Feindliche Aktivitäten zu den Volkswahlen
3. August 1989
Information Nr. 367/89 über erste Hinweise zu Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte im Zusammenhang mit den Volkswahlen
Streng internen Hinweisen zufolge bereiten sich feindliche, oppositionelle Kräfte, darunter insbesondere Inspiratoren und Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit, reaktionäre kirchliche Personenkreise und Mitglieder sogenannter kirchlicher Basisgruppen,1 und weitere negative Kräfte im engen Zusammenwirken mit sozialismusfeindlichen Kräften im nichtsozialistischen Ausland und in der DDR akkreditierten westlichen Korrespondenten langfristig auf einen politischen Missbrauch der Volkswahlen vor. Dabei legen sie den entsprechenden geplanten Aktivitäten Erkenntnisse und Erfahrungen zugrunde, die sie aus der Begehung der hinreichend bekannten feindlich-negativen Handlungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Ergebnisse des Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 gewonnen haben.2
In der Grundtendenz wird sichtbar, dass diese Personenkreise weiterhin den demokratischen Charakter unserer Wahlen infrage stellen und mit größter3 Zielstrebigkeit eine Veränderung des Wahlsystems, die Schaffung von Spielraum für unkontrollierte gesellschaftspolitische Bewegungen und damit von Voraussetzungen für ein legales Wirksamwerden anstreben mit der Absicht, das politische System des Sozialismus in der DDR zu verändern und die bestehenden politischen Machtverhältnisse in der DDR zu destabilisieren.
Darin einzuordnen sind die von feindlichen, oppositionellen und anderen negativen Kräften im Zusammenhang mit den Volkswahlen – immer wieder mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten4 – erhobenen und über diesen Anlass hinausgehenden, zunehmend ultimativ und aggressiv formulierten Forderungen auf Veränderung des innenpolitischen Kurses der DDR in Richtung Liberalisierung, mehr Demokratie und politischer Pluralismus westlicher Prägung.
In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass sogenannte kirchliche Basisgruppen – bisher liegen interne Erkenntnisse hierzu aus der Hauptstadt und den Bezirken Schwerin und Karl-Marx-Stadt vor – im Hinblick auf die Volkswahlen
- –
Forderungen nach einer Reformierung/Veränderung des Wahlsystems stellen, die darauf abzielen, im Rahmen der Wahlbewegung einen umfassenden, auch alternativen politischen Meinungspluralismus zu entfachen, die Aufstellung sogenannter unabhängiger Kandidaten aus ihren Kreisen für die Volksvertretungen zu ermöglichen und das Prinzip freier und geheimer Wahlen nach westlichem Muster durchzusetzen;
- –
darauf orientieren, ein lückenloses System sogenannter flächendeckender Kontrollen bzw. Überwachungen der Wahlhandlungen und Stimmenauszählungen in allen Wahllokalen – einschließlich der Sonderwahllokale – der DDR zu schaffen mit dem Ziel, durch umfassende Präsenz angebliche »Wahlmanipulationen« zu verhindern bzw. vermeintliche »Fälschungen« der Wahlergebnisse republikweit zu erkennen und öffentlichkeitswirksam bekannt zu machen.
Besonders bedeutsam sind erste Hinweise, wonach von Mitgliedern der bekannten personellen Zusammenschlüsse »Friedenskreis der Bartholomäus-Gemeinde«5 und »Initiativgruppe Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«6 (beide Berlin) mit Datum vom 1. Juli 1989 ein »offener Brief an Christen und Nichtchristen in der DDR«7 in Umlauf gebracht wurde – bisher nur im kirchlichen Bereich festgestellt –, in dem unter Bezugnahme auf die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 behauptet wird, »die Wahlergebnisse« seien »in den amtlichen Mitteilungen massiv gefälscht« worden. Daraus wird die Frage abgeleitet: »Soll unser politisches System weiter in Stagnation verharren?« und der Schluss gezogen: »Dringend notwendig ist eine Reform des Wahlrechtes, die das Wahlgeheimnis garantiert und dem Bürger die Möglichkeit gibt, wirklichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretungen zu nehmen. Dies setzt die Zulassung unabhängiger Interessengemeinschaften entsprechend der verfassungsrechtlich garantierten Vereinigungsfreiheit voraus. Gesellschaftliche Fragen gehen alle an und müssen durch offene Aussprachen geklärt werden.«
In dem bekannten nicht genehmigten Druckerzeugnis »Wahlfall 89 – Eine Dokumentation«; erarbeitet durch die »Koordinierungsgruppe Wahlen« (erstmals auf einer Veranstaltung am 8. Juni 1989 in der Gethsemanekirche Berlin verbreitet;8 enthält auf 28 Seiten bekannte »Erklärungen«, »Offene Briefe«, Eingaben9 feindlicher, oppositioneller u. a. negativer Kräfte in Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Kommunalwahlen) heißt es in einer »Erklärung« zur »Information unabhängiger Gruppen über die von den Behörden niedergeschlagene Demonstration am 7. Juni in Berlin«10 u. a.: »Die Ereignisse haben wieder einmal die Dringlichkeit einer öffentlichen Kontrolle nicht nur der Wahlen, sondern auch der übrigen behördlichen Maßnahmen bewiesen. Macht darf nicht mehr länger im Namen des Volkes und auf dem Rücken der Bevölkerung stattfinden. Wenn die Herrschenden ihren demokratischen und sogar sozialistischen Anspruch noch länger aufrechterhalten wollen, müssen sie jetzt einen Dialog mit der Bevölkerung beginnen und einen Versuch mit Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit machen.«11
Aus der Sicht des eingangs dargestellten Zieles, das feindliche, oppositionelle u. a. negative Kräfte im Zusammenhang mit den Volkswahlen anstreben, sind auch erste intern bekannt gewordene Hinweise über anlassbezogene Verhaltensweisen kirchenleitender Kräfte der evangelischen Kirchen in der DDR beachtenswert.
So brachte der Vorsitzende der KKL, Landesbischof Dr. Leich,12 während einer Sitzung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen am 22. Mai 1989 u. a. zum Ausdruck, man wolle in Vorbereitung der nächsten Wahlen von der Regierung der DDR fordern, dass eine konkrete Veröffentlichung zum Umgang mit den Wahlscheinen erfolgt, um genau zu wissen, wann Gültigkeit und wann Ungültigkeit besteht.13
Entsprechend dieser Orientierung verabschiedete die KKL auf ihrer 124. Tagung am 2./3. Juni 1989 in Berlin eine »Meinungsbildung zu Anfragen, im Zusammenhang mit der Kommunalwahl«.14 Darin wird u. a. »eine Weiterentwicklung des Wahlverfahrens« gefordert und in diesem Zusammenhang schlussfolgernd festgestellt: »Wählen heißt, sich entscheiden. Es reicht nicht aus, sich zwischen Zustimmung und Verweigerung entscheiden zu können, sondern es müssen Alternativen zur Wahl stehen. Die Vorgänge im Rahmen der Kommunalwahlen 1989 zeigen, dass eine striktere Einhaltung der bestehenden Gesetzlichkeit und Korrekturen an der Wahlgesetzgebung nicht ausreichen. Es muss eine grundlegende Reformierung des Wahlrechts erfolgen, die dem einzelnen Bürger ermöglicht, sich aktiv in die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zu seinen Vertretungen einzubringen. Diese Reform erscheint uns nur im Zusammenhang mit einem umfassenden Demokratisierungsprozess möglich, der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bereiche umfasst. Dabei könnten die Erfahrungen der Umgestaltungsprozesse in der Sowjetunion, in Ungarn und Polen mit einbezogen werden.«
Der Konsistorialpräsident der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg, Stolpe,15 unterstrich auf dem vom 6. bis 9. Juli 1989 in Leipzig stattgefundenen Kirchentagskongress/Kirchentag der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens die Notwendigkeit eines »neuen Wahlmodus« und einer »Neugestaltung der Stimmzettel«. Er forderte, »in Zukunft die Wahlergebnisse aus allen Wahllokalen zu veröffentlichen« und ein »reformiertes Wahlrecht« zu schaffen, »bei dem ein ehrliches und plurales Ergebnis herauskommen könnte«.
In diesem Zusammenhang ist auch beachtenswert, dass Bischof Forck16 wiederholt zum Ausdruck brachte, er habe bisher auf Eingaben an zentrale staatliche Organe, in denen er »eindeutige Auskünfte« über angeblich festgestellte »Differenzen« in den Wahlergebnissen anlässlich der Kommunalwahlen gefordert hätte, noch keine Antwort erhalten. Er werde deshalb dieses Problem immer wieder ansprechen, bis er von kompetenten Vertretern des Staates eine »angemessene« Auskunft bekäme.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.