Erscheinungen in den Kampfgruppen
15. Oktober 1989
Information Nr. 457/89 über einige beachtenswerte Erscheinungen in den Kampfgruppen der Arbeiterklasse im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Lageentwicklung
Zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wurden im Zeitraum des 40. Jahrestages der Gründung der DDR und im Zusammenhang mit der Abschiebung von ehemaligen DDR-Bürgern aus den BRD-Botschaften in Prag und Warschau in die BRD1 ca. 3 500 Angehörige der Kampfgruppen der Arbeiterklasse2 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie den Bezirken Dresden, Magdeburg, Suhl, Leipzig, Halle und Karl-Marx-Stadt im Rahmen von Sicherungseinsätzen direkt zum Einsatz gebracht und weitere ca. 7 100 Kampfgruppenangehörige aus sechs Bezirken (Berlin, Magdeburg, Dresden, Suhl, Halle und Karl-Marx-Stadt) in Bereitschaft versetzt.
Nach vorliegenden Hinweisen hat die überwiegende Mehrheit der Kämpfer eine hohe Einsatzbereitschaft gezeigt und im engen Zusammenwirken mit den Schutz- und Sicherheitsorganen sowie gesellschaftlichen Kräften die gestellten Aufgaben mit hoher Disziplin und Zuverlässigkeit realisiert.
In verschiedenen Einheiten der Kampfgruppen kam es im Verlaufe der Einsätze zu die Kampf- und Einsatzbereitschaft sowie den politisch-moralischen Zustand beeinträchtigenden Vorkommnissen, Handlungen und Erscheinungen.
Das findet seinen Ausdruck vor allem in
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der Ablehnung des vorgesehenen Einsatzes durch einzelne Kollektive und Kämpfer,
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Austrittserklärungen aus der SED und den Kampfgruppen sowie
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der Verweigerung von Befehlen.
Nach bisher vorliegenden Hinweisen erklärten z. B. 188 Kämpfer ihren Austritt aus den Kampfgruppen der Arbeiterklasse und 146 Kämpfer lehnten nach Erteilung des Einsatzbefehles dessen Durchführung ab.
Schwerpunkte bezüglich des Austrittes von Kämpfern aus der SED und den Kampfgruppen bilden die Bezirke Karl-Marx-Stadt (136), Leipzig (18) und Magdeburg (15). Die häufigsten Befehlsverweigerungen waren zu verzeichnen in Leipzig (85), Karl-Marx-Stadt (28) und Magdeburg (27).
Ausgewählte Beispiele:
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Nach der Alarmierung des I. KGB (Mot.) Karl-Marx-Stadt und der anschließenden Einweisung der Kämpfer legten neun Angehörige demonstrativ ihren Kampfgruppenausweis auf den Tisch und weitere 15 Kämpfer lehnten den Einsatz ab. Unter diesem Personenkreis befinden sich drei Gruppenführer und zwölf Mitglieder der SED.
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Während der Einweisung der 3. Hundertschaft in Karl-Marx-Stadt (Trägerbetrieb: VEB Großdrehmaschinenbau »8. Mai« Karl-Marx-Stadt) in die Sicherungsmaßnahmen bezüglich der Abschiebung von DDR-Bürgern, die sich rechtswidrig in der BRD-Botschaft in der ČSSR aufhielten, lehnten 23 Kämpfer die Durchführung des Einsatzbefehles ab und weitere neun Angehörige legten nach der Einweisung ihren Kampfgruppenausweis spontan auf den Tisch und verließen den Stützpunkt, sodass diese Einheit nicht zum Einsatz gebracht werden konnte.
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Im Kreis Plauen haben 115 Kampfgruppenangehörige ihren Austritt aus der Kampfgruppe mündlich und zum Teil schriftlich erklärt.
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Im Bezirk Gera gibt es ausnahmslos in allen Einheiten Kampfgruppenangehörige, welche die Teilnahme an Ordnungs- und Sicherungseinsätzen ablehnten.
Nach bisher vorliegenden ersten Erkenntnissen liegen derartigen Erscheinungen vor allem folgende Ursachen, Motive und begünstigende Bedingungen zugrunde:
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Unzureichende Vorbereitung der Kämpfer auf eine mögliche Konfrontation mit feindlichen, oppositionellen Kräften im Innern der DDR;
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ungenügende Einweisung der Kämpfer in die im Territorium entstandene Lage;
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Angst, gegen die Bevölkerung »Zwangsmaßnahmen« durchführen zu müssen, die zu Repressalien gegen sie oder ihre Familienangehörigen führen könnten;
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Ablehnung des Einsatzes in Zivil, mit Schlagstock und Bauarbeiterhelm;
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Auswirkungen feindlich-negativer Einflüsse, u. a. die Solidarisierung mit Forderungen der oppositionellen Bewegung »Neues Forum«3 in einzelnen Fällen.
Im Zusammenhang mit Sicherungseinsätzen zeigte sich eine Reihe von Kämpfern beeindruckt von oftmals massiven Beschimpfungen durch Demonstranten und Passanten mit solchen Rufen wie »Schande – Arbeiter gegen Arbeiter« und »Geburtstagsgeschenk der Obrigkeit«. Andererseits brachten viele Kämpfer nach den Einsätzen zum Ausdruck, dass derartige Maßnahmen schon zu früheren Zeitpunkten hätten durchgeführt werden müssen. In Fragen der Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit dürften wir uns niemals die Initiative aus der Hand nehmen lassen.
Die Untersuchungen des MfS, insbesondere zur weiteren Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen für die Kampf- und Einsatzbereitschaft der Kampfgruppen beeinträchtigende Faktoren, werden fortgeführt.
Die 1. Sekretäre der zuständigen territorialen Bezirks- und Kreisleitungen der SED wurden informiert.
Es wird vorgeschlagen zu prüfen, durch die zuständigen Organe unter Beachtung der Lageentwicklung entsprechende Untersuchungen/Überprüfungen durchzuführen und Schlussfolgerungen zur Gewährleistung der Kampf- und Einsatzbereitschaft und der Einstellung auf sich aus der Lage ergebende Erfordernisse abzuleiten.