Bevölkerungsreaktion zur Aussetzung des Reiseverkehrs mit der ČSSR
6. Oktober 1989
Hinweise auf weitere Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit der zeitweiligen Aussetzung des pass- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der ČSSR für Bürger der DDR [Bericht O/226]
Vorliegenden Hinweisen zufolge halten in nahezu allen Bevölkerungskreisen die umfangreichen, inhaltlich sehr differenzierten Meinungsäußerungen zur Entscheidung der Regierung der DDR über die zeitweilige Aussetzung des pass- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der ČSSR für Bürger der DDR weiter an.1
Zahlreiche progressive Kräfte bekunden dabei Zustimmung und Unterstützung dieser Maßnahmen. Dabei vertreten sie die Auffassung, staatliche Reaktionen auf die Entwicklung der Lage auf dem Gebiet des ungesetzlichen Verlassens der DDR seien dringend notwendig gewesen und schon früher erwartet worden.
Dennoch wird von diesem Personenkreis zum Teil mit Verbitterung festgestellt, dass »es wieder einmal die Falschen« treffe. Durch die staatlichen Maßnahmen würden überwiegend auch solche Bürger benachteiligt und reglementiert, die zu ihrem Staat stehen und das auch ständig unter Beweis stellen würden. Es wird unterstellt, dass diese Einschränkungen von längerer Dauer sein werden, da im Zusammenhang mit Einschränkungen des Reiseverkehrs mit der VR Polen auch von zeitweiligen Regelungen gesprochen worden sei, die jetzt bereits mehrere Jahre andauerten.2
Bei Anerkennung der Notwendigkeit solcher Maßnahmen schätzen genannte progressive Kräfte jedoch ein, sie allein reichten nicht aus, um die »Massenfluchten« aus der DDR erfolgreich zu verhindern.
Die Partei- und Staatsführung schaffe sich damit möglicherweise nur eine »kurzzeitige Atempause«. Diese müsse jetzt von ihr unverzüglich genutzt werden, um die eigentlichen Ursachen, die im Innern der DDR begründet lägen, aufzudecken und zu beseitigen.
Sich in diesem Sinne äußernde Personen verweisen mit Besorgnis auf die ihrer Meinung nach ernsthafte Gefahr der bedrohlichen Zuspitzung der Lage im Innern der DDR und an der Staatsgrenze bis hin zu offenen Unruhen und Tumulten der Werktätigen im Ergebnis dieser unpopulären Maßnahmen. Diese Entscheidung könnte, so schätzen sie ein, der noch fehlende Funke in einer ohnehin angespannten innenpolitischen Situation sein.
In diesem Sinne äußerten sich auch kirchliche Amtsträger. Ihrer Meinung nach wäre die DDR zu dieser Maßnahme gezwungen gewesen, um die »Ausreisewelle« zu stoppen. Dies führe jedoch zu keiner Lösung der Probleme. Stattdessen werde sich der Druck im Innern weiter verstärken und könne zu einer erheblichen Destabilisierung der Lage führen.
Breiteste Kreise der Bevölkerung vertreten den Standpunkt, es wäre im Interesse der Beruhigung der Lage im Innern der DDR besser gewesen, anstelle solcher restriktiver Maßnahmen Entscheidungen zu treffen, die die volle Freizügigkeit im Reiseverkehr für alle DDR-Bürger gewährleisten.
In beachtlichem Umfang werden – vor allem von Angehörigen der medizinischen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz, von Kunst- und Kulturschaffenden sowie von Arbeitern – massiv ablehnende Meinungen geäußert, die häufig verbunden sind mit direkten Angriffen auf die Politik der SED sowie die Partei- und Staatsführung der DDR.
Typisch hierfür sind solche Äußerungen und Standpunkte, teilweise deckungsgleich mit Argumentationsrichtungen westlicher Medien, wie
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jetzt drehe die Regierung völlig durch,
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diese Maßnahmen kämen einem politischen Bankrott der DDR gleich; sie zeigten die Ohnmacht der Partei- und Staatsführung,
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die DDR sei mit dieser Entscheidung außenpolitisch weiter in Misskredit geraten,
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die Partei- und Staatsführung habe sich schon zu weit vom Volk entfernt, um die Probleme der Bürger noch zu kennen, sonst wäre eine solche Entscheidung nicht zustande gekommen,
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nun sei die DDR endgültig auf dem Weg zum »sozialistischen Gefängnis«,
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die Maßnahmen zeigten, dass die Partei- und Staatsführung nicht zu Veränderungen bereit sei; für Menschen, die sich damit nicht abfinden könnten, bliebe deshalb nur die Möglichkeit des Verlassens der DDR oder in Opposition zu gehen.
Im Zusammenhang mit den zeitweiligen Einschränkungen im Reiseverkehr DDR – ČSSR wurden folgende besonders beachtenswerte Verhaltensweisen bekannt:
Zwei unter Tage arbeitende Schichten (ca. 70 Personen) des VEB Zinnerz Altenburg, [Bezirk] Dresden, führten in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 1989 mit Bezug auf die staatlichen Maßnahmen und unter Hinweis auf erhebliche Mängel in der Versorgung der Bevölkerung in der Stadt Altenberg heftige und erregte Diskussionen, die in Forderungen gegenüber der Kombinatsleitung gipfelten, eine stabile, quantitativ und qualitativ verbesserte Versorgung der Werktätigen zu gewährleisten bzw. Dauervisa für die Beschäftigten des Betriebes zu erteilen mit dem Argument, weiter bisher übliche Einkäufe in der ČSSR tätigen zu können.
Es wurde die Erwartung ausgesprochen, noch am 4. Oktober [1989] eine Antwort von der Kombinatsleitung zu erhalten. Das Auftreten des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden, und des Generaldirektors des VE Bergbau- und Hüttenkombinates »Albert Funk« Freiberg am 5. Oktober [1989] vor Ort erbrachte bisher keine Klärung der Situation.
Die Kumpel erklärten, bis zur Aufhebung der Entscheidung über die zeitweilige Aussetzung des pass- und visafreien Verkehrs nur 80 % ihrer Tagesnorm erbringen zu wollen.
(Die Maßnahmen zur intensiven politisch-ideologischen Einflussnahme durch die zuständigen Partei- und wirtschaftsleitenden Organe werden intensiv fortgesetzt.)
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Maßnahmen häuften sich persönliche Vorsprachen und telefonische Anfragen von Bürgern bei den VPKÄ bzw. Pass- und Meldestellen der Deutschen Volkspolizei über die derzeitigen Reisemodalitäten in die ČSSR. Dabei kam es insbesondere durch jugendliche Personenkreise häufig zu lautstarken und aggressiven Unmutsbekundungen, wobei wiederholt solche Vokabeln wie »einmauern«, »isolieren« und »einsperren« Verwendung fanden. Teilweise gipfelten diese in beleidigenden Angriffen gegenüber den Angehörigen der Deutschen Volkspolizei.
Mitglieder des Schauspielerensembles des Theaters der Bergarbeiter in Senftenberg, [Bezirk] Cottbus, weigerten sich, am Festprogramm anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR mitzuwirken. Erst im Ergebnis intensiver politischer Einflussnahme seitens der Bezirks- und Kreisleitung der Partei sowie der staatlichen Leitung des Theaters erklärten sie ihre Bereitschaft, ein inhaltlich verändertes Programm zur Aufführung zu bringen.
(Vorliegenden Hinweisen zufolge stehen diese Verhaltensweisen in direktem Zusammenhang mit der anhaltenden Unzufriedenheit der Mitglieder des Schauspielerensembles über die nach wie vor ausstehenden Entscheidungen zur Perspektive des Theaters und der damit verbundenen Ungewissheit über die weitere Tätigkeit an diesem Theater.)