht die Absicht, am Dienstag, dem 5. Dezember 1989, 11.00 Uhr, ein erneutes Gespräch mit dem Leiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Erfurt zu führen.
Es wird vorgeschlagen, die für den heutigen Tag vereinbarte Zusammenkunft nur mit einem begrenzten Personenkreis von Vertretern des sogenannten unabhängigen Untersuchungsausschusses in Anwesenheit des Militärstaatsanwaltes durchzuführen.
Durch den gemeinsamen Einsatz von Angehörigen des Bezirksamtes Erfurt und geeigneten Kräften der Deutschen Volkspolizei vor dem Gebäude des Bezirksamtes sollte das Betreten des Objektes durch weitere Personen notfalls durch körperliche Einwirkung und polizeiliche Hilfsmittel (Schlagstock) verhindert werden.
Seit ca. 17.30 Uhr befanden sich vor dem Dienstobjekt des Bezirksamtes Rostock ca. 170 Personen, durch welche die Zugänge und Zufahrten blockiert wurden. Vertreter des Neuen Forums,8 weiterer Bürgerbewegungen, Pfarrer, SDP-Mitglieder9 und Studenten forderten mit Nachdruck Einlass, die Versiegelung des Objektes und die Bewachung durch die Deutsche Volkspolizei.
Seit 22.10 Uhr sprach der Leiter des Bezirksamtes mit Vertretern des Untersuchungsausschusses (Landessuperintendent Wiebering,10 Rechtsanwalt Vormelker11) im Beisein des Bezirksstaatsanwaltes, dessen Stellvertreters und des stellvertretenden Chefs der BDVP. Durch die Demonstranten wurden Studenten zum Ereignisort beordert, die sich zum Zwecke der »Bewachung« des Objektes bis ca. 7.00 Uhr abwechseln sollen.
Weitere diesbezügliche Aktivitäten waren im Bezirk Rostock zu verzeichnen in Bad Doberan und Greifswald, wo die Kreisämter in Anwesenheit des Kreisstaatsanwaltes, von Kräften der DVP und Vertretern des Neuen Forums versiegelt wurden sowie in Stralsund, wo in Anwesenheit des Kreisstaatsanwaltes ca. 150 Personen gewaltsam in den Innenhof des Kreisamtes eingedrungen waren.
Im Zusammenhang mit der Demonstration von Bürgerbewegungen in Leipzig verschafften sich ca. 50 Personen mit der Drohung, weitere Demonstranten herbei zu ordern, Zutritt zum Bezirksamt Leipzig und halten das Objekt an seinen neuralgischen Punkten besetzt. Das Bezirksamt ist handlungsunfähig.
Vor dem Kreisamt für Nationale Sicherheit Angermünde, Bezirk Frankfurt/O., bildeten gegen 16.00 Uhr ca. 15 Personen – unter ihnen der Kreissekretär der CDU, Frau Pötter,12 das Ehepaar [Name 1] (Gemeindekirchenrat) sowie Frau Amende13 vom Neuen Forum – eine Menschenkette und forderten die Offenlegung der Tätigkeit, die Besichtigung der Diensträume sowie Rechenschaftslegung der Angehörigen des Kreisamtes vor der Bevölkerung, was durch den Leiter des Kreisamtes über die genannte Frau Pötter organisiert werden soll.
Gegen 21.40 Uhr organisierte das Pfarrerehepaar Werdin14 aus Greifenberg über das VPKA eine »Kontrolle« im Kreisamt, um sich davon zu überzeugen, ob Unterlagen verbrannt worden sind. Im Beisein eines Hauptmanns der DVP wurden der Kohlenkeller und Aschentonnen im Kreisamt besichtigt, wobei sich ihre Vermutungen nicht bestätigten. Forderungen zur Besichtigung des Archivs wurden abgelehnt, weswegen man sich am 5. Dezember 1989 erneut an den Leiter des Kreisamtes wenden wolle.
In Templin, Bezirk Neubrandenburg, forderten in den späten Abendstunden ca. 200 Personen durch ihren Sprecher, den Bezirksvorsitzenden der DBD, Finner,15 die Versiegelung des Kreisamtes, um ein Vernichten von »Beweisen« zu verhindern, sowie die Besichtigung der Verbrennungsanlage, wozu eine sogenannte unabhängige Kommission auf einer Kontrolle der Räumlichkeiten bestand.
Durch den Leiter des Kreisamtes wurde zehn Personen die Besichtigung der Heizanlage gestattet. Massiv wurden Forderungen zur Auflösung des Kreisamtes erhoben.
In Saalfeld, Bezirk Gera, suchte gegen 22.45 Uhr eine Delegation aus Vertretern des Neuen Forums und des Demokratischen Aufbruchs16 in Begleitung des Leiters des VPKA, des Kreisstaatsanwaltes und des Vorsitzenden des Rates des Kreises sowie Angehörigen der Kriminalpolizei das Kreisamt auf, wo durch den Leiter des Kreisamtes der Forderung nach einer »Besichtigung« des Objektes entsprochen wurde. Die Personen verließen gegen 24.00 Uhr das Objekt und äußerten die Absicht, Kontrollposten aufzustellen.
In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass sich Pfarrer Morgenrot17 am 4. Dezember 1989 bei der SED-Bezirksleitung Gera darüber beschwerte, dass kein freier Zutritt zu den Kreisämtern gegeben sei. Ihm sei vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Herrn de Maizière,18 versichert worden, dass bei Verdacht der Vernichtung von Akten im Zusammenwirken mit dem Kreisstaatsanwalt in jedem Fall Zutritt zu gewähren ist.19
In Jena forderten ca. 100 Personen im Beisein des Kreisstaatsanwaltes den Zutritt zum Heizungsraum des Kreisamtes, wobei u. a. Fotoaufnahmen gefertigt wurden.
In Weißwasser, Bezirk Cottbus, wurde im Rahmen eines Friedensgebetes der Entschluss gefasst, die Panzerschränke des Kreisamtes Weißwasser zu versiegeln.
Daraufhin begaben sich im Anschluss an das Friedensgebet der Vorsitzende des Kreisvorstandes der LDPD, ein Mitglied des Neuen Forums, die Kreisstaatsanwältin sowie je ein Angehöriger der Kriminal- und der Schutzpolizei zum Kreisamt, wo sie sich gegen 20.00 Uhr Zutritt verschafften und bis zum Verlassen des Objektes um 21.30 Uhr alle Panzerschränke des Kreisamtes versiegelten.
In Rathenow, Bezirk Potsdam, blockierten seit 8.30 Uhr mehrfach wechselnd jeweils fünf Angehörige von Bürgerbewegungen den Zugang zum Kreisamt für Nationale Sicherheit. Angehörige des Kreisamtes, von ihnen mitgeführte Aktentaschen sowie die Kofferräume von Pkw wurden Kontrollen unterzogen.
In Parchim, Bezirk Schwerin, wurde in den Abendstunden durch eine Personengruppe von Vertretern verschiedener Bürgerbewegungen, unter ihnen Vertreter des Neuen Forums sowie Mitglieder von Koalitionsparteien, in Anwesenheit des Kreisstaatsanwaltes das Kreisamt Parchim aufgesucht und das Objekt versiegelt.
Es wurde angekündigt, das Kreisamt am 5. Dezember 1989 erneut aufzusuchen.
Im Anschluss an eine Demonstration von ca. 3 000 Personen in Wernigerode, Bezirk Magdeburg, begaben sich ca. 30 Personen zum Kreisamt. Fünf Vertreter des Neuen Forums, begleitet vom Kreisstaatsanwalt und dem Leiter des VPKA, suchten das Objekt auf und »verhandelten« mit dem Leiter des Kreisamtes. Sie beabsichtigten, Einsicht in Akten zu Personen zu nehmen. Dem Leiter des Kreisamtes wurde mit einer Strafanzeige und damit gedroht, am nächsten Montag ihre Forderungen energischer vorzubringen.
Im Kreisamt Stendal wurde eine Gruppe von Vertretern des Neuen Forums vorstellig und forderte Einlass in das Dienstobjekt, der verweigert wurde.
In der weiteren Folge meldete sich eine weibliche Person mit dem Namen [Name 2, Vorname] als Vertreter des Neuen Forums über den öffentlichen Fernsprechanschluss des Kreisamtes und teilte mit, dass das Objekt des Kreisamtes unter »Überwachung« stehe. Das Ziel der Überwachung bestehe darin, einer unabhängigen Kontrollgruppe des Neuen Forums Zutritt zum Kreisamt zu verschaffen und dort Zugang zu Sicherheitsakten und Archiven sowie Einsicht in Panzerschränke zu erhalten. Gleichzeitig wurde eine bildliche Darstellung jeglicher Bewegungen angekündigt.
In Zittau, Bezirk Dresden, erfolgte nach hartnäckigem Drängen durch ca. 35 Personen des Neuen Forums, vertreten durch Pfarrer Alisch,20 zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr, im Kreisamt ein Gespräch mit dem stellvertretenden Leiter, an dem u. a. der Kreisstaatsanwalt teilnahm.
Dem Vertreter des Neuen Forums wurde Einsicht in den Befehl des Leiters des Amtes für Nationale Sicherheit zur Einstellung der Vernichtung gegeben.21 Der Hinweis des stellvertretenden Leiters des Kreisamtes, dass es sich beim Kreisamt um ein militärisches Objekt handelt und eine Sichtung und Kontrolle des Archivmaterials nicht möglich ist, wurde durch den Kreisstaatsanwalt unter Hinweis auf die Zuständigkeit des Militärstaatsanwaltes unterstützt.
Das anschließende Gespräch, in welchem massiv Forderungen nach Volkskontrolle der Archive erhoben wurden, wurde mit der ausdrücklichen Bitte von Pfarrer Alisch, am 5. Dezember 1989, 10.00 Uhr, einen erneuten Dialog zu führen, abgeschlossen.
Vor dem Kreisamt verblieb eine Mahnwache von vier bis fünf Personen.