Demonstrationen in Leipzig, Dresden, Magdeburg
10. Oktober 1989
Information Nr. 452/89 über eine Demonstration und Zusammenkünfte oppositioneller Kräfte in Leipzig, Dresden und Magdeburg
1. Am 9. Oktober 1989 kam es im Zeitraum von 18.35 Uhr bis gegen 20.30 Uhr im Stadtzentrum von Leipzig erneut zu einer nicht genehmigten Demonstration von ca. 70 000 Personen, darunter eine erhebliche Anzahl aus anderen Bezirken. Die Demonstration verlief von der Nikolaikirche (Sammelpunkt) aus über die bekannte Strecke bis zum Hauptbahnhof, wo sie sich selbstständig auflöste. Es kam zu keinen Gewalthandlungen, vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung/Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.
Ausgangspunkt der Demonstration waren in Fortsetzung der sogenannten Montagsgebete zeitlich parallel in der Nikolai-, Thomas-, Michaelis- und der Reformierten Kirche (alle Stadtzentrum) durchgeführte »Friedensgebete«,1 an denen über 5 000 Personen teilnahmen. Während dieser Veranstaltungen versammelten sich im Umfeld der genannten Kirchen weitere Personen, die sich nach Veranstaltungsende gemeinsam mit Teilnehmern der »Friedensgebete« zum Demonstrationszug formierten. Dabei wurden Parolen gerufen wie »Wir sind das Volk – wir sind keine Rowdys«, »Keine Gewalt«, »Freiheit, freie Wahlen«, »Pressefreiheit«, »Lasst die Gefangenen frei«, »Wir bleiben hier«, »Wir wollen Reformen«, »Neues Forum zulassen«,2 »Gorbi, Gorbi«. Auf vereinzelt festgestellten Transparenten wurde zur Gewaltlosigkeit aufgefordert. Mehrfach wurde die »Internationale« gegrölt.
Vor der Demonstration waren in und vor den Kirchen ein »Appell« der hinlänglich bekannten personellen Zusammenschlüsse »Arbeitskreis Gerechtigkeit«,3 »Arbeitsgruppe Menschenrechte«4 und »Arbeitsgruppe Umweltschutz«5 sowie ein »Aufruf von Mitgliedern und Befürwortern des Neuen Forums« (Text als Anlage) bekannt gegeben und verbreitet worden, in denen zur Gewaltlosigkeit aufgefordert, jedoch Partei und Regierung für die entstandene Situation verantwortlich gemacht wurden. Es wurde zur »Demokratisierung« aufgerufen und das »Neue Forum« als »Plattform für den Zusammenschluss aller demokratischen Kräfte« propagiert.
Einfluss auf die Lageentwicklung und die Verhinderung von Gewalt hatten u. a. der im Rundfunk (Radio DDR, Sender Leipzig) verlesene sowie mehrfach über den Stadtfunk gesendete Aufruf zur Besonnenheit6 von Prof. Masur,7 Pfarrer Dr. Zimmermann,8 dem Kabarettisten Lange9 und den Sekretären der Bezirksleitung Leipzig der SED, Genossen Meyer,10 Pommert11 und Wötzel12. Unter Bezugnahme auf diesen Aufruf hat Landesbischof Hempel13 in allen vier genannten Kirchen auf die Dialogbereitschaft des Staates verwiesen und ebenfalls zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. (Auf Wunsch von Landesbischof Hempel kam am 9. Oktober 1989 ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres zustande, in welchem Hempel Mitteilung hinsichtlich seiner Teilnahme an den Friedensgebeten machte, um dort u. a. zur »Besonnenheit und Gewaltlosigkeit in der gegenwärtigen brisanten Lage« aufzufordern. Er betonte in diesem Gespräch die gemeinsame Verantwortung von Staat und Kirche entsprechend ihrer Ebenen zur Beruhigung der Situation.)
2. Am Abend des 9. Oktober 1989 fanden in der Kreuz-, Christus-, Versöhnungskirche und in der Kathedrale von Dresden14 sogenannte Informationsveranstaltungen statt, die wegen des Andrangs jeweils wiederholt werden mussten und an denen insgesamt ca. 22 000 Personen teilnahmen. Es kam zu keinen provokatorisch-demonstrativen Aktivitäten in der Öffentlichkeit.
In allen vier Kirchen wurde durch die die Veranstaltung leitenden Amtsträger (u. a. Superintendent Ziemer15 (Kreuzkirche) und Bischof Reinelt16 (Kathedrale) darauf verwiesen, dass die Kirche ihre Räumlichkeiten auf Bitten der staatlichen Organe zur Verfügung gestellt habe, da anderweitig keine entsprechend großen Räume zur Verfügung stehen würden.
Im Verlaufe der Veranstaltungen berichteten Mitglieder der sogenannten Vertretergruppe über ihr Gespräch mit dem Oberbürgermeister von Dresden und über die von ihnen dabei erhobenen Forderungen (wurde durchgängig mit Beifall aufgenommen). Alle diese Personen äußerten sich dahingehend, künftig Gewalt zu vermeiden, sich von Randalierern und Rowdys zu distanzieren, jedoch energisch im Sinne ihrer Forderungen wirken zu wollen und Staat und Partei weiter zur Dialogbereitschaft zu zwingen.
Während einer Veranstaltung in der Christuskirche wurde einer Resolution zugestimmt, in der der »Vertretergruppe« für ihre »Arbeit« gedankt und der »Forderungskatalog«17 (Freie und gerechte Wahlen; Pressefreiheit; keine Ablehnung des »Neuen Forums«; Schulreform; Reisefreiheit; keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten; größere Dialogbereitschaft des Staates; Wehrersatzdienst) akzeptiert wurde.
Darüber hinaus wurden die Freilassung von Inhaftierten sowie die Veröffentlichung der angenommenen »Resolution« in der Presse gefordert. In der Diskussion wurde darauf verwiesen, dass die »Vertretergruppe« weiterarbeiten und über diesbezügliche Ergebnisse die Öffentlichkeit informieren solle.
Als nächster Termin einer Zusammenkunft der »Vertretergruppe« mit dem Oberbürgermeister wurde der 16. Oktober 1989 propagiert.
3. Am geplanten »Montagsgebet« im Magdeburger Dom nahmen ca. 4 100 Personen, überwiegend Jugendliche, teil. Im Ergebnis vorbeugend eingeleiteter Maßnahmen kam es zu keinen Demonstrationen in der Öffentlichkeit. Die von kirchlichen Amtsträgern während der Veranstaltung bekannt gegebene Bereitschaft des Staates zu einem öffentlichen Dialog fand breite Resonanz. Gleichzeitig wurde betont, dass dies besonders den bisherigen Bemühungen des »Neuen Forums« und der Organisatoren des »Montagsgebetes für gesellschaftliche Erneuerung« zu verdanken sei. Festzustellen war eine ausgeprägte Erwartungshaltung hinsichtlich des Dialogs, die Domprediger Quast18 wie folgt formulierte: »Nun will man aber auch bezüglich des Dialoges Ergebnisse sehen; die Geduld dürfe nicht überspannt werden.«
Es wurde darauf hingewiesen, dass sich Teilnehmer des »Montagsgebetes« bereits in 22 thematischen Arbeitsgruppen zusammengefunden hätten (u. a. »Die Notwendigkeit der führenden Rolle der Partei«, »Mehrparteiensystem mit getrennten parteigebundenen Wählerlisten«, »Leistungsprinzip«, »Sicherung des Warenangebotes entsprechend der Nachfrage«, »Ziviler Ersatzdienst«19), um für im Rahmen dieses Dialogs zu erwartende Schwerpunktthemen entsprechende Materialien vorzubereiten.
Im Rahmen der Veranstaltung propagierte Pfarrer Meckel20 die Plattform der »Sozialdemokratischen Partei in der DDR – SDP«.21
Der hinlänglich bekannte Pfarrer Tschiche22 brachte zum Ausdruck, dass man mit dem Überlassen der Initiative an den Staat die weitere freie Entwicklung der geschaffenen »Bewegungen« aus der Hand gebe. Er forderte dazu auf, auch künftig in Betrieben und Einrichtungen Unterschriften für das »Neue Forum« zu sammeln und informierte über seine Funktion als »Kontaktadresse« dieser oppositionellen Sammlungsbewegung.
Anlage 1 zur Information Nr. 452/89
[Kopie eines Aufrufs des »Neuen Forums« vom 9.10.1989]
Aufruf
Nach der Demonstration am letzten Montag von etwa 20 000 Leipziger Bürgern und den Ereignissen des 7. Oktober23 stehen alle demokratischen Kräfte vor einer Herausforderung. Deshalb rufen wir auf:
- –
Organisation statt Konfrontation
- –
Dialog statt Gewalt
- –
Einsatz für Demokratie mit demokratischen Mitteln
und fordern:
- –
Zusammenschluss aller demokratischen Kräfte
- –
Aktives Handeln der Reformkräfte in der SED
- –
Stellt alles Trennende zurück
Das »Neue Forum« kann die Plattform dafür sein. Öffentlichkeit ist für unsere Gesellschaft überlebenswichtig. Seid Euch dieser Verantwortung bewusst, sorgt für einen friedlichen Verlauf der Demonstration:
- –
Provoziert nicht, lasst Euch nicht provozieren
- –
Durchbrecht keine Absperrungen
- –
Keine Konfrontation mit BePo und Kampfgruppen24
- –
Dialog
- –
Schützt die Polizisten vor Übergriffen
- –
Stoppt Betrunkene, Provokateure – Alle Gewalttätigen
- –
Geht nach Ende der Demo friedlich nach Hause
- –
Unterlasst Einzelaktionen
Nur so werden Forderungen nach Offenheit, Dialog und Erneuerung durchzusetzen sein.
Die Demokratische Bewegung kann nur friedlich und gewaltfrei ihren Weg gehen.
Zeigen wir uns gemeinsam solidarisch handelnd auf der Höhe der Zeit.
9.10.1989 | Im Namen von Mitgliedern und Befürwortern des »Neuen Forums«
Für eine vereinigte Linke | Lesen Weitergeben Vervielfältigen.
Anlage 2 zur Information Nr. 452/89
[Kopie eines Appells von Leipziger Oppositionsgruppen v. 9.10.1989]
Appell
In den letzten Wochen ist es mehrfach und in verschiedenen Städten der DDR zu Demonstrationen gekommen, die in Gewalt mündeten: Pflastersteinwürfe, zerschlagene Scheiben, ausgebrannte Autos, Gummiknüppel- und Wasserwerfereinsatz.
Es gäbe eine unbekannte Zahl Verletzter, von Toten ist die Rede. Auch der letzte Montag in Leipzig endete mit Gewalt.25 Wir haben Angst. Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns da in Uniform gegenübersteht. Wir haben Angst um die Zukunft unseres Landes. Gewalt schafft immer nur Gewalt. Gewalt löst keine Probleme. Gewalt ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein.
Wir bitten alle:
- –
Enthaltet Euch jeder Gewalt!
- –
Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen!
- –
Greift keine Personen oder Fahrzeuge an!
- –
Entwendet keine Kleidungs- oder Ausrüstungsgegenstände der Einsatzkräfte!
- –
Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen!
- –
Seid solidarisch und unterbindet Provokationen!
- –
Greift zu friedlichen und phantasievollen Formen des Protestes!
An die Einsatzkräfte appellieren wir:
- –
Enthaltet Euch der Gewalt!
- –
Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt!
Wir sind ein Volk. Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.
Partei und Regierung müssen vor allem für die entstandene ernste Situation verantwortlich gemacht werden. Aber heute ist es an uns, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern, davon hängt unsere Zukunft ab.
Leipzig, den 9. Oktober 1989 | »Arbeitskreis Gerechtigkeit« | »Arbeitsgruppe« | »Menschenrechte« | »Arbeitsgruppe Umweltschutz«