Erste Reaktionen der Bevölkerung auf Erklärung des ZK der SED
13. Oktober 1989
Erste Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED [Bericht O/228a]
[Faksimile der »Ergänzungsinformation«]
Vorliegenden Hinweisen zufolge ist die Erklärung der Parteiführung unter allen Bevölkerungskreisen außerordentlich interessiert aufgenommen worden.1 Sie wird in vielfältigen Diskussionen einer sehr differenzierten inhaltlichen Bewertung unterzogen, verbunden mit großen Erwartungshaltungen hinsichtlich der baldigen konkreten Umsetzung der darin enthaltenen grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft.
Progressive Kräfte äußern sich mehrheitlich zustimmend und mit großer Erleichterung über die Erklärung, die ihrer Meinung nach einen Schritt in die richtige Richtung darstelle. Sie erscheine als Ausgangsgrundlage geeignet, um Lösungsansätze für die Probleme im Land zu erarbeiten und die SED wieder in die Offensive zu bringen. Es sei damit endlich auf einen in Gang gekommenen Prozess reagiert worden, der nicht mehr aufzuhalten gewesen sei und dem nur durch eine offene Auseinandersetzung mit allen in letzter Zeit angehäuften Problemen und ihrer raschen Überwindung begegnet werden könne.
Häufig wurde jedoch die Frage aufgeworfen, warum eine solche Erklärung erst zum jetzigen Zeitpunkt erfolgte. Des Öfteren wird dabei von der Feststellung ausgegangen, dass durch die Partei- und Staatsführung in der Vergangenheit die Lage falsch eingeschätzt wurde und erst unter dem Druck der Ereignisse eine Korrektur im Herangehen an entstandene grundlegende Probleme vorgenommen wurde. Das Dokument sei zwar ein Indiz dafür, dass in der Parteiführung ein »Prozess des Nachdenkens« eingesetzt habe, ein rechtzeitigeres Reagieren hätte jedoch die Eskalation der Unzufriedenheit und des Vertrauensverlustes der Partei bei den Werktätigen verhindert.
Außerdem wird die unpersönliche Publikation dieser Erklärung bemängelt. Ihre Verlesung durch ein Mitglied des Politbüros des ZK der SED hätte den ernsthaften Willen der Parteiführung zur Bewältigung der Probleme noch unterstrichen.
Klassenbewusste Arbeiter in Großbetrieben, Mitarbeiter staatlicher und wirtschaftsleitender Organe sowie weitere progressive Kräfte begrüßen die klaren Aussagen hinsichtlich der Unantastbarkeit der Werte, Ideale und Errungenschaften des Sozialismus und der Nichterpressbarkeit der Arbeiter-und-Bauern-Macht.
Auf breite Resonanz stoßen bei diesen Personenkreisen auch die angekündigte Dialogbereitschaft der SED sowie die genannten Problemfelder. Sie stellten einen Gradmesser dafür dar, wie jeder Einzelne ehrlich gewillt ist, konstruktiv in diesem Prozess mitzuwirken.
Auch Kunst- und Kulturschaffende sowie kirchliche Amtsträger aus dem Bereich der Thüringer Landeskirche anerkennen die erklärte Dialogbereitschaft der Partei und erwarten Gespräche auf allen Ebenen unter Einbeziehung einer breiten Öffentlichkeit.
In zahlreichen bekannt gewordenen Meinungen von Arbeitern, Angehörigen der Intelligenz und Mitarbeitern zentraler staatlicher Organe werden aber auch Zweifel und Skepsis zum Anliegen und zur erfolgreichen Umsetzung der in der Erklärung enthaltenen Zielstellungen und Aufgaben geäußert.
So wurde wiederholt argumentiert, mit der Ankündigung, dass die nächste Tagung des ZK der SED Vorschläge im Sinne der strategischen Konzeption der Partei unterbreiten werde,2 wecke man Erwartungshaltungen, die angesichts der entstandenen innenpolitischen Situation kaum realisierbar erscheinen. Die Zeit bis zur nächsten ZK-Tagung reiche nicht aus, um eine tiefgründige Analyse des Zustandes der gesellschaftlichen Entwicklung zu erarbeiten und auf dieser Grundlage wissenschaftlich fundierte und ausgereifte Lösungswege anzubieten. Es bestünde die Gefahr, dass im Interesse einer schnellen Beruhigung der Lage kurzfristig Entscheidungen getroffen würden, die keine dauerhaften Lösungen darstellten und sich nachhaltig auf die angespannte Zahlungsbilanz der DDR auswirken könnten.
Vor allem Arbeiter zeigten sich enttäuscht darüber, dass die Erklärung keine selbstkritische Einschätzung der Parteiführung über getroffene Fehlentscheidungen und keine deutlichen Aussagen über die Ursachen der derzeitigen innenpolitischen Lage enthalte. Man habe auch konkretere Aussagen zu jenen, alle Werktätigen im Alltag ständig berührenden Fragen erwartet. Offensichtlich seien dem Politbüro der Ernst der Lage und die Tragweite der Ereignisse immer noch nicht in vollem Umfang bewusst.
Leitende Funktionäre befreundeter Parteien trafen die Feststellung, die Erklärung sei zunächst nur als Mittel zur Beruhigung der Lage aufzufassen. Die Zeit werde zeigen, welchen Wert sie tatsächlich habe.
Angehörige der Intelligenz schätzten ein, die Erklärung lasse eindeutig bestimmte Entwicklungsrichtungen vermissen. Der Hinweis auf die Erörterung von Vorschlägen auf der nächsten ZK-Tagung lasse den Schluss zu, dass eine »Hinhaltetaktik« betrieben werde. Außerdem sei zu bezweifeln, dass diese gewaltigen Aufgabenstellungen mit der derzeitigen Parteiführung zu realisieren seien.
Generell wird bemängelt, dass die Erklärung keine genaue Terminfestlegung für die Durchführung des Plenums enthält.
Progressive Kräfte vertreten die Auffassung, die innenpolitische Lage in der DDR sei dermaßen explosiv, dass eine kurzfristige Anberaumung der Plenartagung unbedingt erforderlich sei. Wenn nicht bald konkrete Entscheidungen getroffen würden, so schätzen sie ein, gingen die Arbeiter auf die Straße.
Der Erklärung des Politbüros würde nur eine kurze Zeit der Beruhigung folgen, wenn nicht bald weiterführende und prinzipielle Veränderungen eingeleitet werden. Damit verbunden wird die Forderung, mit diesen Veränderungen jetzt und nicht erst zum bzw. nach dem XII. Parteitag zu beginnen.3
Die von unterschiedlichsten Kreisen der Bevölkerung ausgesprochenen Erwartungshaltungen konzentrieren sich vor allem auf folgende Probleme: Gerechnet werde mit einer kritischen Analyse und Bewertung der gegenwärtigen Entwicklungsprobleme, einschließlich der Benennung ihrer Ursachen und Verantwortlichkeiten sowie der Vorlage konkreter Lösungsmöglichkeiten.
Weiter wird argumentiert, im Ergebnis des Dialogs mit der Bevölkerung müssten für alle Werktätigen spürbare Veränderungen eingeleitet werden, die die Ernsthaftigkeit des Willens der Parteiführung für die Überwindung der Probleme unter Beweis stellen.
Immer wieder werden in diesem Zusammenhang genannt:
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Qualitative und quantitative Verbesserung des Warenangebotes, einschließlich der Ersatzteilversorgung
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Erhöhung des Dienstleistungsniveaus
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Veränderungen des Lohn-Preis-Gefüges
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Aufhebung der zeitweiligen Einschränkungen des pass- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der ČSSR für DDR-Bürger4
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grundlegende Veränderungen in der Medienpolitik.
Darüber hinaus bestehen vor allem unter Angehörigen der Intelligenz bereits mit Blick auf den XII. Parteitag Erwartungshaltungen hinsichtlich des Ingangsetzens eines Prozesses der Erarbeitung neuer Gesellschafts- und Sozialismuskonzeptionen in der DDR.
Internen Einzelhinweisen zufolge werten reaktionäre kirchliche Amtsträger sowie Anhänger und Sympathisanten des »Neuen Forums«5 die Erklärung als eine Reaktion der SED auf die Forderungen der »Opposition« und auf die jüngsten Demonstrationen in der DDR.
Der Inhalt der Erklärung wird von ihnen als Kompromiss der unterschiedlichen Strömungen im Politbüro angesehen.
Mit dieser Positionierung der Parteiführung seien gewisse Weichen in Richtung Dialog und weg von Konfrontation gestellt und damit Voraussetzungen für einen gemeinsamen Konsens zur Herbeiführung von Veränderungen geschaffen worden.
Jetzt gelte es, so äußern sie sich, die Parteiführung beim Wort zu nehmen.
Die getroffene Feststellung, wir hätten alle erforderlichen Formen und Foren der sozialistischen Demokratie, wird in diesem Sinne als ein »Schlüsselsatz« bewertet, den sie sich für ihre Arbeit in den Gruppen nutzbar machen werden.
Unter Hinweis auf die Aufgabenstellung, die Medien lebensnaher zu gestalten, erheben o. g. Kräfte die Forderung nach Veröffentlichung auch ihrer »Materialien« in den Medien.