Demonstration in Berlin-Mitte
27. Oktober 1989
Information Nr. 472/89 über eine Veranstaltung in der Marienkirche im Stadtbezirk Berlin-Mitte und damit im Zusammenhang stehende nicht genehmigte Demonstrationen
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen nahmen an der am 25. Oktober 1989 im Zeitraum von 19.00 Uhr bis gegen 20.15 Uhr durchgeführten und als »Andacht mit Informationsteil« deklarierten Veranstaltung in der Marienkirche insgesamt 1 400 Personen teil; weitere 400 Personen hielten sich im unmittelbaren Umfeld der Kirche auf und verfolgten den Veranstaltungsverlauf über eine Lautsprecheranlage. Etwa 250 dieser Personen trafen, nach einem nicht genehmigten Demonstrationszug von der Gethsemanekirche im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg kommend, verspätet ein. (Diese Personen bewegten sich geordnet auf Fußwegen und führten zum Teil brennende Kerzen mit; der Straßenverkehr war nicht behindert.)
Bischof Forck1 hielt die Andacht. Beachtenswerte Inhalte waren Forderungen u. a. nach
- –
Errichtung eines sozialen, menschlichen Sozialismus,
- –
Eingehen auf unterbreitete Angebote des Staates bei Achtung jener, die »Zeichen setzen«,
- –
Unterstützung der jetzt Regierenden, unabhängig davon, dass sie nicht besser als ihre Vorgänger seien, und gemeinsame Herbeiführung von Veränderungen mit diesen,
- –
Bewahrung des Gewonnenen durch Vermeidung von »Überhast«,
- –
Gewaltfreiheit (um auch dem Staat keinen Anlass zur »Gewaltanwendung« zu geben), Menschlichkeit, Meinungsfreiheit.
Im sogenannten Informationsteil wurde u. a. Bezug genommen auf die Ereignisse des 7. und 8. Oktober 1989,2 verbunden mit der Erläuterung von Rechtsvorschriften, gegen die seitens der Einsatzkräfte verstoßen worden sei. In diesem Zusammenhang wurde die DDR der Verletzung von Menschenrechten bezichtigt.
Der hinlänglich bekannte Werner Fischer3 (»SDP«4 und »Initiative für Frieden und Menschenrechte«5) verlas Gedächtnisprotokolle von bei »Polizeieinsätzen Betroffenen«6 und wies darauf hin, dass namentlich bisher nicht genannte Personen ihre Anonymität aufgeben würden, wenn zur Untersuchung durch die zuständigen Stellen »unabhängige« Personen/Initiativen zugelassen würden. Fischer forderte ferner dazu auf, weitere Gedächtnisprotokolle zu fertigen und diesbezügliche Eingaben7 an die Volkskammer zu richten. Er gab weiter Termine von Gerichtsverfahren bekannt und rief dazu auf, die betreffenden Personen öffentlichkeitswirksam mit Kerzen zu begleiten, sich mit diesen zu solidarisieren.
Durch weitere Personen wurde über die anstehende Gründung eines »unabhängigen Studentenbuns« an der Humboldt-Universität informiert8 und darüber, dass die ADN-Meldung vom 24. Oktober 1989 – Dementierung der Gründung einer »unabhängigen Gewerkschaft« im GRW Teltow – falsch sei, da eine entsprechende Gründungsurkunde vorläge.9
Die an der Veranstaltung teilnehmenden Mitglieder der Partei »Die Grünen« in der BRD, Kelly10 und Bastian,11 äußerten sich ebenfalls. In theatralischer Weise begrüßte die Kelly die aktuelle Entwicklung in der DDR und den Mut der DDR-Bürger. Bastian beglückwünschte die Anwesenden zu den »anerkennenswerten Erfolgen«. Er forderte die DDR dazu auf, die »Kriminalisierung« von Personen einzustellen. (Kelly und Bastian hielten sich nach vorliegenden internen Informationen im Verlaufe des Tages in der Wohnung der Bohley12 – dort erfolgte die Übergabe eingeschleuster Materialien bisher nicht näher bekannten Charakters – und des Fischer auf.)
Nach der Veranstaltung wurden von Anhängern der antisozialistischen Sammlungsbewegung »Demokratischer Aufbruch«13 ein sogenanntes Flugblatt für Demokratie und Abschriften eines sogenannten offenen Briefes an den Oberbürgermeister der Hauptstadt Berlin verteilt (Texte als Anlage).
Ca. 400 Veranstaltungsteilnehmer formierten sich nach einem akustischen Signal (Pfiffe) zu einem Demonstrationszug in Richtung Palast der Republik; es wurden brennende Kerzen und zwei Transparente (Forderungen nach »Rücknahme politischer und Ordnungsstrafverfahren«, Zulassung von Bürgerinitiativen) mitgeführt. Durch einen Polizeikordon in Höhe des Palastes der Republik am Weitermarsch gehindert, kehrten die Demonstranten um und bewegten sich auflösend über die Liebknechtstraße in Richtung Prenzlauer Berg. Nach vorliegenden Erkenntnissen werden diese nicht genehmigten Demonstrationen durch auf Konfrontation mit der Staatsmacht ausgerichtete feindliche, oppositionelle Kräfte organisiert und geleitet. (Durch eine solche Person wurde öffentlich auf eine »Großdemonstration« analog der in Leipzig orientiert, die am 28. Oktober 1989 mit dem Ausgangspunkt in der Erlöserkirche stattfinden solle.)
Anlage 1 zur Information Nr. 472/89
[Abschrift eines Flugblatts des »Demokratischen Aufbruchs«]
Flugblatt für die Demokratie
Der »Demokratische Aufbruch« (DA) ist ein Teil der politischen Opposition in der DDR. Er tritt für eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis ein.
Wir fordern die Verwirklichung aller in der Verfassung garantierten und international vereinbarten Menschenrechte! Dazu gehören
- –
das Recht auf Reisefreiheit einschließlich des Rechtes auf Rückkehr ins eigene Land,
- –
das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes,
- –
das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einschließlich des Rechtes auf ungehinderte politische Willensbildung in Parteien und Vereinen (außer wenn damit faschistisches, chauvinistisches und militaristisches Gedankengut propagiert wird),
- –
das Recht auf freie und geheime Wahl zwischen unterschiedlichen Programmen und Personen.
Wir fordern Reformen im Bildungswesen, die eine freie Persönlichkeitsentwicklung ohne ideologische Bevormundung ermöglichen.
Wir fordern Reformen im Strafrecht und im Strafvollzugsrecht, die die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat stärken.
Wir fordern politische Reformen, die den bisher praktizierten staatlichen Zentralismus der SED beseitigen. Dazu gehört die Errichtung einer Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit.
Wir fordern eine Wirtschaftspolitik, die die Qualität der Umwelt verbessert, nicht die natürlichen Ressourcen vergeudet und keinen Raubbau betreibt, die die schleichende Inflation bekämpft, die Leistung und Verantwortungsbereitschaft fördert. Dazu gehören
- –
Abschaffung von Privilegien und Bevorzugungen für nichterbrachte Leistungen,
- –
Änderung einer restriktiven Steuer- und Zulassungspolitik für Handwerksbetriebe,
- –
Abbau unsinniger Subventionen zugunsten einer gezielten Unterstützung der sozial Schwachen,
- –
eine vordringlich durchzuführende umfassende Rentenreform,
- –
die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und Betriebsräte von staatlicher und parteipolitischer Bevormundung,
- –
Einsparung im Militär- und Sicherheitswesen zur Freisetzung materieller und personeller Reserven.
Der Demokratische Aufbruch hält die gegenwärtigen vorhandenen politischen Strukturen nicht für ausreichend, den notwendigen Demokratisierungsprozess zu gewährleisten. Darum hat er sich als politische Vereinigung außerhalb der Nationalen Front formiert.14 Seine Mitglieder wehren sich gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Sie stehen ein für die Umgestaltung untragbarer Zustände, um eine neue Glaubwürdigkeit der Politik herzustellen. Sie stehen ein für eine Umgestaltung untragbarer Zustände, um die zukünftige Existenz der DDR als Friedensfaktor in Europa zu ermöglichen.
Demokratischer Aufbruch
Anlage 2 zur Information Nr. 472/89
[Abschrift eines offenen Briefes der Berliner Initiativgruppe des »Demokratischen Aufbruchs«]
An den | Berliner Oberbürgermeister Krack15 | Rotes Rathaus | Jüdenstraße 1–9 | Berlin | 1026 Berlin, den 15. Oktober1989
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Krack,
In diesen Oktobertagen kam es in Berlin zu massiven Verletzungen der Bürgerrechte. Hunderte von Bürgern haben sich in Arbeitskollektiven und Bekanntenkreisen darüber beschwert, wie sie oft länger als vierundzwanzig Stunden festgehalten, gedemütigt und misshandelt wurden.
Aufgrund zahlreicher Anfragen von Demonstranten und Zuschauern, die polizeiliche Gewalt erfahren haben, fordern wir die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Aufklärung von in diesem Zusammenhang aufgetretenen Rechtsverletzungen.
Diese Untersuchungskommission sollte unseres Erachtens folgende Zusammensetzung haben:
Vertreter von Bürgerinitiativen zur demokratischen Erneuerung, Rechtsanwälte, Vertreter des Generalstaatsanwaltes und des Bezirksgerichtes Berlin, der Bezirksbehörde der Volkspolizei und des Magistrats. Nach Bedarf müssten weitere Institutionen hinzugezogen werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen müssen veröffentlicht werden.
Ziel der Kommission muss es sein, die rechtswidrigen Übergriffe festzustellen und zu verhindern, dass sich künftig Ähnliches wiederholen kann.
Das Vertrauensverhältnis von Bürgern und staatlichen Organen soll wieder hergestellt werden. Gewalt und Einschüchterung sind keine geeignete Voraussetzung für den jetzt von allen Seiten geforderten, demokratischen Dialog.
Für die Berliner Initiativgruppe des »Demokratischen Aufbruchs«, gez. Axel Grote,16 [Straße, Nr.], Berlin, 1055; gez. Ehrhart Neubert,17 [Straße, Nr.], Berlin, 1054; gez. Rudi Pahnke,18 [Straße, Nr.], Borgsdorf, 1404; gez. Paul Werner Wagner,19 [Straße, Nr.], Berlin, 1034; gez. Thomas Welz,20 [Straße, Nr.], Berlin, 1035; gez. Christiane Ziller,21 [Straße, Nr.], Berlin, 1058; gez. Rainer Eppelmann,22 [Straße, Nr.], Berlin, 1035
(Über 2 000 Bürger haben durch Unterschrift den Brief unterstützt, 17.10.1989)