Erste Reaktionen auf Erklärung des ZK der SED (Ergänzung)
16. Oktober 1989
Weitere Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED (Ergänzung der Information vom 13. Oktober 1989) [Bericht O/228b]
[Faksimile der »Ergänzungsinformation«]
Die in den o. g. Hinweisen herausgearbeiteten Grundtendenzen charakterisieren auch weiterhin die Reaktion der Bevölkerung auf die Erklärung des Politbüros des ZK der SED.1
In diesbezüglichen Meinungsäußerungen haben äußerst kritische Auffassungen an Umfang und Intensität zugenommen über die Wahrnehmung der Verantwortung der führenden Rolle durch die SED, darunter direkte Angriffe auf die Partei- und Staatsführung der DDR. Vor allem Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur, Angehörige der Intelligenz und Studenten, anwachsend aber auch Arbeiter und andere Werktätige in Kombinaten und Betrieben, darunter langjährige Mitglieder der SED und andere progressive Kräfte sowie Mitglieder und Funktionäre von befreundeten Parteien treten in diesem Sinne auf.
Die Verantwortung für die innenpolitische Lagezuspitzung in der DDR wird von o. g. Personenkreisen weitestgehend der Parteiführung der SED angelastet. Sie habe durch eine uneinsichtige Haltung und starres Festhalten an einer offensichtlich nicht umsetzbaren politischen Linie nicht wirksam auf die Zuspitzung der politischen Entwicklung in der DDR, insbesondere seit August dieses Jahres, reagiert und damit schweren politischen Schaden für die SED und die DDR herbeigeführt.
Progressive Kräfte verweisen darauf, dass sich viele Bürger stark verunsichert zeigen und dabei häufig Angst um die Zukunft zum Ausdruck bringen. Sie befürchten eine weitere Eskalation der Angriffe der Opposition, denen die Parteiführung nicht ausreichend flexibel und wirksam begegnen werde.
Progressive Kräfte schätzen ein, dass es in den Gesprächen in besorgniserregendem Umfang Meinungsäußerungen aus allen Bevölkerungsteilen, auch aus der Arbeiterklasse, gibt, in denen der Parteiführung das Vertrauen und die Verbindung zum Volk abgesprochen werden.
Die »Reformfähigkeit« der Parteiführung und ihr Wille dazu werden vielfach angezweifelt oder direkt in Abrede gestellt. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Forderungen nach einer Kaderverjüngung in der Parteiführung erhoben.
Die Erklärung des Politbüros des ZK der SED sei lediglich unter dem Druck der Ereignisse in der DDR abgegeben worden. Sie sei zwar das lang erwartete Zeichen von der Partei, käme aber zu spät und sei viel zu wenig konkret fassbar, um unter den Werktätigen mobilisierend zu wirken.
Von vielen Mitgliedern der SED und anderen progressiven Kräften in den Betrieben wird die Meinung geäußert, dass die Partei bisher nur mit Agitation die Probleme zu lösen versuche. Die Werktätigen und ihre Gewerkschaftsorganisation erwarten jedoch klare Antworten auf ihre langjährig angestauten Fragen zur ökonomischen Situation und vor allem das Aufzeigen konstruktiver Lösungswege. Wenn sich nicht kurzfristig etwas ändere, so wird geäußert, müsse mit entsprechenden Reaktionen auch seitens der Arbeiter gerechnet werden.
Zahlreiche Mitarbeiter zentraler staatlicher und wirtschaftsleitender Organe, Mitglieder und Funktionäre der SED erklären, nicht mehr zu akzeptieren, dass es im realen Sozialismus in der DDR Massenfluchten, Mangelerscheinungen, ökonomische Stagnation, offene Unzufriedenheit unter der Bevölkerung sowie lebensfremde Medienpolitik gäbe.
In zunehmendem Maße wird in diesem Zusammenhang Kritik geübt an den Genossen Mittag2 und Herrmann.3 Sie werden im Wesentlichen persönlich verantwortlich gemacht für die Situation in der Volkswirtschaft und den Vertrauensverlust in der Bevölkerung durch die Gestaltung der Medien- und Informationspolitik.
Immer nachdrücklicher wird besonders von Arbeitern in den Kombinaten und Betrieben gefordert, einen kontinuierlichen Zufluss von Material und Zulieferungen zu sichern. Wiederholt wird von klassenbewussten Arbeitern geäußert, wenn diese Mängel nicht überwunden werden, könne es zu spontanen Streikaktionen kommen.
Sie verweisen auch auf nachdrückliche Forderungen bezüglich
- –
der unverzüglichen Verbesserung des Warenangebots und des Dienstleistungsniveaus sowie
- –
der konsequenten Anwendung des Leistungsprinzips in allen Bereichen und damit im Zusammenhang stehender Veränderungen in der Lohnpolitik.
Viele Werktätige äußern, dass über grundlegende Veränderungen zu diesen Problemen bereits seit dem VIII. Parteitag der SED4 gesprochen werde und Aufgabenstellungen abgeleitet wurden, die nicht gelöst wurden.
In vielen Aussprachen in den Kombinaten und Betrieben wird darüber hinaus gefordert, ab sofort mit Schönfärberei und selbstherrlichen Darstellungen Schluss zu machen. Die Situation in den Betrieben muss real dargestellt werden. Die monatlich in den elektronischen und Zeitungsmedien ausschließlich positiven Planbilanzen werden in diesem Zusammenhang als Volksverdummung bezeichnet.