Feindlich-negative Kräfte Leipzig, Ermordung Karl+Rosa
16. Januar 1989
Information Nr. 25/89 über Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte in Leipzig im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg
Am 12. Januar 1989 wurden gegen 2.00 Uhr eine männliche Person (26 Jahre, Ingenieur für Instandhaltung im VEB Braunkohlenkombinat Borna, Betriebsteil Espenhain) und eine weibliche Person (19 Jahre, Buchhalterin in der »Inneren Mission« Leipzig) auf frischer Tat bei der Verbreitung von Hetzflugblättern in Leipzig-Gohlis gestellt und zugeführt.
In diesen Flugblättern, deklariert als »Aufruf an alle Bürger der Stadt Leipzig«, wurde zur Durchführung eines sogenannten Schweigemarsches »für eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates« am 15. Januar 1989 in Leipzig unter Missbrauch des 70. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht1 und Rosa Luxemburg2 aufgerufen3 (Wortlaut siehe Anlage 1).4
Bei den Genannten wurden 102 Exemplare sichergestellt. Ca. 150 Exemplare hatten sie nach eigenen Angaben bereits in Hausbriefkästen zur Verteilung gebracht. Im Ergebnis ihrer Erstvernehmungen wurden weitere neun Personen zugeführt, die an dieser provokatorisch-demonstrativen Aktion teilgenommen hatten. Dabei handelt es sich um sechs männliche Personen im Alter von 22 bis 27 Jahren (drei Personen ohne Arbeitsrechtsverhältnis, ein Student, ein Krankenpfleger bei der Inneren Mission, ein Tischler bei einer Privatfirma) sowie um drei weibliche Personen im Alter von 18 bis 24 Jahren (eine Studentin, eine pflegerische Hilfskraft, eine Sachbearbeiterin).5
Gegen alle elf Personen wurden Ermittlungsverfahren mit Haft wegen gemeinschaftlich begangener Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit gemäß § 214 Absatz 1 und 3 StGB eingeleitet.6 Unter Berücksichtigung ihrer Tatbeteiligung wurden die Haftbefehle gegen vier Personen aufgehoben. Die gegen sie eingeleiteten Ermittlungsverfahren werden ohne Haft weiter bearbeitet. In Abhängigkeit von der Sachverhaltsklärung werden weitere Differenzierungsmaßnahmen geprüft.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben: Alle elf Personen gehören unterschiedlichen Gruppierungen an, die von dem Pfarrer der Lukasgemeinde Leipzig, Wonneberger,7 betreut werden. Mehrere von ihnen waren bereits im Oktober 1988 mit die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Handlungen in Erscheinung getreten. (Sie hatten im Anschluss an ein sogenanntes Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche vor der Kirche einen Protestbrief, gerichtet an den Staatssekretär für Kirchenfragen, verlesen, in dem gegen das Vorgehen der Sicherheitsorgane am 10. Oktober 1988 im Zusammenhang mit der provokatorischen Aktion politisch negativer Kräfte vor dem Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in der Hauptstadt der DDR8 und gegen die staatliche Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse protestiert wurde.)9
Entsprechend den Aussagen der Beschuldigten hatten sie sich verabredet, diese Flugblattaktion auf der Grundlage festgelegter und aufgeteilter Verbreitungsbereiche in Gruppen zu je zwei Personen durchzuführen. Sie waren auf eine mögliche Verhaftung eingestellt. Nach Abschluss der Aktion sollte eine telefonische Rückmeldung bei einem namentlich bekannten Ehepaar in Leipzig erfolgen. Die Ehefrau gehört einer sogenannten Arbeitsgruppe »Frauen für den Frieden« in Leipzig an.10
Vorliegenden Hinweisen zufolge wurden ca. 750 Flugblätter verbreitet. Insgesamt konnten im Ergebnis von Wohnungsdurchsuchungen 3 457 Flugblätter sichergestellt werden. Ihre Herstellung erfolgte mittels Wachsmatrizen bzw. im Ormig-Verfahren in den Formaten A4 und A5.
Die Untersuchungen zur weiteren Aufklärung der Organisatoren und Hintermänner dieser provokatorisch-demonstrativen Aktion und der damit verfolgten Zielstellung sowie der Tatbeteiligung der jeweiligen Personen werden intensiv fortgesetzt.
Am 15. Januar 1989, nach 16.00 Uhr, rotteten sich ca. 150 bis 200 Personen vor dem Untergrundmessehaus im Stadtzentrum von Leipzig zusammen. Durch eine männliche Person wurde ein vorbereiteter Text verlesen, in dem zur Teilnahme an dem in den Hetzflugblättern angekündigten Schweigemarsch aufgerufen wurde.11 Danach setzte sich diese Personengruppierung in Richtung Neues Rathaus in Bewegung.12 Es wurden keine Symbole mitgeführt. Da die Teilnehmer den wiederholten Aufforderungen der Deutschen Volkspolizei nach Auflösung des Marsches nicht Folge leisteten, erfolgte durch die Schutz- und Sicherheitsorgane die Zuführung von insgesamt 53 Personen. Die erfolgten Befragungen der Zugeführten ergaben, dass 24 in Kenntnis des Inhalts des Hetzflugblattes und weitere 23 entsprechend der Aufforderung der männlichen Person an dieser provokatorisch-demonstrativen Aktion teilnahmen.
Fünf waren durch Bekannte zur Teilnahme aufgefordert worden und eine Person befand sich unter starkem Alkoholeinfluss.
Alle zugeführten Personen wurden auf der Grundlage des VP-Gesetzes belehrt und zeitlich versetzt nach Abschluss der Verdachtsprüfungshandlungen bis 22.00 Uhr entlassen.13
Korrespondenten aus dem nichtsozialistischen Ausland wurden im Handlungsraum nicht festgestellt. An der Aufklärung weiterer tatbeteiligter Personen wird gearbeitet.
Streng internen Hinweisen zufolge informierte ein dem MfS bekannter Organisator politischer Untergrundtätigkeit in der Nacht vom 14. zum 15. Januar 1989 das Mitglied der Partei Die Grünen in der BRD, Gerd Bastian,14 über die erfolgten Festnahmen in Leipzig und bat ihn, eine ähnliche »Solidaritätsaktion« auszulösen wie anlässlich der Ereignisse im Januar 1988.15 Darüber hinaus übermittelte er dem in Westberlin ansässigen Inspirator feindlicher Aktivitäten gegen die DDR, Roland Jahn,16 eine Protesterklärung, bezeichnet als »Erklärung 1/89 der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹« (Wortlaut siehe Anlage 2).
Es wird vorgeschlagen, seitens des Staatssekretärs für Kirchenfragen den Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Hempel17 (Dresden) und seitens des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres den Superintendenten Magirius18 (Leipzig) entsprechend zu informieren. Dabei sollte mitgeteilt werden, dass es sich bei den schwerwiegenden Straftaten einer Gruppe von Personen um eine organisierte politische Provokation unter Missbrauch des 70. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg handelt, die darauf abzielt, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche erheblich zu belasten und die bereits durch westliche Massenmedien zu einer erneuten Hetz- und Verleumdungskampagne gegen die DDR genutzt wurde. Darüber hinaus sollte mitgeteilt werden, dass es sich bei den Tätern teilweise um in kirchlichen Einrichtungen tätige bzw. kirchlichen Basisgruppen angehörende Personen handelt.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage 1 zur Information Nr. 25/89
[Abschrift des Flugblatts] »Aufruf an alle Bürger der Stadt Leipzig«
70. Jahrestag der Ermordung zweier Arbeiterführer – Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, und wieder werden Tausende Werktätige verpflichtet, einer Kundgebung »beizuwohnen«, bei der die Redner die jährlich wiederkehrenden Ansprachen halten. Beide Arbeiterführer traten für die allumfassenden politischen und ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse ein, so auch für ein ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben, für eine ungehemmte Presse, für allgemeine Wahlen und den freien Meinungskampf.
Menschen, die dieses Vermächtnis unter Berufung auf die Verfassung unseres Landes nach 40 Jahren DDR-Geschichte in Anspruch nehmen, werden immer wieder kriminalisiert.
Der Tag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht soll uns Anlass sein, weiter für eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates einzutreten. Es ist an der Zeit, mutig und offen unsere Meinung zu sagen: Schluss mit der uns lähmenden Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit: Lassen Sie uns gemeinsam eintreten
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für das Recht auf freie Meinungsäußerung,
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für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,
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für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift »Sputnik«19 und kritischer sowjetischer Filme.20
Um nicht die offizielle Kundgebung in ihrem eigenen Anliegen zu stören, rufen wir Sie auf, gemäß Artikel 27 und 28 der Verfassung,21 sich am 15. Januar 1989 um 16.00 Uhr auf dem Markt vor dem Alten Rathaus zu versammeln, abschließend ist ein Schweigemarsch mit Kerzen zu der Gedenkstätte in der Brautstraße vorgesehen.
»Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Land, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist.« Rosa Luxemburg aus gesammelte Werke Band 4, Ausg. 1914–1919, S. 358–364.
Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft
Anlage 2 zur Information Nr. 25/89
[Abschrift der] Erklärung 1/89 der »Initiative Frieden und Menschenrechte«
Ein Jahr nach den Ereignissen um die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration 1988 sind elf Mitglieder von Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Leipzig am 12. bis 14.1.1989 verhaftet worden.
Die Namen der Verhafteten sind folgende: (Namen werden beim Gesprächspartner vorausgesetzt und deshalb nicht genannt.)
Wir fordern die unverzügliche Freilassung der Inhaftierten und die Einstellung der Ermittlungsverfahren.
Vor einem Jahr erlebten wir als Betroffene eine nie dagewesene nationale und internationale Solidarität.
Die Verantwortlichen für diesen erneuten Willkürakt rechnen offenbar damit, dass diese Solidarität nicht wieder in einem solchen Maße zustande kommen wird, da die Aktivitäten unserer Freunde in Leipzig nicht so im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen wie vielleicht vergleichbare in Berlin.
Damit diese Rechnung nicht aufgeht, bitten wir all jene, die für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten, um ihre Solidarität.