Formierung DDR-weiter Sammlungsbewegungen
9. Oktober 1989
Information Nr. 451/89 über die weitere Formierung DDR-weiter oppositioneller Sammlungsbewegungen
Bei den andauernden intensiven Aktivitäten feindlicher, oppositioneller Kräfte zur Formierung DDR-weiter oppositioneller Sammlungsbewegungen sind folgende Entwicklungstendenzen/Handlungen beachtenswert:
1. Die Propagierung und Profilierung des »Neuen Forums«1 wird DDR-weit forciert.
Unterstützend und begünstigend wirken dabei
- –
die massierte Hetz- und Verleumdungskampagne des Gegners (beruht vor allem auf ein sich weiter eskalierendes abgestimmtes Zusammenwirken von Vertretern westlicher bürgerlicher Medien mit feindlichen, oppositionellen Elementen und der durchgängigen Präsenz solcher Medienvertreter an den Ausgangspunkten feindlicher bzw. provokatorisch-demonstrativer Aktivitäten);
- –
die auf das Interesse bestimmter Teile der Bevölkerung stoßenden Ziele und Inhalte des »Neuen Forums«;
- –
die breite, demonstrative Bekundung insbesondere reaktionärer Amtsträger der evangelischen Kirchen für diese oppositionelle Bewegung.
Der sogenannte Gründungsaufruf2 wird weiter in allen Bezirken der DDR und allen gesellschaftlichen Bereichen bekannt gemacht, verbreitet und diskutiert. Er findet unter einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung Resonanz und Zustimmung, zum Teil bekundet durch Unterschriftenleistung.
Kirchliche Veranstaltungen nehmen dabei einen besonderen Stellenwert ein. Es ist festzustellen, dass bei öffentlicher Ankündigung von Veranstaltungen in kirchlichen Räumen zur Thematik »Neues Forum« (auch bezogen auf andere oppositionelle Sammlungsbewegungen) eine überdurchschnittliche Besucherresonanz erreicht wird und Teilnehmerzahlen zwischen 1 000 und 2 000 Personen nicht selten sind. So musste z. B. eine am 4. Oktober 1989 in einer Kirche in Potsdam-Babelsberg vorgesehene Veranstaltung, zu der erfahrungsgemäß 100 bis 150 Personen erwartet wurden, wegen des Erscheinens von fast 3 000 Interessenten zweimal wiederholt werden. In einigen Fällen, so u. a. in Leipzig und Magdeburg, waren derartige themenbezogene Veranstaltungen in kirchlichen Räumen – ungeachtet wiederholter Erklärungen und Appelle von Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums«, so der Bohley,3 zur Besonnenheit und Vermeidung von Gewalt – Ausgangspunkte für anschließende öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktivitäten.
(Vorliegenden Hinweisen zufolge ist einzuschätzen, dass die Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« die sich aus einer gewissen Eigendynamik der Entwicklung der Sammlungsbewegung ergebenden organisatorischen und führungsmäßigen Probleme gegenwärtig nicht beherrschen.)
Immer wieder treten kirchliche Amtsträger als Initiatoren der Sammlung von Unterschriften für das »Neue Forum« in Erscheinung. Nach intern vorliegenden Hinweisen habe der bekannte Pfarrer Tschiche4 (Magdeburg) in seinem Wirkungskreis ca. 1 000 Unterschriften gesammelt. Nach Äußerungen von Führungskräften des »Neuen Forums« solle der Personenkreis, der als Mitglied/Sympathisant der »Bewegung« angesehen werde, eine Stärke von ca. 8 000 Personen ausmachen, davon etwa die Hälfte aus der Hauptstadt der DDR, Berlin.
Diese Personen repräsentieren fast alle Schichten der Bevölkerung, jedoch nur in geringem Umfang Werktätige aus produktiven Bereichen. Weiter zunehmendes Interesse findet das »Neue Forum« unter der wissenschaftlich-technischen, medizinischen und pädagogischen Intelligenz, allgemein unter Jugendlichen und zunehmend unter Studenten fast aller Studieneinrichtungen. Vorliegende Hinweise lassen die Einschätzung zu, dass das Interesse dabei oftmals mehr den propagierten Inhalten/Forderungen des »Neuen Forums« gilt als der Sammlungsbewegung an sich und deren Organisierung/Profilierung.
Im kulturell-künstlerischen Bereich wirkt das »Neue Forum« besonders über die bekannte Resolution von Unterhaltungskünstlern vom 18. September 1989,5 die ebenfalls nach wie vor popularisiert wird und die Ausgangspunkt weitergehender Erklärungen, Appelle, Stellungnahmen udgl. ist. Die in diesem Bereich ablaufenden Prozesse des Auseinandersetzens mit aktuellen Problemen der Innenpolitik weisen jedoch deutliche Tendenzen einer relativen Eigenständigkeit auf und sind nicht mit der Profilierung des »Neuen Forums« gleichzusetzen.
Nach vorliegenden Hinweisen setzen die Führungskräfte des »Neuen Forums« ihre intensiven Bestrebungen fort, sich nach Ablehnung ihres Antrages zur Bildung einer Vereinigung als »politische Bürgerinitiative« zu formieren. (Die Versuche der Einbeziehung von Rechtsanwalt Gysi6 in die Durchsetzung ihrer Legalisierungsbestrebungen bekräftigen die Absicht hinsichtlich des Festhaltens an den gegen den Staat gerichteten Zielen.)
In allen Bezirken der DDR bestehen zumeist mit Kontaktadressen benannte sogenannte Bezirksorganisationen des »Neuen Forums«, in der Hauptstadt Berlin nehmen in den Stadtbezirken sogenannte Arbeitsgruppen diese Funktion wahr; aus drei Bezirken liegen Hinweise über beantragte Zulassungen von Kreisorganisationen vor, zum Teil mit anderen Bezeichnungen (u. a. Gadebusch, [Bezirk] Schwerin – »Medium Nordwest«).
Am 14. Oktober 1989 ist, nach streng intern vorliegenden Hinweisen, in Räumen der Sophienkirchengemeinde in der Hauptstadt Berlin eine zentrale Zusammenkunft von Erstunterzeichnern des sogenannten Gründungsaufrufes des »Neuen Forums«, von »Kontaktadressen« sowie Sympathisanten vorgesehen. Auf diesem Treffen sollen Fragen beraten und Festlegungen getroffen werden u. a. zur Beseitigung des noch bestehenden »programmatischen Defizits« (u. a. durch Erarbeitung bzw. Bestätigung weiterer Papiere konzeptionellen Charakters), zur Formierung des Führungszentrums (um die Bohley) sowie der territorialen »Organisationen« (u. a. Fortsetzung der Versuche der Anmeldung von Kreisorganisationen), zum künftigen Wirksamwerden in der Öffentlichkeit sowie der Erfassung der Sympathisanten (zentrale computergestützte Erfassung, u. a. nach berufsspezifischen Gesichtspunkten).
Als Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« agierende Kräfte, darunter die Bohley, Pflugbeil,7 Prof. Reich,8 stehen in fast ununterbrochenem Kontakt mit bekannten Schaltstellen subversiven Vorgehens gegen die DDR in Westberlin (u. a. Hirsch9), mit anderen ehemaligen DDR-Bürgern, mit Führungskräften der »Alternativen Liste« (AL)/Westberlin sowie mit der Mehrzahl in der DDR akkreditierter Korrespondenten bürgerlicher Medien (besonders der BRD) und zum Teil mit akkreditierten Diplomaten des westlichen Auslands.
Diese Personen werden über alle Schritte des Vorgehens des »Neuen Forums« und dabei erzielter »Ergebnisse«/Wirkungen informiert; es erfolgt eine Abstimmung zum weiteren Vorgehen, zu »Unterstützungshandlungen« der Medien für das »Neue Forum« usw. Ausdruck und ein Ergebnis dieses Zusammenwirkens ist auch die auf Initiative führender Mitglieder des Bereiches »Berlin-Politik« der »AL« am 6. Oktober 1989 in Westberlin vollzogene Konstituierung eines »Neuen Forums/West«10. Mit diesem Zusammenschluss wolle man seitens der dahinterstehenden Kräfte (u. a. der ehemalige DDR-Bürger Herzberg11) durch »abgestimmtes Vorgehen eine aktive Unterstützung« des »Neuen Forums« in der DDR erreichen.
Streng intern vorliegenden Hinweisen zufolge bemühen sich Kräfte von »Solidarność«12 um Kontakte zum Führungskreis des »Neuen Forums«.
2. In Umsetzung der von der sogenannten Initiative zur Schaffung einer sozialdemokratischen Partei verfolgten Ziele und Absichten (siehe Informationen des MfS Nr. 386/89 vom 4. September 1989 und Nr. 416/89 vom 19. September 1989) erfolgte am 7. Oktober 1989 illegal die Gründung einer »Sozialdemokratischen Partei in der DDR – SDP«.13 Dazu liegen folgende Hinweise vor:
Am 7. Oktober 1989 fand in der Zeit von 10.30 Uhr bis gegen 20.00 Uhr im evangelischen Gemeindehaus Schwante, Kreis Oranienburg, eine Zusammenkunft von über 40 Personen aus der Hauptstadt der DDR, Berlin (Mehrzahl) sowie den Bezirken Dresden, Gera, Magdeburg, Neubrandenburg, Potsdam und Rostock statt. Unter diesen befand sich eine Reihe kirchlicher Amtsträger, im kirchlichen Dienst stehender und aus religiösen Elternhäusern kommender Personen, die bekannten Unterzeichner des sogenannten Aufrufes der »Initiativgruppe« vom 12. September 1989,14 die Pfarrer Gutzeit15 (Potsdam), Meckel16 (Magdeburg), Noack17 (Rostock) sowie das Mitglied des personellen Zusammenschlusses »Initiative Frieden und Menschenrechte« Berlin,18 Manfred Böhme.19
Pfarrer Meckel hielt eine »programmatische« Rede und versuchte die Notwendigkeit der Bildung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR u. a. damit zu begründen, dass der Begriff »Sozialismus« für die Massen wertlos geworden sei und die SED keine Reformfähigkeit zeige, sodass eine sozialdemokratische Orientierung in Staat und Gesellschaft erforderlich wäre. Im Ergebnis der geführten Diskussionen – Grundlage bildete der genannte Aufruf der »Initiativgruppe« – wurden als konzeptionelle Dokumente der »SDP« fertiggestellt eine sogenannte Gründungsurkunde, ein Statut und ein Anhang zum Statut, in welchem »Grundpositionen zur Erarbeitung des Parteiprogrammes« dargelegt sind (Papiere als Anlage 1 der Information beigefügt). Aufgestellt wurde ferner eine 31 Anschriften von Personen aus fast allen Bezirken der DDR umfassende Liste mit »Kontaktadressen zur Gründung von Ortsverbänden der SDP«.
Mit dem Verlesen der »Gründungsurkunde« durch Pfarrer Meckel betrachteten die Anwesenden die Gründung der »SDP« als vollzogen, was in einem Schreiben an das MdI offiziell mitgeteilt werden soll. Bei allen Personen bestand Klarheit über die Rechtslage (nicht genehmigte Bildung einer Vereinigung) und möglichen, daraus resultierenden persönlichen Konsequenzen.
Im Anschluss daran wurden die »Leitungsgremien« gewählt wie
- –
Vorstand (insgesamt 15 Personen, davon sieben Pfarrer; Vorstandsmitglieder sind u. a. Gutzeit, Meckel, Noack, Böhme),
- –
Geschäftsführung (Böhme),
- –
Geschäftsführender Ausschuss (drei Sprecher),
- –
Schatzmeister,
- –
zwei Vertreter in der »Sozialistischen Internationale« (u. a. die Katechetin Ursula Kaden,20 Stralsund)
und Festlegungen zur Finanzierung getroffen.
Zum Gesamtverlauf der Zusammenkunft wurde ein Tonbandmitschnitt gefertigt, zeitweise erfolgten Videoaufzeichnungen (Vertreter westlicher Medien waren nicht anwesend).
Ende des Monats Oktober 1989 beabsichtigt der »Parteivorstand«, zu einer Schulung zusammenzukommen.
3. Beachtenswert für die weitere Formierung unterschiedlichster oppositioneller Sammlungsbewegungen in der DDR ist eine sogenannte Gemeinsame Erklärung21 (Anlage 2), in der unterschriftlich Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« (u. a. Pflugbeil), des »Demokratischen Aufbruchs«22 (u. a. Eppelmann23), der »SDP« (u. a. Gutzeit und Böhme), der »Bürgerbewegung Demokratie Jetzt«24 sowie verschiedenster bekannter personeller Zusammenschlüsse wie der »Initiative Frieden und Menschenrechte« (u. a. Gerd Poppe25) und des »Friedenskreises« Pankow26 ihre Bereitschaft zu gemeinsamem politischem Handeln mit dem Ziel der »demokratischen Erneuerung« der DDR bekunden. Zu diesem Zweck wird ein Zusammengehen der »Vielfalt der Initiativen« in Aussicht gestellt, das sich vor allem auf die Durchführung demokratischer Wahlen in der DDR unter UNO-Kontrolle und dem »Wahlbündnis mit eigenen Kandidaten« orientieren soll.
Nach vorliegenden internen Hinweisen wurde diese »Gemeinsame Erklärung« am 4. Oktober 1989 im Rahmen eines wesentlich von Eppelmann mitorganisierten Treffens verfasst. Das Papier entspricht der Absicht Eppelmanns und weiterer feindlicher, oppositioneller Kräfte, eine »einheitliche Wahlplattform aller oppositionellen Gruppen und Initiativen« zu schaffen. Es wurde – nach vorliegenden Hinweisen – erstmalig am 6. Oktober 1989 im Rahmen einer sogenannten Zukunftswerkstatt »Wie nun weiter, DDR?« in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg vor ca. 2 000 Personen im vollen Wortlaut verlesen.27
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage 1 zur Information Nr. 451/89
[Kopie der] Gründungsurkunde der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR
Mit dem heutigen Tag gründeten die Unterzeichner die Sozialdemokratische Partei in der Deutschen Demokratischen Republik. Sie erklären sich in voller Übereinstimmung mit dem von der Initiativgruppe zur Bildung einer SDP in der DDR erklärten Grundsatz, auf eine ökologisch orientierte soziale Demokratie einzuwirken.
Die Mitglieder der SDP in der DDR suchen die Zusammenarbeit mit allen demokratischen Initiativen, ungeachtet ihrer Strukturen, ihrer weltanschaulichen und sozialen Bildung.
Angesichts der außen- und innenpolitischen Situation der DDR halten es die Mitglieder der SDP jetzt für erforderlich, sich mit einer Partei mit demokratischer Zielstellung in einer inhaltlichen und strukturellen Verbindlichkeit für eine konsequente Demokratisierung von Staat und Gesellschaft einzusetzen.
Der Gründung der SDP ging seit dem 26. August 1989 eine Verbreitung der Zielstellung strategischer Überlegungen der Erstunterzeichner der Initiative zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei voraus. Die Diskussionen über die erklärten Grundsätze verdeutlichen die Notwendigkeit, mit inhaltlichen und strukturellen Verbindlichkeiten sich jetzt gegen die zunehmende Destabilisierung des Landes zu verhalten und in dieser Weise an einer demokratischen Entwicklung mitzuwirken.
Statut der SDP – Sozialdemokratische Partei in der DDR – SDP
§ 1 Die Partei führt den Namen Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP). Ihr Tätigkeitsbereich erstreckt sich auf das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik.
Grundsätze
§ 2 Die Sozialdemokratische Partei in der DDR versteht sich als »Volkspartei«, lehnt den Demokratischen Zentralismus ab, vereinigt Menschen verschiedener Grundüberzeugungen und Glaubenshaltungen, die sich den Traditionen von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit sowie der Verantwortung für die Bewahrung der natürlichen Umwelt verpflichtet fühlen. Die SDP steht den Traditionen des demokratischen Sozialismus der europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten nahe.
§ 3 Der Einsatz für die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den beiden Menschenrechtskonventionen (1966) niedergelegt sind,28 gehört zu den vornehmsten Aufgaben und unaufgebbaren Prinzipien jedes Mitgliedes und der Partei als Ganzes.
§ 4 Die SDP versteht sich als demokratische Volkspartei, die für alle Schichten der Bevölkerung offen ist. Die gleichberechtigte repräsentative Beteiligung von Männern und Frauen auf allen Ebenen ist zu gewährleisten. Die Parteiarbeit beruht auf der von der Basis ausgehenden und alle Ebenen von dort her bestimmenden innerparteilichen Demokratie.
§ 5 In entschiedener Ablehnung allen totalitären politischen Denkens und Handelns bemüht sich die SDP in Zusammenarbeit und gleichberechtigtem Wettstreit mit anderen demokratischen Kräften um die Entmonopolisierung, Demokratisierung und Teilung der Macht in Staat und Gesellschaft mit dem Ziel des Aufbaus einer ökologisch orientierten sozialen Demokratie. Eine solche Demokratie erfordert die möglichst klare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, das heißt u. a. eine Trennung von Staat und Parteien sowie Staat und Kirchen. Daher versteht sich die SDP bewusst als ein Teil der Gesellschaft und beansprucht nur insofern Gesellschaft und Staat nach ihren politischen Vorstellungen und Prinzipien gestalten zu können, als sie im demokratischen Wettstreit die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dafür gewinnt bzw. in freien Koalitionen mit anderen diese Vorstellungen zum Zuge bringen kann. Aus diesem Selbstverständnis heraus tritt sie ein für eine parlamentarische Demokratie mit Parteienpluralität. Die SDP bekennt sich zur Gewaltlosigkeit.
§ 6 Die Achtung der Würde, Eigenverantwortlichkeit und Freiheit des Menschen sowie seine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe in Staat und Gesellschaft sind die Grundbestimmungen der von uns angestrebten sozialen Demokratie.
§ 7 Der demokratische Rechtsstaat mit strikter Gewaltenteilung beruht auf den gleichen Rechten und Pflichten seiner Bürgerinnen und Bürger. Auf dieser Grundlage ist es Aufgabe des Staates,
- a)
die persönlichen, sozialen, kulturellen und politischen Grundrechte der Bürger und die ihnen entsprechende Wahrnahme von Verantwortung zu ermöglichen, zu stärken und zu schützen;
- b)
den Schutz der natürlichen Umwelt und die Sicherung von Ressourcen und Lebensmöglichkeiten für kommende Generationen zu gewährleisten;
- c)
sich mit allen Kräften für ein friedliches und gerechtes Miteinander der Völker, zur Entmilitarisierung staatlichen Verhaltens nach innen und außen, Entmilitarisierung und den Aufbau einer europäischen und Weltfriedensordnung einzusetzen;
- d)
Institutionen der gewaltfreien Konfliktregulierung in der Gesellschaft zu schaffen (Rechtslage).
§ 8 Aller Monopolisierung und Zentralisierung in Staat und Gesellschaft ist entgegenzutreten, wenn sie die sozialen und politischen Rechte der Bürger beeinträchtigt. Für die Wirtschaft besonders auch im Hinblick auf den staatlichen Sektor bedeutet dies, bei unvermeidbaren Monopolen eine demokratische Kontrolle sowie Überprüfung der ökonomischen Effizienz und Umweltverträglichkeit zu sichern.
§ 9 Es wird eine ökologisch orientierte, soziale Marktwirtschaft mit gemischter Wirtschaftsstruktur und unterschiedlichen Eigentumsformen angestrebt. Zielbestimmungen sind:
- a)
undemokratische und unsoziale Auswirkungen und Konzentration wirtschaftlicher Macht zu verhindern,
- b)
Bewahrung der natürlichen Umwelt durch das Einbeziehen der ökologischen Kosten in das Marktgeschehen,
- c)
diejenigen, welche die Werte schaffen, sind an den Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen (Mitbestimmung), dem Produktivvermögen (Miteigentum) und den Gewinnen zu beteiligen,
- d)
die Rechte der Konsumenten sind zu stärken.
§ 10 Der Einsatz für unabhängige demokratische Gewerkschaften, Vereine und andere Organisationen (Behinderte,- Frauen-, Kinderschutz-, Jugend-, Ausländer-, Rentner-, Umwelt- u. a.) sowie deren Rechte ist der SDP ein grundlegendes Anliegen.
§ 11 Strukturaufbau
- 1.
Vollversammlungen auf Ortsebene, Parteitage ab Kreisebene.
- 2.
Bei größeren Orten wird empfohlen, sich zur konkreten Arbeit in verbindliche wohnsitzorientierte Gruppen zu untergliedern, deren Mitgliederzahl Gesprächsfähigkeit ermöglicht.
- 3.
Delegierungsprinzip von der Basis stufenweise zu den höheren Gremien.
- 4.
Repräsentative Delegierung von Männern und Frauen.
- 5.
Ein mögliches, noch zu erprobendes Modell:
- a)
verbindliche wohnsitzorientierte Basisgruppen mit etwa 15 Mitgliedern.
- b)
Delegierung zweier Vertreter, möglichst einer Frau und eines Mannes zur nächsthöheren Gruppe, die dann etwa 14 Personen umfasst, diese Gruppe delegiert wiederum zwei Vertreter zur nächsten Leitungsebene und so fort.
- c)
Daraus ergeben sich die Kreis-, Bezirks- und je nach Mitgliederzahl notwendigen Zwischenebenen.
- d)
Auf DDR-Ebene entsteht dann der Landesparteirat mit 30 Mitgliedern.
- e)
Diese Leitungsgremien werden auf den Parteitagen der jeweiligen Ebene durch weitere Kandidaten entsprechend der Mitgliederproportionalität ergänzt und gemeinsam zur Wahl gestellt (vgl. § 16).
- a)
Mitgliedschaft
§ 12 Mitglied kann jeder werden, der sich den Grundsätzen dieses Statuts verpflichtet fühlt, unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Staatsbürgerschaft etc., sofern er 18 Jahre alt ist (später 16 Jahre) und sich sein Wohnsitz in der DDR befindet.
§ 13 Die Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt durch die Basisgruppe. Die Schiedskommission entscheidet auf Antrag in einem Parteiausschlussverfahren, ob ein Mitglied dem Statut in zentralen Punkten vorsätzlich widerspricht oder erheblich gegen die Grundsätze verstößt. Gegen das Urteil kann der Betreffende binnen vier Wochen Einspruch beim Parteirat erheben, der endgültig entscheidet.
Wahlen
§ 14 Jede Basisgruppe wählt aus ihrer Mitte als ihre Leitung den 1. und 2. Sprecher sowie den Kassenwart. Sie wählt außerdem Personen für weitere Ämter, Protokollant etc. sowie zwei Delegierte für die nächsthöhere Ebene.
§ 15 Die Wahl der beiden Delegierten geschieht auf jeder Ebene in geheimer Abstimmung. Jedes Mitglied besitzt aktives und passives Wahlrecht. Es entscheidet die einfache Mehrheit. Bei Stimmengleichheit findet eine Stichwahl statt. Bei nochmaliger Gleichheit der Stimmen entscheidet das Los. Zur vorzeitigen Abwahl eines Delegierten ist eine Dreiviertelmehrheit notwendig.
§ 16 Die aus diesen Delegierten sich zusammensetzenden Leitungsgremien werden auf den jeweiligen Parteitagen durch weitere Kandidaten entsprechend der Mitgliederproportionalität ergänzt und gemeinsam zur Wahl gestellt. Dabei muss im neu gewählten Rat aus jeder delegierenden Gruppe wenigstens ein Delegierter vertreten sein. Gewählt ist dann also der Kandidat der delegierenden Gruppe, der die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte sowie unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit die Kandidaten mit den meisten Stimmen bis zur vom Parteitag bestimmten Vollzähligkeit der Leitungsgruppe.
§ 17 Hat jemand ein Parteiamt acht Jahre inne, kann er nur noch mit Zweidrittelmehrheit für dieses Amt wiedergewählt werden.
§ 18 Bei Übernahme eines Mandates oder Staatsamtes sind alle Parteifunktionen niederzulegen und ruht das passive Wahlrecht.
Parteitage
§ 19 Ab Kreisebenen finden jährlich Parteitage statt. Organisiert und einberufen werden sie vom Parteitagspräsidium. Teilnehmer sind alle Mitglieder bzw. Delegierten der darunterliegenden Ebene sowie weitere Delegierte des Parteitages bzw. der Vollversammlung der darunterliegenden Ebene.
§ 20 Der Parteitag gibt sich eine Geschäftsordnung.
§ 21 Die Parteitage nehmen die Rechenschaftsberichte zur Diskussion und Beschlussfassung entgegen. Sie erarbeiten und beschließen Leitlinien zur Parteiarbeit, welche in Kommissionen unter Hinzuziehung von Experten vorbereitet werden. Diese Leitlinien müssen vorher in allen vorangehenden Ebenen vorgestellt und diskutiert worden sein, werden mit einfacher Mehrheit beschlossen und sind für alle beteiligten Ebenen verbindlich. Muss in dringenden Fällen ein Parteitag sofortige Entscheidungen in zentralen Fragen fällen, ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig.
§ 22 Die Parteitage wählen eine Finanz-, Schieds- und Kontrollkommission. In den beiden letzteren dürfen nur Delegierte sein, die kein anderes Parteiamt innehaben.
§ 23 Ein Sonderparteitag ist einzuberufen, wenn ein Drittel der dazugehörenden Räte bzw. Gruppen dies wünschen, das Präsidium es für nötig erachtet oder der Parteirat jeder Ebene es beschließt.
Finanzen
§ 24 Die SDP finanziert ihre Aktivitäten aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden, über die Beitragshöhe entscheidet der Landesparteitag. Die Herkunft aller Spenden ist offenzulegen.
§ 25 Die Gelder werden in den Basisgruppen gesammelt, verwaltet und zur Finanzierung der eigenen sowie der überregionalen Arbeit entsprechend den Parteitagsbeschlüssen eingesetzt.
§ 26 Auf den Parteitagen werden Haushaltspläne erstellt, Umlagenbeschlüsse verabschiedet und Kassenführer entlastet. Das Vermögen der Partei ist Gesamteigentum, vgl. § 42 ZGB.29
§ 27 Für hilfsbedürftige Personen wird ein Sonderfonds eingerichtet.
Durchschaubarkeit
§ 28 Alle Delegiertensitzungen und Parteitage sind so aufzuzeichnen, dass jedes Parteimitglied den Verlauf der Diskussion verfolgen kann. Es ist ein Protokoll anzufertigen und von zwei Personen zu unterschreiben. Jeder Delegierte ist jederzeit, wenn es die ihn delegierende Gruppe wünscht, zur Rechenschaft verpflichtet.
Dieses Statut tritt mit Beschluss vom 7.10.1989 in Kraft und gilt bis zum ersten Parteitag.
Anhang zum Statut | Grundpositionen zur Erarbeitung des Parteiprogramms
A) Zur Ordnung von Staat und Gesellschaft
- 1.
Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung.
- 2.
Parlamentarische Demokratie und Parteienpluralität.
- 3.
Eine den UN-Menschenrechten entsprechende nationale Gesetzgebung.
- 4.
Soziale Gerechtigkeit und Sicherung einer Mindestexistenz.
- 5.
Trennung von Staat und Gesellschaft, insbesondere von Staat und Partei sowie Staat und Kirche.
- 6.
Gewissens-, Religions-, Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit mit Verhinderung von Pressekonzentration.
- 7.
Freie Medien öffentlichen Rechts.
- 8.
Relative Selbstständigkeit der Regionen (Länder), Städte und Gemeinden.
- 9.
Dezentralisierung und Demokratisierung des Wirtschaftslebens.
- 10.
Ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft mit demokratischer Kontrolle ökonomischer Macht.
- 11.
Förderung von Gemeinwirtschaft und Genossenschaften sowie gleichberechtigte Privatwirtschaft.
- 12.
Recht auf freie Gewerkschaften und Streikrecht.
- 13.
Betriebliche Mitbestimmung.
- 14.
Gleichberechtigung und geschlechtsspezifische Förderung von Frau und Mann.
- 15.
Die Verbesserung der Lage der Kinder (Kindeswohl) muss zu einem übergeordneten Entscheidungsfaktor auf allen Ebenen werden.
- 16.
Schutz der Privatsphäre, Datenschutz.
- 17.
Entmilitarisierung der Gesellschaft und radikale Schritte zur Abrüstung.
- 18.
Reisefreiheit und Auswanderungsrecht für alle Bürger inklusiv das Recht auf Rückkehr.
- 19.
Asylrecht für politische Flüchtlinge.
- 20.
Aktiver Widerstand gegen undemokratische, nationalistische, rassistische und neofaschistische Tendenzen.
B) Zur Außenpolitik
- 1.
Stärkung internationaler Institutionen und Rechtsordnungen.
- 2.
Mitarbeit an einer europäischen und Weltfriedensordnung, in der die Militärbündnisse überflüssig werden.
- 3.
Anerkennung der derzeitigen Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit. Mögliche Veränderungen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung sollen damit nicht ausgeschlossen sein.
- 4.
Besondere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgrund der gemeinsamen Nation, Geschichte und der sich daraus ergebenden Verantwortung, insbesondere für den Frieden in Europa.
- 5.
Solidarität mit entrechteten und unterdrückten Völkern sowie nationalen Minderheiten.
- 6.
Mithilfe bei der Schaffung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung.
Anlage 2 zur Information Nr. 451/89
[Kopie einer Erklärung mehrerer DDR-Oppositionsgruppen]
Gemeinsame Erklärung
Am 4. Oktober 1989 haben sich Vertreter der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, des Demokratischen Aufbruchs, der Gruppe Demokratischer SozialistInnen,30 der Initiative Frieden und Menschenrechte, der Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der DDR, des Neuen Forums sowie Vertreter von Friedenskreisen zusammengefunden, um Möglichkeiten gemeinsamen politischen Handelns zu besprechen.
Wir begrüßen die sich entwickelnde Vielfalt der Initiativen als Zeichen des Aufbruchs und des wachsenden Mutes, eigene politische Positionen öffentlich zu vertreten.
Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten. Es kommt darauf an, einen Zustand zu beenden, in dem Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft nicht die Möglichkeit haben, ihre politischen Rechte so auszuüben, wie es die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente31 verlangen. Wir erklären uns solidarisch mit allen, die wegen ihres Einsatzes für diese Ziele verfolgt werden. Wir setzen uns ein für die Freilassung der Inhaftierten, die Aufhebung ergangener Urteile und die Einstellung laufender Ermittlungsverfahren. Wir halten es für vorrangig, in unserem Lande eine Diskussion darüber zu eröffnen, welche Mindestbedingungen für eine demokratische Wahl eingehalten werden müssen:
Sie muss unterschiedliche politische Entscheidungen ermöglichen. Sie muss geheim sein, d. h. die Wähler sind verpflichtet, eine Wahlkabine zu benutzen. Sie muss frei sein, d. h. niemand darf durch Druck zu einem bestimmten Wahlverhalten genötigt werden.
Die nächsten Wahlen sollten unter UNO-Kontrolle stattfinden. Wir wollen zusammenarbeiten und prüfen, in welchem Umfang wir ein Wahlbündnis mit gemeinsamen eigenen Kandidaten verwirklichen können. Um unser Land politisch zu verändern, bedarf es der Beteiligung und der Kritik aller. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger der DDR auf, an der demokratischen Erneuerung mitzuwirken.
Angelika Barbe32 (Initiativgruppe SDP), Marianne Birthler33 (Initiative Frieden und Menschenrechte), Ibrahim M. Böhme (Initiativgruppe SDP), Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch), Martin Gutzeit (Initiativgruppe SDP), Barbara Hähnchen34 (Friedenskreis Pankow), Heinz Küchler35 (Demokratie Jetzt), Kathrin Menge36 (Neues Forum), Rudi Pahnke37 (Demokratischer Aufbruch), Sebastian Pflugbeil (Neues Forum), Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte), Ulrike Poppe38 (Demokratie Jetzt), Werner Schulz39 (Friedenskreis Pankow), Dr. Wolfgang Ullmann40 (Demokratie Jetzt), Reinhard Weidauer41 (Demokratischer Aufbruch) und ein Vertreter der Gruppe Demokratischer SozialistInnen