Charismatische Gemeindeerneuerungsbewegung
17. Januar 1989
Information Nr. 23/89 über beachtenswerte Gesichtspunkte im Zusammenhang mit Versuchen der Etablierung einer sogenannten Charismatischen Gemeindeerneuerungsbewegung in der DDR
Dem MfS liegen Hinweise vor, wonach seit Mitte der 1980er Jahre, inspiriert und initiiert durch Einflüsse und Kräfte aus dem westlichen Ausland, gläubige Bürger versuchen, in der DDR eine sogenannte Charismatische Gemeindeerneuerungsbewegung (CHARGE) zu etablieren.1
(Die charismatische Bewegung ist geschichtlich verbunden mit der im 20. Jahrhundert entstandenen Frömmigkeits- und Heilungsbewegung der sogenannten Pfingstkirche und hat ihre Ausgangspunkte zu Beginn der 1960er Jahre in den USA. Von dort aus breitet sich diese Bewegung bis in die Gegenwart weltweit aus.
Zum Wesen der charismatischen Bewegung gehört, dass sie innerhalb der traditionellen Kirchen und Religionsgemeinschaften wirkt, also eine auf ökumenische Offenheit orientierte transkonfessionelle Bewegung darstellt. Sie ist nicht straff organisiert, sondern führt als Höhepunkte ihrer »charismatischen Erneuerung« nationale und internationale Konferenzen durch.
Ihren Namen leitet die Bewegung von den Charismen – göttliche Gnadengaben – ab, die nach dem apostolischen Zeugnis ein Zeichen des geistlichen Lebens und der geistlichen Vollmacht christlicher Gemeinden sind. Unter Charisma wird dabei »jede gottgegebene Fähigkeit« verstanden. Zunehmend stellt sich die charismatische Bewegung als religiös-fanatische Erweckungsbewegung dar, deren Inhalte neben Gottesdiensten prophetische Reden und religiöse Wunderheilungen darstellen und deren Aktivitäten durch massive psychologische Einflussnahme und Massensuggestion auf die Gläubigen charakterisiert sind. Gezielt wird auf eine elitäre Auserwähltheit gegenüber anderen Gläubigen und Hörigkeit gegenüber den eigenen religiösen Führern hingewirkt. In diesem Sinne stehen die Angehörigen der charismatischen Bewegung ihrer jeweiligen Kirche bzw. Religionsgemeinschaft sowie dem kirchlichen Pluralismus und der ökumenischen Toleranz kritisch gegenüber.)
In der DDR existieren sogenannte charismatische Zusammenschlüsse vorwiegend innerhalb der evangelischen Landeskirchen. Führungskräfte derselben haben, nach dem MfS vorliegenden Hinweisen, bei zuständigen staatlichen Stellen bereits Anträge auf Zulassung als selbstständige Religionsgemeinschaft eingereicht, um sich außerhalb der Einflussmöglichkeiten ihrer Kirchenleitungen und weitgehend abgesichert hinsichtlich staatlicher Einflussnahme und Beschränkungen in ihrer Glaubensauffassung und -praktik entfalten zu können. Bei weiteren derartigen charismatischen Zusammenschlüssen ist davon auszugehen, dass sie diesbezüglich aktiv werden können. Anhänger dieser Bewegung in der DDR sind vorwiegend Jugendliche und Jungerwachsene, denen die herkömmlichen Formen des kirchlichen Gemeindelebens nicht genügen und die an einer persönlichen »Bestätigung« in ihrem Glauben interessiert sind.
Im Zeitraum vom 29. September bis 2. Oktober 1988 wurde nach vorliegenden Hinweisen unter Umgehung der offiziellen Anmeldung dieser Veranstaltung in Einrichtungen der evangelischen Gethsemane- und Eliaskirche sowie der Stephanus-Stiftung in der Hauptstadt der DDR, Berlin, eine »1. Glaubenskonferenz« der »Charismatischen Gemeindeerneuerungsbewegung« durchgeführt.
Die Veranstaltung stand unter dem Motto »Gemeinde Jesu Christi – die Zeit der Mutlosigkeit ist vorbei, wir lieben und segnen unseren Staat und bauen in Kühnheit das Reich Gottes! Komme im völligen Glauben, erwarte Zeichen und Wunder: Gott wird sein Wort bestätigen! Das ist biblisch normal!«
Sie war auf die weitere Profilierung der »CHARGE« in der DDR und die Schulung ihrer Anhänger ausgerichtet. An ihr nahmen insgesamt ca. 1 000 zumeist aktive Mitglieder charismatischer Zusammenschlüsse aus verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR sowie Evangelisten und Funktionäre von Pfingstkirchen und transkonfessionellen Organisationen des westlichen Auslandes, insbesondere aus den USA, der BRD und Westberlin teil.
Als Einlader – nur schriftlich geladenen und bestätigten Personen wurde die Teilnahme gestattet – und Organisator dieser »1. Glaubenskonferenz« fungierten der Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Deetz, [Bezirk] Potsdam, Klaus-Dieter Lüdtke,2 und dessen missionarischer Mitarbeiter Eckhard Neumann.3
Zu Inhalt und Verlauf der Veranstaltung liegen dem MfS streng intern folgende Erkenntnisse vor:
Themenschwerpunkte bildeten die Komplexe »Biblische Verheißung zum Thema Heilung« (für Anfänger), »Preis für Salbung und Gebetskampf« (für Fortgeschrittene) und »Befreiungsdienst in Theorie und Praxis« (für Leiter). Sie widerspiegelten sich in Referaten, Predigten u. Ä. sowie in sogenannten Wunderheilungen und analogen mystisch-religiösen Aktivitäten. Gesellschaftspolitische Aussagen negativen Inhalts und Charakters wurden nicht festgestellt.
In seinem Eröffnungsreferat orientierte Pfarrer Lüdtke auf die Überwindung derzeit in Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR bestehender Strukturen, da sie dem »Wirken des Heiligen Geistes« hinderlich seien. Als Anspruch der »CHARGE« in der DDR formulierte er die »Veränderung herrschender Auffassungen von Christen in bestehenden Kirchen und Religionsgemeinschaften als Weg zur Vollendung der Lutherischen Reformation«. Zu diesem Zweck müsse die religiöse Tätigkeit als »geistliche Kampfführung« organisiert werden und zunehmend mehr Personen müssten durch die Praktizierung sogenannter biblischer Geistesgaben (u. a. Wunderheilung, Prophetie) dazu beitragen, traditionelle kirchliche Veranstaltungsformen im charismatischen Sinne umzuformen.
Zur Praktizierung neuer religiöser Formen der Mission forderte auch der Pfarrer der Pfingstgemeinde »Philadelphia-Gemeinde« Westberlin, Henkel,4 auf, indem er dazu aufrief, die Kraft Gottes erlebbar zu machen sowie Zeichen und Wunder in der Öffentlichkeit geschehen zu lassen.
In mehreren Veranstaltungen der »1. Glaubenskonferenz« wurden durch den Leiter der Evangelisations- und Bibelvereinigung »Wort des Glaubens«,5 John Angelina,6 München BRD, und einem Bürger aus den USA sogenannte Wunderheilungen »gelehrt und praktiziert«. Angelina agierte dabei nach dem Motto »Gottes Kraft plus dein Glaube ergeben Heilung und Wunder«. So »heilte« er auf das Podium beorderte »Kranke« durch Handauflegen und Gebet. Die im Saal anwesenden ca. 600 Personen unterstützten ihn dabei entsprechend seiner Aufforderung durch Erheben von den Plätzen und Hochhalten der Arme. Angelina führte am Veranstaltungsort auch sogenannte Massenheilungen bei solchen Personen durch, die an Depressionen, Kopfschmerzen, Lähmungen und Herzfehlern leiden. Unter Berufung auf die biblische Legende des Apostel Paulus entwickelte er ferner symbolische Aktivitäten, um den »Heiligen Geist auszuteilen«.7
(Den an solchen Veranstaltungen teilnehmenden Personen wurde zum persönlichen Studium und zum Erlernen von »Wunderheilungen« ein Buch von Charles Hunter mit dem Titel »Wie man Krankheiten heilt«8 übergeben.9 Der Autor dieses Machwerkes propagiert die These, wonach alle Krankheiten auf mangelnden Glauben und die Tätigkeit des Teufels zurückgehen und durch Teufelsaustreiberei überwunden werden können.)
Nach dem MfS streng intern vorliegenden Hinweisen planen die Organisatoren der »1. Glaubenskonferenz« der »CHARGE« eine Folgekonferenz im Zeitraum vom 14. bis 17. September 1989 in kirchlichen Einrichtungen in der Hauptstadt Berlin. Die Teilnehmerzahl soll auf 2 000 Personen verdoppelt werden.
Darüber hinaus ist im Jahre 1989 die Schulung von ca. 1 000 Funktionären und Anhängern der »CHARGE« in Einrichtungen evangelischer Landeskirchen in den Kreisen Wismar, Luckau, Beeskow und Fürstenwalde vorgesehen, darunter sogenannte Jüngerschaftsschulungen unter Leitung von Pfarrer Lüdtke.
Im Zusammenhang mit der Etablierung und Profilierung der »CHARGE« in der DDR entwickeln Führungskräfte gegenwärtig Aktivitäten zur Erarbeitung von Glaubensbekenntnissen und Satzungen.
Unter Zugrundelegung vorliegender Hinweise über zunehmende Bestrebungen, die »Charismatische Gemeindeerneuerungsbewegung« in der DDR zu institutionalisieren, wird vorgeschlagen zu prüfen:
1. Anträgen von Anhängern der »CHARGE« auf Zulassung als selbstständige Religionsgemeinschaft oder Vereinigung mit religiöser Zielsetzung sollte staatlicherseits nicht zugestimmt werden.
2. Seitens des Staatssekretariats für Kirchenfragen sollten im engen Zusammenwirken mit weiteren zuständigen staatlichen Organen und einzubeziehenden gesellschaftlichen Organisationen, Einrichtungen und Kräften differenzierte, langfristig angelegte Maßnahmen eingeleitet werden, die dem Ziel dienen, die Bildung illegaler Strukturen der »CHARGE« und mögliche, von ihren Anhängern ausgehende Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu verhindern sowie das Wirken von Anhängern der charismatischen Bewegung besonders in den evangelischen Landeskirchen in der DDR für den innerkirchlichen Differenzierungs- und Polarisationsprozess nutzbar zu machen.
3. Die Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke für Inneres sollten durch das Staatssekretariat für Kirchenfragen in geeigneter Weise über wesentliche Probleme im Zusammenhang mit dem Wirken der »CHARGE« in der DDR und der Haltung des Staates zu dieser religiösen Bewegung informiert werden, um ein einheitliches Vorgehen zu sichern.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt!